und ähnliche Fragen, wenn doch nicht auf das Gebiet der philo- logischen Kritik? Sie gehören der historischen Kritik an. Diese hat es recht eigentlich mit der Ermittlung von Thatsachen zu thun.
Die Sache kommt nun so zu stehen. Die philologische Kritik führt zurück bis auf das anerkannte öffentliche Dasein dieser Schriften, so weit sie kann. Auf das abgesonderte Dasein ein- zelner Schriften kann sie uns eigentlich nicht zurückführen. Denn wir haben nur Fragmente von der Geschichte der einzelnen Bü- cher. Das Resultat fehlt ganz. Wir haben die Sammlung des N. T., wissen aber nicht, wie sie entstanden ist. Das N. T. ist nicht immer so gewesen, das wissen wir. Wir haben darüber einzelne Data. Wie aber aus jenen Differenzen die jezige Ein- heit gewonnen worden ist, darüber fehlt der historische Zusam- menhang in den Zeugnissen. Es giebt noch Abschriften des N. T. welche den unvollständigen Zustand bezeugen, wie z. B. die Pe- schito. Aber wir können die Lücke dadurch nicht ausfüllen. Fragt ma nweiter zurückgehend nach der Entstehung der einzelnen Schrif- ten, so ist diese Frage wiederum nicht so vereinzelt, daß sie sich nur auf die synoptischen Evangelien bezöge. Es fragt sich auch, wie die einzelnen Briefe entstanden sind. Dieß ist auch eine rein historische Frage. So hat sich in dieser Beziehung ein Gebiet von Aufgaben gebildet und zwar nicht im N. T. allein, was wir von dem der eigentlichen philologischen Kritik sondern müssen, es ist das Gebiet der historischen Kritik.
Diese ist die Kunst, eine Thatsache zu restituiren, so daß sie gleichsam vor unsren Augen geschieht. Und zwar gilt es da, die Thatsache entweder aus mangelhaften Zeugnissen oder aus nicht übereinstimmenden zu restituiren, also auf dem Wege der Ergän- zung in dem einen oder auf dem Wege der Ausgleichung in dem andern Falle. Beide Aufgaben kommen vor. Nehmen wir z. B. die Homerische Frage. Lassen wir es auch ganz unentschieden, ob zu der Zeit, wo der Dichter gelebt haben soll, er des Schreibens habe kundig sein und seine Werke selbst schriftlich habe abfassen können, so werden wir doch mit Recht behaupten, daß sie von
und aͤhnliche Fragen, wenn doch nicht auf das Gebiet der philo- logiſchen Kritik? Sie gehoͤren der hiſtoriſchen Kritik an. Dieſe hat es recht eigentlich mit der Ermittlung von Thatſachen zu thun.
Die Sache kommt nun ſo zu ſtehen. Die philologiſche Kritik fuͤhrt zuruͤck bis auf das anerkannte oͤffentliche Daſein dieſer Schriften, ſo weit ſie kann. Auf das abgeſonderte Daſein ein- zelner Schriften kann ſie uns eigentlich nicht zuruͤckfuͤhren. Denn wir haben nur Fragmente von der Geſchichte der einzelnen Buͤ- cher. Das Reſultat fehlt ganz. Wir haben die Sammlung des N. T., wiſſen aber nicht, wie ſie entſtanden iſt. Das N. T. iſt nicht immer ſo geweſen, das wiſſen wir. Wir haben daruͤber einzelne Data. Wie aber aus jenen Differenzen die jezige Ein- heit gewonnen worden iſt, daruͤber fehlt der hiſtoriſche Zuſam- menhang in den Zeugniſſen. Es giebt noch Abſchriften des N. T. welche den unvollſtaͤndigen Zuſtand bezeugen, wie z. B. die Pe- ſchito. Aber wir koͤnnen die Luͤcke dadurch nicht ausfuͤllen. Fragt ma nweiter zuruͤckgehend nach der Entſtehung der einzelnen Schrif- ten, ſo iſt dieſe Frage wiederum nicht ſo vereinzelt, daß ſie ſich nur auf die ſynoptiſchen Evangelien bezoͤge. Es fragt ſich auch, wie die einzelnen Briefe entſtanden ſind. Dieß iſt auch eine rein hiſtoriſche Frage. So hat ſich in dieſer Beziehung ein Gebiet von Aufgaben gebildet und zwar nicht im N. T. allein, was wir von dem der eigentlichen philologiſchen Kritik ſondern muͤſſen, es iſt das Gebiet der hiſtoriſchen Kritik.
