Fälle geben, wo eine einzige Stelle für den vertrauten Kenner des Verfassers vollkommen entscheidend ist, aber Andern nur als ein einzelner Verdachtsgrund erscheint. Da muß der Kriti- ker mehreres aufsuchen, um seine Gewißheit Andern mitzutheilen, und so entsteht denn ein durchgängiges kritisches Verfahren, die ganze Schrift wird darauf angesehen. Bleibt es nun bloß bei der einen Stelle, und werden auch bei einer absichtlichen Verglei- chung nicht mehrere gefunden, so ist die Beweiskraft der einen allerdings geschwächt. Man wird dann versuchen, sie auch anders zu erklären, ja sich sogar mit einer unwahrscheinlicheren Erklärung begnügen. Es entsteht aber die Frage, wie kann die Thatsache entstanden sein, daß die Schrift einem Verfasser beigelegt wird, dem sie nicht gehört? Die Schrift kann als absichtlicher Betrug entstanden sein, indem der Verfasser selbst sie so eingerichtet, daß sie für die Schrift des angeblichen Verfassers gehalten werden sollte. Dieser Fall aber läßt sich selten annehmen, weil die Ver- hältnisse, unter denen sich das durchführen ließe, sehr complicirt sind. So lange der angebliche Verfasser lebt, wird es einem andern nicht leicht gelingen, eine Schrift auf jenes Namen zu verbreiten. Eine solche Schrift müßte sich bis zu einer bestimm- ten Zeit von dem Lebenskreise des angeblichen Verfassers fern halten. Dieß ist an sich nicht wahrscheinlich. Und je mehr eine solche Schrift das Ansehen hat zu dem Lebenskreise des erdichte- ten Verfassers zu gehören, desto weniger ist der Verdacht des Betruges anwendbar. Wahrscheinlich ist dann, daß die Beile- gung der Schrift auf einem falschen Urtheil beruht. Wo eine Schrift anonym erschien, war ein solches falsches Urtheil leicht möglich. Dieß ging in die Schrift über, und die späteren Ab- schreiber konnten sie schon gewiß als Schrift jenes Verfassers aus- geben in der Überschrift, nicht aus mechanischer Irrung, sondern absichtlich und bewußt, aber nicht aus Betrug. Sobald man zu solchen Voraussezungen geführt wird, muß man sie auf die- sen Fall zurückführen und eins von beiden nachweisen und dar- nach von Anfang an die kritische Operation einrichten. Wo die
Faͤlle geben, wo eine einzige Stelle fuͤr den vertrauten Kenner des Verfaſſers vollkommen entſcheidend iſt, aber Andern nur als ein einzelner Verdachtsgrund erſcheint. Da muß der Kriti- ker mehreres aufſuchen, um ſeine Gewißheit Andern mitzutheilen, und ſo entſteht denn ein durchgaͤngiges kritiſches Verfahren, die ganze Schrift wird darauf angeſehen. Bleibt es nun bloß bei der einen Stelle, und werden auch bei einer abſichtlichen Verglei- chung nicht mehrere gefunden, ſo iſt die Beweiskraft der einen allerdings geſchwaͤcht. Man wird dann verſuchen, ſie auch anders zu erklaͤren, ja ſich ſogar mit einer unwahrſcheinlicheren Erklaͤrung begnuͤgen. Es entſteht aber die Frage, wie kann die Thatſache entſtanden ſein, daß die Schrift einem Verfaſſer beigelegt wird, dem ſie nicht gehoͤrt? Die Schrift kann als abſichtlicher Betrug entſtanden ſein, indem der Verfaſſer ſelbſt ſie ſo eingerichtet, daß ſie fuͤr die Schrift des angeblichen Verfaſſers gehalten werden ſollte. Dieſer Fall aber laͤßt ſich ſelten annehmen, weil die Ver- haͤltniſſe, unter denen ſich das durchfuͤhren ließe, ſehr complicirt ſind. So lange der angebliche Verfaſſer lebt, wird es einem andern nicht leicht gelingen, eine Schrift auf jenes Namen zu verbreiten. Eine