Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Schleiermacher, Friedrich: Hermeneutik und Kritik. Berlin, 1838.

Bild:
<< vorherige Seite

und ähnliche Fragen, wenn doch nicht auf das Gebiet der philo-
logischen Kritik? Sie gehören der historischen Kritik an. Diese
hat es recht eigentlich mit der Ermittlung von Thatsachen zu thun.

Die Sache kommt nun so zu stehen. Die philologische Kritik
führt zurück bis auf das anerkannte öffentliche Dasein dieser
Schriften, so weit sie kann. Auf das abgesonderte Dasein ein-
zelner Schriften kann sie uns eigentlich nicht zurückführen. Denn
wir haben nur Fragmente von der Geschichte der einzelnen Bü-
cher. Das Resultat fehlt ganz. Wir haben die Sammlung des
N. T., wissen aber nicht, wie sie entstanden ist. Das N. T.
ist nicht immer so gewesen, das wissen wir. Wir haben darüber
einzelne Data. Wie aber aus jenen Differenzen die jezige Ein-
heit gewonnen worden ist, darüber fehlt der historische Zusam-
menhang in den Zeugnissen. Es giebt noch Abschriften des N. T.
welche den unvollständigen Zustand bezeugen, wie z. B. die Pe-
schito. Aber wir können die Lücke dadurch nicht ausfüllen. Fragt
ma nweiter zurückgehend nach der Entstehung der einzelnen Schrif-
ten, so ist diese Frage wiederum nicht so vereinzelt, daß sie sich
nur auf die synoptischen Evangelien bezöge. Es fragt sich auch,
wie die einzelnen Briefe entstanden sind. Dieß ist auch eine rein
historische Frage. So hat sich in dieser Beziehung ein Gebiet von
Aufgaben gebildet und zwar nicht im N. T. allein, was wir von
dem der eigentlichen philologischen Kritik sondern müssen, es ist
das Gebiet der historischen Kritik.

Diese ist die Kunst, eine Thatsache zu restituiren, so daß sie
gleichsam vor unsren Augen geschieht. Und zwar gilt es da, die
Thatsache entweder aus mangelhaften Zeugnissen oder aus nicht
übereinstimmenden zu restituiren, also auf dem Wege der Ergän-
zung in dem einen oder auf dem Wege der Ausgleichung in dem
andern Falle. Beide Aufgaben kommen vor. Nehmen wir z. B.
die Homerische Frage. Lassen wir es auch ganz unentschieden, ob
zu der Zeit, wo der Dichter gelebt haben soll, er des Schreibens
habe kundig sein und seine Werke selbst schriftlich habe abfassen
können, so werden wir doch mit Recht behaupten, daß sie von

und aͤhnliche Fragen, wenn doch nicht auf das Gebiet der philo-
logiſchen Kritik? Sie gehoͤren der hiſtoriſchen Kritik an. Dieſe
hat es recht eigentlich mit der Ermittlung von Thatſachen zu thun.

Die Sache kommt nun ſo zu ſtehen. Die philologiſche Kritik
fuͤhrt zuruͤck bis auf das anerkannte oͤffentliche Daſein dieſer
Schriften, ſo weit ſie kann. Auf das abgeſonderte Daſein ein-
zelner Schriften kann ſie uns eigentlich nicht zuruͤckfuͤhren. Denn
wir haben nur Fragmente von der Geſchichte der einzelnen Buͤ-
cher. Das Reſultat fehlt ganz. Wir haben die Sammlung des
N. T., wiſſen aber nicht, wie ſie entſtanden iſt. Das N. T.
iſt nicht immer ſo geweſen, das wiſſen wir. Wir haben daruͤber
einzelne Data. Wie aber aus jenen Differenzen die jezige Ein-
heit gewonnen worden iſt, daruͤber fehlt der hiſtoriſche Zuſam-
menhang in den Zeugniſſen. Es giebt noch Abſchriften des N. T.
welche den unvollſtaͤndigen Zuſtand bezeugen, wie z. B. die Pe-
ſchito. Aber wir koͤnnen die Luͤcke dadurch nicht ausfuͤllen. Fragt
ma nweiter zuruͤckgehend nach der Entſtehung der einzelnen Schrif-
ten, ſo iſt dieſe Frage wiederum nicht ſo vereinzelt, daß ſie ſich
nur auf die ſynoptiſchen Evangelien bezoͤge. Es fragt ſich auch,
wie die einzelnen Briefe entſtanden ſind. Dieß iſt auch eine rein
hiſtoriſche Frage. So hat ſich in dieſer Beziehung ein Gebiet von
Aufgaben gebildet und zwar nicht im N. T. allein, was wir von
dem der eigentlichen philologiſchen Kritik ſondern muͤſſen, es iſt
das Gebiet der hiſtoriſchen Kritik.

