der Verschiedenheit helfen nichts, weil die Mittelglieder fehlen. Nur das kann dann die Aufgabe sein, etwas zu finden, was dem Zusammenhang der Rede entspricht.
Aber hier tritt nun eine andere Cautel ein. Das Gefundene muß nicht nur in der Sprache überhaupt, sondern im Sprach- gebrauch des Verfassers gegeben sein. Kann ich dieß nicht nach- weisen, so ist die Conjectur unsicher, und, im Fall das Gegen- theil statt findet, gerade zu unrichtig. Es giebt gewisse Wendun- gen und Ausdrücke, die zu einer bestimmten Zeit nur in der Poe- sie oder in einem bestimmten Gebiet der Prosa üblich sind. Nimmt man daraus für ein anderes Gebiet eine Emendation, so ist sie unrichtig. Je vollständiger die Nachweisung des entspre- chenden Sprachgebrauchs ist, desto mehr kann sich die Conjectur geltend machen. Hier zeigt sich die Abhängigkeit der philologischen Disciplinen unter einander. Es liegt darin eine Begrenzung der Sicherheit in der Lösung der Aufgabe. Denn die Kenntniß des Sprachgebrauchs erlangen wir doch nur auf demselben Wege, nemlich durch kritische Operationen. Werden viele verdorbene Stellen zur Nachweisung des Sprachgebrauchs angeführt, so kann Falsches entstehen; jene müssen erst festgestellt werden. So zeigt sich, daß die vollkommene Gewißheit der Emendation nur ein Werk der Zeit ist. Sie kann wo und wann sie entsteht vollkommenen Beifall finden, aber man muß abwarten, ob sie sich bei erweiter- ter Kenntniß der Sprache und Urkunden bestätigt.
Wenden wir dieß auf das N. T. besonders an, so ist hier die eigentliche Schwierigkeit, daß der neutest. Sprachgebrauch schwer zu bestimmen ist. Einmal ist uns die Beschaffenheit der ältesten Texte auf sehr üble Weise aus den Augen gerückt. Die ersten gedruckten Editionen sind voll von Correcturen in Beziehung auf die grammatischen Formen und die Orthographie. Das ist eine falsche Grundlage, wovon man ausgeht. Es soll nicht be- hauptet werden, daß alle unregelmäßigen Formen z. B. der Va- ticanischen und anderer Handschriften zur Zeit der Apostel geschrie- ben oder gesprochen wurden. Aber wenn es darauf ankommt, aus
der Verſchiedenheit helfen nichts, weil die Mittelglieder fehlen. Nur das kann dann die Aufgabe ſein, etwas zu finden, was dem Zuſammenhang der Rede entſpricht.
Aber hier tritt nun eine andere Cautel ein. Das Gefundene muß nicht nur in der Sprache uͤberhaupt, ſondern im Sprach- gebrauch des Verfaſſers gegeben ſein. Kann ich dieß nicht nach- weiſen, ſo iſt die Conjectur unſicher, und, im Fall das Gegen- theil ſtatt findet, gerade zu unrichtig. Es giebt gewiſſe Wendun- gen und Ausdruͤcke, die zu einer beſtimmten Zeit nur in der Poe- ſie oder in einem beſtimmten Gebiet der Proſa uͤblich ſind. Nimmt man daraus fuͤr ein anderes Gebiet eine Emendation, ſo iſt ſie unrichtig. Je vollſtaͤndiger die Nachweiſung des entſpre- chenden Sprachgebrauchs iſt, deſto mehr kann ſich die Conjectur geltend machen. Hier zeigt ſich die Abhaͤngigkeit der philologiſchen Disciplinen unter einander. Es liegt darin eine Begrenzung der Sicherheit in der Loͤſung der Aufgabe. Denn die Kenntniß des Sprachgebrauchs erlangen wir doch nur auf demſelben Wege, nemlich durch kritiſche Operationen. Werden viele verdorbene Stellen zur Nachweiſung des Sprachgebrauchs angefuͤhrt, ſo kann Falſches entſtehen; jene muͤſſen erſt feſtgeſtellt werden. So zeigt ſich, daß die vollkommene Gewißheit der Emendation nur ein Werk der Zeit iſt. Sie kann wo und wann ſie entſteht vollkommenen Beifall finden, aber man muß abwarten, ob ſie ſich bei erweiter- ter Kenntniß der Sprache und Urkunden beſtaͤtigt.