ſolche Schrift muͤßte ſich bis zu einer beſtimm- ten Zeit von dem Lebenskreiſe des angeblichen Verfaſſers fern halten. Dieß iſt an ſich nicht wahrſcheinlich. Und je mehr eine ſolche Schrift das Anſehen hat zu dem Lebenskreiſe des erdichte- ten Verfaſſers zu gehoͤren, deſto weniger iſt der Verdacht des Betruges anwendbar. Wahrſcheinlich iſt dann, daß die Beile- gung der Schrift auf einem falſchen Urtheil beruht. Wo eine Schrift anonym erſchien, war ein ſolches falſches Urtheil leicht moͤglich. Dieß ging in die Schrift uͤber, und die ſpaͤteren Ab- ſchreiber konnten ſie ſchon gewiß als Schrift jenes Verfaſſers aus- geben in der Überſchrift, nicht aus mechaniſcher Irrung, ſondern abſichtlich und bewußt, aber nicht aus Betrug. Sobald man zu ſolchen Vorausſezungen gefuͤhrt wird, muß man ſie auf die- ſen Fall zuruͤckfuͤhren und eins von beiden nachweiſen und dar- nach von Anfang an die kritiſche Operation einrichten. Wo die
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Faͤlle geben, wo eine einzige Stelle fuͤr den vertrauten Kenner
des Verfaſſers vollkommen entſcheidend iſt, aber Andern nur als
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ker mehreres aufſuchen, um ſeine Gewißheit Andern mitzutheilen,
und ſo entſteht denn ein durchgaͤngiges kritiſches Verfahren, die
ganze Schrift wird darauf angeſehen. Bleibt es nun bloß bei
der einen Stelle, und werden auch bei einer abſichtlichen Verglei-
chung nicht mehrere gefunden, ſo iſt die Beweiskraft der einen
allerdings geſchwaͤcht. Man wird dann verſuchen, ſie auch anders
zu erklaͤren, ja ſich ſogar mit einer unwahrſcheinlicheren Erklaͤrung
begnuͤgen. Es entſteht aber die Frage, wie kann die Thatſache
entſtanden ſein, daß die Schrift einem Verfaſſer beigelegt wird,
dem ſie nicht gehoͤrt? Die Schrift kann als abſichtlicher Betrug
entſtanden ſein, indem der Verfaſſer ſelbſt ſie ſo eingerichtet, daß
ſie fuͤr die Schrift des angeblichen Verfaſſers gehalten werden
ſollte. Dieſer Fall aber laͤßt ſich ſelten annehmen, weil die Ver-
haͤltniſſe, unter denen ſich das durchfuͤhren ließe, ſehr complicirt
ſind. So lange der angebliche Verfaſſer lebt, wird es einem
andern nicht leicht gelingen, eine Schrift auf jenes Namen zu
verbreiten. Eine ſolche Schrift muͤßte ſich bis zu einer beſtimm-
ten Zeit von dem Lebenskreiſe des angeblichen Verfaſſers fern
halten. Dieß iſt an ſich nicht wahrſcheinlich. Und je mehr eine
ſolche Schrift das Anſehen hat zu dem Lebenskreiſe des erdichte-
ten Verfaſſers zu gehoͤren, deſto weniger iſt der Verdacht des
Betruges anwendbar. Wahrſcheinlich iſt dann, daß die Beile-
gung der Schrift auf einem falſchen Urtheil beruht. Wo eine
Schrift anonym erſchien, war ein ſolches falſches Urtheil leicht
moͤglich. Dieß ging in die Schrift uͤber, und die ſpaͤteren Ab-
ſchreiber konnten ſie ſchon gewiß als Schrift jenes Verfaſſers aus-
geben in der Überſchrift, nicht aus mechaniſcher Irrung, ſondern
abſichtlich und bewußt, aber nicht aus Betrug. Sobald man
zu ſolchen Vorausſezungen gefuͤhrt wird, muß man ſie auf die-
ſen Fall zuruͤckfuͤhren und eins von beiden nachweiſen und dar-
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Schleiermacher, Friedrich: Hermeneutik und Kritik. Berlin, 1838, S. 362. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schleiermacher_hermeneutik_1838/386>, abgerufen am 05.12.2024.
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