Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Schleiermacher, Friedrich: Hermeneutik und Kritik. Berlin, 1838.

Bild:
<< vorherige Seite

können. Aber in jenem ersten Falle bleibt ein unbedingtes In-
teresse, weil, um nichts zu vernachlässigen, das größte anzu-
nehmen ist.

Auf dem Gebiete der classischen Litteratur lassen sich alle
diese Differenzen finden. Es giebt hier Schriften, bei denen es
im hohen Grade gleichgültig ist, wer ihr Verfasser ist, und die
nur wichtig sind als Sprachdenkmale einer gewissen Zeit und
Gegend. Die Schrift selbst ergiebt dann, auf welcher Stufe ihr
Verfasser gestanden, sowohl was die Sprache als den Inhalt be-
trifft. Die Persönlichkeit ist dabei gleichgültig. Je mehr aber
die Persönlichkeit in Sprache und Gegenstand verflochten ist,
desto mehr wächst das Interesse der Frage.

Was nun das Neue Testament betrifft, so sind hier die kri-
tischen Aufgaben dieser Art theils aus alter Zeit überliefert, theils
neu entstanden, manche sind schon entschieden und wieder zwei-
felhaft gemacht worden. Wir haben hier eine weitläufige Ge-
schichte der kritischen Bestrebungen.

Für einen römischkatholischen Theologen haben alle jene kri-
tischen Fragen kein Interesse, denn der Kanon ist ein Werk der
Kirche, und wie er in derselben überliefert ist, so hat er auch
denselben Werth und dieselbe Auctorität der Unfehlbarkeit, wie
die Tradition der Lehre. Es ist für den katholischen Theologen
gleichgültig, ob er sagt, daraus, daß der zweite Brief Petri auf-
genommen ist, folgt, daß er ein Brief Petri sei, oder ob er sagt,
die Kirche hat den Brief aufgenommen, ohne sich zu bekümmern,
ob er ein Werk des Petrus sei oder nicht. Der Brief hat auf
jeden Fall kanonisches Ansehen, und da ist die kritische Frage ohne
Interesse.

Diese Ansicht liegt aber ganz außer unserm Standpunkte,
weil wir in der Kritik keine Auctorität der Kirche gelten lassen
können. Freilich ist der Kanon überliefert, ohne daß wir wissen,
wie er gerade so geworden. Aber wenn wir es auch wüßten,
könnten wir ihn doch nicht ohne Prüfung annehmen. Denn da

Hermeneutik u. Kritik. 24

koͤnnen. Aber in jenem erſten Falle bleibt ein unbedingtes In-
tereſſe, weil, um nichts zu vernachlaͤſſigen, das groͤßte anzu-
nehmen iſt.

Auf dem Gebiete der claſſiſchen Litteratur laſſen ſich alle
dieſe Differenzen finden. Es giebt hier Schriften, bei denen es
im hohen Grade gleichguͤltig iſt, wer ihr Verfaſſer iſt, und die
nur wichtig ſind als Sprachdenkmale einer gewiſſen Zeit und
Gegend. Die Schrift ſelbſt ergiebt dann, auf welcher Stufe ihr
Verfaſſer geſtanden, ſowohl was die Sprache als den Inhalt be-
trifft. Die Perſoͤnlichkeit iſt dabei gleichguͤltig. Je mehr aber
die Perſoͤnlichkeit in Sprache und Gegenſtand verflochten iſt,
deſto mehr waͤchſt das Intereſſe der Frage.

Was nun das Neue Teſtament betrifft, ſo ſind hier die kri-
tiſchen Aufgaben dieſer Art theils aus alter Zeit uͤberliefert, theils
neu entſtanden, manche ſind ſchon entſchieden und wieder zwei-
felhaft gemacht worden. Wir haben hier eine weitlaͤufige Ge-
ſchichte der kritiſchen Beſtrebungen.