Wenden wir dieß auf das N. T. beſonders an, ſo iſt hier die eigentliche Schwierigkeit, daß der neuteſt. Sprachgebrauch ſchwer zu beſtimmen iſt. Einmal iſt uns die Beſchaffenheit der aͤlteſten Texte auf ſehr uͤble Weiſe aus den Augen geruͤckt. Die erſten gedruckten Editionen ſind voll von Correcturen in Beziehung auf die grammatiſchen Formen und die Orthographie. Das iſt eine falſche Grundlage, wovon man ausgeht. Es ſoll nicht be- hauptet werden, daß alle unregelmaͤßigen Formen z. B. der Va- ticaniſchen und anderer Handſchriften zur Zeit der Apoſtel geſchrie- ben oder geſprochen wurden. Aber wenn es darauf ankommt, aus
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><p><pbfacs="#f0365"n="341"/><lb/>
der Verſchiedenheit helfen nichts, weil die Mittelglieder fehlen.<lb/>
Nur das kann dann die Aufgabe ſein, etwas zu finden, was dem<lb/>
Zuſammenhang der Rede entſpricht.</p><lb/><p>Aber hier tritt nun eine andere Cautel ein. Das Gefundene<lb/>
muß nicht nur in der Sprache uͤberhaupt, ſondern im Sprach-<lb/>
gebrauch des Verfaſſers gegeben ſein. Kann ich dieß nicht nach-<lb/>
weiſen, ſo iſt die Conjectur unſicher, und, im Fall das Gegen-<lb/>
theil ſtatt findet, gerade zu unrichtig. Es giebt gewiſſe Wendun-<lb/>
gen und Ausdruͤcke, die zu einer beſtimmten Zeit nur in der Poe-<lb/>ſie oder in einem beſtimmten Gebiet der Proſa uͤblich ſind. Nimmt<lb/>
man daraus fuͤr ein anderes Gebiet eine Emendation, ſo iſt<lb/>ſie unrichtig. Je vollſtaͤndiger die Nachweiſung des entſpre-<lb/>
chenden Sprachgebrauchs iſt, deſto mehr kann ſich die Conjectur<lb/>
geltend machen. Hier zeigt ſich die Abhaͤngigkeit der philologiſchen<lb/>
Disciplinen unter einander. Es liegt darin eine Begrenzung der<lb/>
Sicherheit in der Loͤſung der Aufgabe. Denn die Kenntniß des<lb/>
Sprachgebrauchs erlangen wir doch nur auf demſelben Wege,<lb/>
nemlich durch kritiſche Operationen. Werden viele verdorbene<lb/>
Stellen zur Nachweiſung des Sprachgebrauchs angefuͤhrt, ſo kann<lb/>
Falſches entſtehen; jene muͤſſen erſt feſtgeſtellt werden. So zeigt<lb/>ſich, daß die vollkommene Gewißheit der Emendation nur ein Werk<lb/>
der Zeit iſt. Sie kann wo und wann ſie entſteht vollkommenen<lb/>
Beifall finden, aber man muß abwarten, ob ſie ſich bei erweiter-<lb/>
ter Kenntniß der Sprache und Urkunden beſtaͤtigt.</p><lb/><p>Wenden wir dieß auf das N. T. beſonders an, ſo iſt hier<lb/>
die eigentliche Schwierigkeit, daß der neuteſt. Sprachgebrauch<lb/>ſchwer zu beſtimmen iſt. <hirendition="#g">Einmal</hi> iſt uns die Beſchaffenheit der<lb/>
aͤlteſten Texte auf ſehr uͤble Weiſe aus den Augen geruͤckt. Die<lb/>
erſten gedruckten Editionen ſind voll von Correcturen in Beziehung<lb/>
auf die grammatiſchen Formen und die Orthographie. Das iſt<lb/>
eine falſche Grundlage, wovon man ausgeht. Es ſoll nicht be-<lb/>
hauptet werden, daß alle unregelmaͤßigen Formen z. B. der Va-<lb/>
ticaniſchen und anderer Handſchriften zur Zeit der Apoſtel geſchrie-<lb/>
ben oder geſprochen wurden. Aber wenn es darauf ankommt, aus<lb/></p></div></div></div></body></text></TEI>
[341/0365]
der Verſchiedenheit helfen nichts, weil die Mittelglieder fehlen.