Dieſe iſt die Kunſt, eine Thatſache zu reſtituiren, ſo daß ſie
gleichſam vor unſren Augen geſchieht. Und zwar gilt es da, die
Thatſache entweder aus mangelhaften Zeugniſſen oder aus nicht
uͤbereinſtimmenden zu reſtituiren, alſo auf dem Wege der Ergaͤn-
zung in dem einen oder auf dem Wege der Ausgleichung in dem
andern Falle. Beide Aufgaben kommen vor. Nehmen wir z. B.
die Homeriſche Frage. Laſſen wir es auch ganz unentſchieden, ob
zu der Zeit, wo der Dichter gelebt haben ſoll, er des Schreibens
habe kundig ſein und ſeine Werke ſelbſt ſchriftlich habe abfaſſen
koͤnnen, ſo werden wir doch mit Recht behaupten, daß ſie von

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0400" n="376"/>
und a&#x0364;hnliche Fragen, wenn doch nicht auf das Gebiet der philo-<lb/>
logi&#x017F;chen Kritik? Sie geho&#x0364;ren der hi&#x017F;tori&#x017F;chen Kritik an. Die&#x017F;e<lb/>
hat es recht eigentlich mit der Ermittlung von That&#x017F;achen zu thun.</p><lb/>
            <p>Die Sache kommt nun &#x017F;o zu &#x017F;tehen. Die philologi&#x017F;che Kritik<lb/>
fu&#x0364;hrt zuru&#x0364;ck bis auf das anerkannte o&#x0364;ffentliche Da&#x017F;ein die&#x017F;er<lb/>
Schriften, &#x017F;o weit &#x017F;ie kann. Auf das abge&#x017F;onderte Da&#x017F;ein ein-<lb/>
zelner Schriften kann &#x017F;ie uns eigentlich nicht zuru&#x0364;ckfu&#x0364;hren. Denn<lb/>
wir haben nur Fragmente von der Ge&#x017F;chichte der einzelnen Bu&#x0364;-<lb/>
cher. Das Re&#x017F;ultat fehlt ganz. Wir haben die Sammlung des<lb/>
N. T., wi&#x017F;&#x017F;en aber nicht, wie &#x017F;ie ent&#x017F;tanden i&#x017F;t. Das N. T.<lb/>
i&#x017F;t nicht immer &#x017F;o gewe&#x017F;en, das wi&#x017F;&#x017F;en wir. Wir haben daru&#x0364;ber<lb/>
einzelne Data. Wie aber aus jenen Differenzen die jezige Ein-<lb/>
heit gewonnen worden i&#x017F;t, daru&#x0364;ber fehlt der hi&#x017F;tori&#x017F;che Zu&#x017F;am-<lb/>
menhang in den Zeugni&#x017F;&#x017F;en. Es giebt noch Ab&#x017F;chriften des N. T.<lb/>
welche den unvoll&#x017F;ta&#x0364;ndigen Zu&#x017F;tand bezeugen, wie z. B. die Pe-<lb/>
&#x017F;chito. Aber wir ko&#x0364;nnen die Lu&#x0364;cke dadurch nicht ausfu&#x0364;llen. Fragt<lb/>
ma nweiter zuru&#x0364;ckgehend nach der Ent&#x017F;tehung der einzelnen Schrif-<lb/>
ten, &#x017F;o i&#x017F;t die&#x017F;e Frage wiederum nicht &#x017F;o vereinzelt, daß &#x017F;ie &#x017F;ich<lb/>
nur auf die &#x017F;ynopti&#x017F;chen Evangelien bezo&#x0364;ge. Es fragt &#x017F;ich auch,<lb/>
wie die einzelnen Briefe ent&#x017F;tanden &#x017F;ind. Dieß i&#x017F;t auch eine rein<lb/>
hi&#x017F;tori&#x017F;che Frage. So hat &#x017F;ich in die&#x017F;er Beziehung ein Gebiet von<lb/>
Aufgaben gebildet und zwar nicht im N. T. allein, was wir von<lb/>
dem der eigentlichen philologi&#x017F;chen Kritik &#x017F;ondern mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;en, es i&#x017F;t<lb/>
das Gebiet der hi&#x017F;tori&#x017F;chen Kritik.</p><lb/>
            <p>Die&#x017F;e i&#x017F;t die Kun&#x017F;t, eine That&#x017F;ache zu re&#x017F;tituiren, &#x017F;o daß &#x017F;ie<lb/>
gleich&#x017F;am vor un&#x017F;ren Augen ge&#x017F;chieht. Und zwar gilt es da, die<lb/>
That&#x017F;ache entweder aus mangelhaften Zeugni&#x017F;&#x017F;en oder aus nicht<lb/>
