Lehre geändert, und, die andere hat dieselbe Stelle durch Ent- stellung den Gegnern zum Beweise untauglich gemacht. Also muß ich mich nothwendig nach andern Entscheidungsgründen um- sehen. Steht fest, daß das Eine nur in einzelnen Handschriften sich findet, das Andere das allgemein Verbreitete ist, so hat jenes gar kein Recht angeführt zu werden, für welche Seite es auch streiten möge.
Es giebt aber viele Fälle, wo auf indirekte Weise etwas in den Text gekommen, was vorher, ursprünglich nicht darin war. Aber diese Fälle sind sehr verschiedener Art. Es kann Richtiges an die Stelle des Unrichtigen in den Text kommen; es können Correcturen über die Zeilen oder an den Rand geschrieben werden und durch spätere Handschriften in den Text kommen; es kann Ausgelassenes an den Rand geschrieben werden, oder auch eine erklärende Glosse, und das eine wie das andere nachher in den Text kommen. Was hier Princip für die Wahl ist, müßte eben so Prin- cip für die Conjectur sein. Das Faktum steht fest, daß in meh- reren Handschriften Stellen in den Text gekommen sind, die in andern nur Marginalien waren. Besonders gilt dieß von den Evangelien, die so viele Parallelen haben und doch abweichend sind. Ein fleißiger Leser schrieb z. B. bei der kürzeren Erzählung an den Rand, was die längere Parallele mehr hat. So erscheint dann wol in späteren Handschriften die kürzere der längeren assi- milirt. Wenn ältere oder gleich alte Handschriften das Kürzere bezeugen, so scheint der Fall klar zu sein. Aber kann es nicht Assimilationen gegeben haben, welche älter sind, als unser Text, älter, als unsere Zeugnisse? Dieß ist eine Möglichkeit, aber wir haben keinen Grund über unsern ältesten weit verbreiteten Text hinauszugehen. Aber es können erklärende Anmerkungen in den Text gekommen sein, und in allen Handschriften stehen. Enthal- ten sie etwas, was dem bestimmten Zusammenhange nicht ent- spricht, was den Principien der psychologischen Exegese wider- spricht, so können wir sagen, hier ist ein späterer Zusaz, wenn auch alle Handschriften ihn haben, aber dieß ist immer nur ein
Lehre geaͤndert, und, die andere hat dieſelbe Stelle durch Ent- ſtellung den Gegnern zum Beweiſe untauglich gemacht. Alſo muß ich mich nothwendig nach andern Entſcheidungsgruͤnden um- ſehen. Steht feſt, daß das Eine nur in einzelnen Handſchriften ſich findet, das Andere das allgemein Verbreitete iſt, ſo hat jenes gar kein Recht angefuͤhrt zu werden, fuͤr welche Seite es auch ſtreiten moͤge.
Es giebt aber viele Faͤlle, wo auf indirekte Weiſe etwas in den Text gekommen, was vorher, urſpruͤnglich nicht darin war. Aber dieſe Faͤlle ſind ſehr verſchiedener Art. Es kann Richtiges an die Stelle des Unrichtigen in den Text kommen; es koͤnnen Correcturen uͤber die Zeilen oder an den Rand geſchrieben werden und durch ſpaͤtere Handſchriften in den Text kommen; es kann Ausgelaſſenes an den Rand geſchrieben werden, oder auch eine erklaͤrende Gloſſe, und das eine wie das andere nachher in den Text kommen. Was hier Princip fuͤr die Wahl iſt, muͤßte eben ſo Prin- cip fuͤr die Conjectur ſein. Das Faktum ſteht feſt, daß in meh- reren Handſchriften Stellen in den Text gekommen ſind, die in andern nur Marginalien waren. Beſonders gilt dieß von den Evangelien, die ſo viele Parallelen haben und doch abweichend ſind. Ein fleißiger Leſer ſchrieb