Fuͤr einen roͤmiſchkatholiſchen Theologen haben alle jene kri-
tiſchen Fragen kein Intereſſe, denn der Kanon iſt ein Werk der
Kirche, und wie er in derſelben uͤberliefert iſt, ſo hat er auch
denſelben Werth und dieſelbe Auctoritaͤt der Unfehlbarkeit, wie
die Tradition der Lehre. Es iſt fuͤr den katholiſchen Theologen
gleichguͤltig, ob er ſagt, daraus, daß der zweite Brief Petri auf-
genommen iſt, folgt, daß er ein Brief Petri ſei, oder ob er ſagt,
die Kirche hat den Brief aufgenommen, ohne ſich zu bekuͤmmern,
ob er ein Werk des Petrus ſei oder nicht. Der Brief hat auf
jeden Fall kanoniſches Anſehen, und da iſt die kritiſche Frage ohne
Intereſſe.

Dieſe Anſicht liegt aber ganz außer unſerm Standpunkte,
weil wir in der Kritik keine Auctoritaͤt der Kirche gelten laſſen
koͤnnen. Freilich iſt der Kanon uͤberliefert, ohne daß wir wiſſen,
wie er gerade ſo geworden. Aber wenn wir es auch wuͤßten,
koͤnnten wir ihn doch nicht ohne Pruͤfung annehmen. Denn da