u&#x0364;berein&#x017F;timmenden zu re&#x017F;tituiren, al&#x017F;o auf dem Wege der Erga&#x0364;n-<lb/>
zung in dem einen oder auf dem Wege der Ausgleichung in dem<lb/>
andern Falle. Beide Aufgaben kommen vor. Nehmen wir z. B.<lb/>
die Homeri&#x017F;che Frage. La&#x017F;&#x017F;en wir es auch ganz unent&#x017F;chieden, ob<lb/>
zu der Zeit, wo der Dichter gelebt haben &#x017F;oll, er des Schreibens<lb/>
habe kundig &#x017F;ein und &#x017F;eine Werke &#x017F;elb&#x017F;t &#x017F;chriftlich habe abfa&#x017F;&#x017F;en<lb/>
ko&#x0364;nnen, &#x017F;o werden wir doch mit Recht behaupten, daß &#x017F;ie von<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[376/0400] und aͤhnliche Fragen, wenn doch nicht auf das Gebiet der philo- logiſchen Kritik? Sie gehoͤren der hiſtoriſchen Kritik an. Dieſe hat es recht eigentlich mit der Ermittlung von Thatſachen zu thun. Die Sache kommt nun ſo zu ſtehen. Die philologiſche Kritik fuͤhrt zuruͤck bis auf das anerkannte oͤffentliche Daſein dieſer Schriften, ſo weit ſie kann. Auf das abgeſonderte Daſein ein- zelner Schriften kann ſie uns eigentlich nicht zuruͤckfuͤhren. Denn wir haben nur Fragmente von der Geſchichte der einzelnen Buͤ- cher. Das Reſultat fehlt ganz. Wir haben die Sammlung des N. T., wiſſen aber nicht, wie ſie entſtanden iſt. Das N. T. iſt nicht immer ſo geweſen, das wiſſen wir. Wir haben daruͤber einzelne Data. Wie aber aus jenen Differenzen die jezige Ein- heit gewonnen worden iſt, daruͤber fehlt der hiſtoriſche Zuſam- menhang in den Zeugniſſen. Es giebt noch Abſchriften des N. T. welche den unvollſtaͤndigen Zuſtand bezeugen, wie z. B. die Pe- ſchito. Aber wir koͤnnen die Luͤcke dadurch nicht ausfuͤllen. Fragt ma nweiter zuruͤckgehend nach der Entſtehung der einzelnen Schrif- ten, ſo iſt dieſe Frage wiederum nicht ſo vereinzelt, daß ſie ſich nur auf die ſynoptiſchen Evangelien bezoͤge. Es fragt ſich auch, wie die einzelnen Briefe entſtanden ſind. Dieß iſt auch eine rein hiſtoriſche Frage. So hat ſich in dieſer Beziehung ein Gebiet von Aufgaben gebildet und zwar nicht im N. T. allein, was wir von dem der eigentlichen philologiſchen Kritik ſondern muͤſſen, es iſt das Gebiet der hiſtoriſchen Kritik. Dieſe iſt die Kunſt, eine Thatſache zu reſtituiren, ſo daß ſie gleichſam vor unſren Augen geſchieht. Und zwar gilt es da, die Thatſache entweder aus mangelhaften Zeugniſſen oder aus nicht uͤbereinſtimmenden zu reſtituiren, alſo auf dem Wege der Ergaͤn- zung in dem einen oder auf dem Wege der Ausgleichung in dem andern Falle. Beide Aufgaben kommen vor. Nehmen wir z. B. die Homeriſche Frage. Laſſen wir es auch ganz unentſchieden, ob zu der Zeit, wo der Dichter gelebt haben ſoll, er des Schreibens habe kundig ſein und ſeine Werke ſelbſt ſchriftlich habe abfaſſen koͤnnen, ſo werden wir doch mit Recht behaupten, daß ſie von

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/schleiermacher_hermeneutik_1838
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/schleiermacher_hermeneutik_1838/400
Zitationshilfe: Schleiermacher, Friedrich: Hermeneutik und Kritik. Berlin, 1838, S. 376. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schleiermacher_hermeneutik_1838/400>, abgerufen am 05.12.2024.