z. B. bei der kuͤrzeren Erzaͤhlung an den Rand, was die laͤngere Parallele mehr hat. So erſcheint dann wol in ſpaͤteren Handſchriften die kuͤrzere der laͤngeren aſſi- milirt. Wenn aͤltere oder gleich alte Handſchriften das Kuͤrzere bezeugen, ſo ſcheint der Fall klar zu ſein. Aber kann es nicht Aſſimilationen gegeben haben, welche aͤlter ſind, als unſer Text, aͤlter, als unſere Zeugniſſe? Dieß iſt eine Moͤglichkeit, aber wir haben keinen Grund uͤber unſern aͤlteſten weit verbreiteten Text hinauszugehen. Aber es koͤnnen erklaͤrende Anmerkungen in den Text gekommen ſein, und in allen Handſchriften ſtehen. Enthal- ten ſie etwas, was dem beſtimmten Zuſammenhange nicht ent- ſpricht, was den Principien der pſychologiſchen Exegeſe wider- ſpricht, ſo koͤnnen wir ſagen, hier iſt ein ſpaͤterer Zuſaz, wenn auch alle Handſchriften ihn haben, aber dieß iſt immer nur ein
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Lehre geaͤndert, und, die andere hat dieſelbe Stelle durch Ent-
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muß ich mich nothwendig nach andern Entſcheidungsgruͤnden um-
ſehen. Steht feſt, daß das Eine nur in einzelnen Handſchriften
ſich findet, das Andere das allgemein Verbreitete iſt, ſo hat jenes
gar kein Recht angefuͤhrt zu werden, fuͤr welche Seite es auch
ſtreiten moͤge.
Es giebt aber viele Faͤlle, wo auf indirekte Weiſe etwas in
den Text gekommen, was vorher, urſpruͤnglich nicht darin war.
Aber dieſe Faͤlle ſind ſehr verſchiedener Art. Es kann Richtiges
an die Stelle des Unrichtigen in den Text kommen; es koͤnnen
Correcturen uͤber die Zeilen oder an den Rand geſchrieben werden
und durch ſpaͤtere Handſchriften in den Text kommen; es kann
Ausgelaſſenes an den Rand geſchrieben werden, oder auch eine
erklaͤrende Gloſſe, und das eine wie das andere nachher in den Text
kommen. Was hier Princip fuͤr die Wahl iſt, muͤßte eben ſo Prin-
cip fuͤr die Conjectur ſein. Das Faktum ſteht feſt, daß in meh-
reren Handſchriften Stellen in den Text gekommen ſind, die in
andern nur Marginalien waren. Beſonders gilt dieß von den
Evangelien, die ſo viele Parallelen haben und doch abweichend
ſind. Ein fleißiger Leſer ſchrieb z. B. bei der kuͤrzeren Erzaͤhlung
an den Rand, was die laͤngere Parallele mehr hat. So erſcheint
dann wol in ſpaͤteren Handſchriften die kuͤrzere der laͤngeren aſſi-
milirt. Wenn aͤltere oder gleich alte Handſchriften das Kuͤrzere
bezeugen, ſo ſcheint der Fall klar zu ſein. Aber kann es nicht
Aſſimilationen gegeben haben, welche aͤlter ſind, als unſer Text,
aͤlter, als unſere Zeugniſſe? Dieß iſt eine Moͤglichkeit, aber wir
haben keinen Grund uͤber unſern aͤlteſten weit verbreiteten Text
hinauszugehen. Aber es koͤnnen erklaͤrende Anmerkungen in den
Text gekommen ſein, und in allen Handſchriften ſtehen. Enthal-
ten ſie etwas, was dem beſtimmten Zuſammenhange nicht ent-
ſpricht, was den Principien der pſychologiſchen Exegeſe wider-
ſpricht, ſo koͤnnen wir ſagen, hier iſt ein ſpaͤterer Zuſaz, wenn
auch alle Handſchriften ihn haben, aber dieß iſt immer nur ein
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Schleiermacher, Friedrich: Hermeneutik und Kritik. Berlin, 1838, S. 335. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schleiermacher_hermeneutik_1838/359>, abgerufen am 05.12.2024.
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