Hermeneutik u. Kritik. 24
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0393" n="369"/>
ko&#x0364;nnen. Aber in jenem er&#x017F;ten Falle bleibt ein unbedingtes In-<lb/>
tere&#x017F;&#x017F;e, weil, um nichts zu vernachla&#x0364;&#x017F;&#x017F;igen, das gro&#x0364;ßte anzu-<lb/>
nehmen i&#x017F;t.</p><lb/>
            <p>Auf dem Gebiete der cla&#x017F;&#x017F;i&#x017F;chen Litteratur la&#x017F;&#x017F;en &#x017F;ich alle<lb/>
die&#x017F;e Differenzen finden. Es giebt hier Schriften, bei denen es<lb/>
im hohen Grade gleichgu&#x0364;ltig i&#x017F;t, wer ihr Verfa&#x017F;&#x017F;er i&#x017F;t, und die<lb/>
nur wichtig &#x017F;ind als Sprachdenkmale einer gewi&#x017F;&#x017F;en Zeit und<lb/>
Gegend. Die Schrift &#x017F;elb&#x017F;t ergiebt dann, auf welcher Stufe ihr<lb/>
Verfa&#x017F;&#x017F;er ge&#x017F;tanden, &#x017F;owohl was die Sprache als den Inhalt be-<lb/>
trifft. Die Per&#x017F;o&#x0364;nlichkeit i&#x017F;t dabei gleichgu&#x0364;ltig. Je mehr aber<lb/>
die Per&#x017F;o&#x0364;nlichkeit in Sprache und Gegen&#x017F;tand verflochten i&#x017F;t,<lb/>
de&#x017F;to mehr wa&#x0364;ch&#x017F;t das Intere&#x017F;&#x017F;e der Frage.</p><lb/>
            <p>Was nun das Neue Te&#x017F;tament betrifft, &#x017F;o &#x017F;ind hier die kri-<lb/>
ti&#x017F;chen Aufgaben die&#x017F;er Art theils aus alter Zeit u&#x0364;berliefert, theils<lb/>
neu ent&#x017F;tanden, manche &#x017F;ind &#x017F;chon ent&#x017F;chieden und wieder zwei-<lb/>
felhaft gemacht worden. Wir haben hier eine weitla&#x0364;ufige Ge-<lb/>
&#x017F;chichte der kriti&#x017F;chen Be&#x017F;trebungen.</p><lb/>
            <p>Fu&#x0364;r einen ro&#x0364;mi&#x017F;chkatholi&#x017F;chen Theologen haben alle jene kri-<lb/>
ti&#x017F;chen Fragen kein Intere&#x017F;&#x017F;e, denn der Kanon i&#x017F;t ein Werk der<lb/>
Kirche, und wie er in der&#x017F;elben u&#x0364;berliefert i&#x017F;t, &#x017F;o hat er auch<lb/>
den&#x017F;elben Werth und die&#x017F;elbe Auctorita&#x0364;t der Unfehlbarkeit, wie<lb/>
die Tradition der Lehre. Es i&#x017F;t fu&#x0364;r den katholi&#x017F;chen Theologen<lb/>
gleichgu&#x0364;ltig, ob er &#x017F;agt, daraus, daß der zweite Brief Petri auf-<lb/>
genommen i&#x017F;t, folgt, daß er ein Brief Petri &#x017F;ei, oder ob er &#x017F;agt,<lb/>
die Kirche hat den Brief aufgenommen, ohne &#x017F;ich zu beku&#x0364;mmern,<lb/>
ob er ein Werk des Petrus &#x017F;ei oder nicht. Der Brief hat auf<lb/>
jeden Fall kanoni&#x017F;ches An&#x017F;ehen, und da i&#x017F;t die kriti&#x017F;che Frage ohne<lb/>
Intere&#x017F;&#x017F;e.</p><lb/>
            <p>Die&#x017F;e An&#x017F;icht liegt aber ganz außer un&#x017F;erm Standpunkte,<lb/>
weil wir in der Kritik keine Auctorita&#x0364;t der Kirche gelten la&#x017F;&#x017F;en<lb/>
ko&#x0364;nnen. Freilich i&#x017F;t der Kanon u&#x0364;berliefert, ohne daß wir wi&#x017F;&#x017F;en,<lb/>
wie er gerade &#x017F;o geworden. Aber wenn wir es auch wu&#x0364;ßten,<lb/>
ko&#x0364;nnten wir ihn doch nicht ohne Pru&#x0364;fung annehmen. Denn da<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">Hermeneutik u. Kritik. 24</fw><lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[369/0393] koͤnnen. Aber in jenem erſten Falle bleibt ein unbedingtes In- tereſſe, weil, um nichts zu vernachlaͤſſigen, das groͤßte anzu- nehmen iſt. Auf dem Gebiete der claſſiſchen Litteratur laſſen ſich alle dieſe Differenzen finden. Es giebt hier Schriften, bei denen es im hohen Grade gleichguͤltig iſt, wer ihr Verfaſſer iſt, und die nur wichtig ſind als Sprachdenkmale einer gewiſſen Zeit und Gegend. Die Schrift ſelbſt ergiebt dann, auf welcher Stufe ihr Verfaſſer geſtanden, ſowohl was die Sprache als den Inhalt be- trifft. Die Perſoͤnlichkeit iſt dabei gleichguͤltig. Je mehr aber die Perſoͤnlichkeit in Sprache und Gegenſtand verflochten iſt, deſto mehr waͤchſt das Intereſſe der Frage. Was nun das Neue Teſtament betrifft, ſo ſind hier die kri- tiſchen Aufgaben dieſer Art theils aus alter Zeit uͤberliefert, theils neu entſtanden, manche ſind ſchon entſchieden und wieder zwei- felhaft gemacht worden. Wir haben hier eine weitlaͤufige Ge- ſchichte der kritiſchen Beſtrebungen. Fuͤr einen roͤmiſchkatholiſchen Theologen haben alle jene kri- tiſchen Fragen kein Intereſſe, denn der Kanon iſt ein Werk der Kirche, und wie er in derſelben uͤberliefert iſt, ſo hat er auch denſelben Werth und dieſelbe Auctoritaͤt der Unfehlbarkeit, wie die Tradition der Lehre. Es iſt fuͤr den katholiſchen Theologen gleichguͤltig, ob er ſagt, daraus, daß der zweite Brief Petri auf- genommen iſt, folgt, daß er ein Brief Petri ſei, oder ob er ſagt, die Kirche hat den Brief aufgenommen, ohne ſich zu bekuͤmmern, ob er ein Werk des Petrus ſei oder nicht. Der Brief hat auf jeden Fall kanoniſches Anſehen, und da iſt die kritiſche Frage ohne Intereſſe. Dieſe Anſicht liegt aber ganz außer unſerm Standpunkte, weil wir in der Kritik keine Auctoritaͤt der Kirche gelten laſſen koͤnnen. Freilich iſt der Kanon uͤberliefert, ohne daß wir wiſſen, wie er gerade ſo geworden. Aber wenn wir es auch wuͤßten, koͤnnten wir ihn doch nicht ohne Pruͤfung annehmen. Denn da Hermeneutik u. Kritik. 24

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/schleiermacher_hermeneutik_1838
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/schleiermacher_hermeneutik_1838/393
Zitationshilfe: Schleiermacher, Friedrich: Hermeneutik und Kritik. Berlin, 1838, S. 369. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schleiermacher_hermeneutik_1838/393>, abgerufen am 05.12.2024.