Nur das kann dann die Aufgabe ſein, etwas zu finden, was dem
Zuſammenhang der Rede entſpricht.
Aber hier tritt nun eine andere Cautel ein. Das Gefundene
muß nicht nur in der Sprache uͤberhaupt, ſondern im Sprach-
gebrauch des Verfaſſers gegeben ſein. Kann ich dieß nicht nach-
weiſen, ſo iſt die Conjectur unſicher, und, im Fall das Gegen-
theil ſtatt findet, gerade zu unrichtig. Es giebt gewiſſe Wendun-
gen und Ausdruͤcke, die zu einer beſtimmten Zeit nur in der Poe-
ſie oder in einem beſtimmten Gebiet der Proſa uͤblich ſind. Nimmt
man daraus fuͤr ein anderes Gebiet eine Emendation, ſo iſt
ſie unrichtig. Je vollſtaͤndiger die Nachweiſung des entſpre-
chenden Sprachgebrauchs iſt, deſto mehr kann ſich die Conjectur
geltend machen. Hier zeigt ſich die Abhaͤngigkeit der philologiſchen
Disciplinen unter einander. Es liegt darin eine Begrenzung der
Sicherheit in der Loͤſung der Aufgabe. Denn die Kenntniß des
Sprachgebrauchs erlangen wir doch nur auf demſelben Wege,
nemlich durch kritiſche Operationen. Werden viele verdorbene
Stellen zur Nachweiſung des Sprachgebrauchs angefuͤhrt, ſo kann
Falſches entſtehen; jene muͤſſen erſt feſtgeſtellt werden. So zeigt
ſich, daß die vollkommene Gewißheit der Emendation nur ein Werk
der Zeit iſt. Sie kann wo und wann ſie entſteht vollkommenen
Beifall finden, aber man muß abwarten, ob ſie ſich bei erweiter-
ter Kenntniß der Sprache und Urkunden beſtaͤtigt.
Wenden wir dieß auf das N. T. beſonders an, ſo iſt hier
die eigentliche Schwierigkeit, daß der neuteſt. Sprachgebrauch
ſchwer zu beſtimmen iſt. Einmal iſt uns die Beſchaffenheit der
aͤlteſten Texte auf ſehr uͤble Weiſe aus den Augen geruͤckt. Die
erſten gedruckten Editionen ſind voll von Correcturen in Beziehung
auf die grammatiſchen Formen und die Orthographie. Das iſt
eine falſche Grundlage, wovon man ausgeht. Es ſoll nicht be-
hauptet werden, daß alle unregelmaͤßigen Formen z. B. der Va-
ticaniſchen und anderer Handſchriften zur Zeit der Apoſtel geſchrie-
ben oder geſprochen wurden. Aber wenn es darauf ankommt, aus
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Schleiermacher, Friedrich: Hermeneutik und Kritik. Berlin, 1838, S. 341. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schleiermacher_hermeneutik_1838/365>, abgerufen am 05.12.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.