Dieſe iſt die Kunſt, eine Thatſache zu reſtituiren, ſo daß ſie gleichſam vor unſren Augen geſchieht. Und zwar gilt es da, die Thatſache entweder aus mangelhaften Zeugniſſen oder aus nicht uͤbereinſtimmenden zu reſtituiren, alſo auf dem Wege der Ergaͤn- zung in dem einen oder auf dem Wege der Ausgleichung in dem andern Falle. Beide Aufgaben kommen vor. Nehmen wir z. B. die Homeriſche Frage. Laſſen wir es auch ganz unentſchieden, ob zu der Zeit, wo der Dichter gelebt haben ſoll, er des Schreibens habe kundig ſein und ſeine Werke ſelbſt ſchriftlich habe abfaſſen koͤnnen, ſo werden wir doch mit Recht behaupten, daß ſie von
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und aͤhnliche Fragen, wenn doch nicht auf das Gebiet der philo-
logiſchen Kritik? Sie gehoͤren der hiſtoriſchen Kritik an. Dieſe
hat es recht eigentlich mit der Ermittlung von Thatſachen zu thun.
Die Sache kommt nun ſo zu ſtehen. Die philologiſche Kritik
fuͤhrt zuruͤck bis auf das anerkannte oͤffentliche Daſein dieſer
Schriften, ſo weit ſie kann. Auf das abgeſonderte Daſein ein-
zelner Schriften kann ſie uns eigentlich nicht zuruͤckfuͤhren. Denn
wir haben nur Fragmente von der Geſchichte der einzelnen Buͤ-
cher. Das Reſultat fehlt ganz. Wir haben die Sammlung des
N. T., wiſſen aber nicht, wie ſie entſtanden iſt. Das N. T.
iſt nicht immer ſo geweſen, das wiſſen wir. Wir haben daruͤber
einzelne Data. Wie aber aus jenen Differenzen die jezige Ein-
heit gewonnen worden iſt, daruͤber fehlt der hiſtoriſche Zuſam-
menhang in den Zeugniſſen. Es giebt noch Abſchriften des N. T.
welche den unvollſtaͤndigen Zuſtand bezeugen, wie z. B. die Pe-
ſchito. Aber wir koͤnnen die Luͤcke dadurch nicht ausfuͤllen. Fragt
ma nweiter zuruͤckgehend nach der Entſtehung der einzelnen Schrif-
ten, ſo iſt dieſe Frage wiederum nicht ſo vereinzelt, daß ſie ſich
nur auf die ſynoptiſchen Evangelien bezoͤge. Es fragt ſich auch,
wie die einzelnen Briefe entſtanden ſind. Dieß iſt auch eine rein
hiſtoriſche Frage. So hat ſich in dieſer Beziehung ein Gebiet von
Aufgaben gebildet und zwar nicht im N. T. allein, was wir von
dem der eigentlichen philologiſchen Kritik ſondern muͤſſen, es iſt
das Gebiet der hiſtoriſchen Kritik.
Dieſe iſt die Kunſt, eine Thatſache zu reſtituiren, ſo daß ſie
gleichſam vor unſren Augen geſchieht. Und zwar gilt es da, die
Thatſache entweder aus mangelhaften Zeugniſſen oder aus nicht
uͤbereinſtimmenden zu reſtituiren, alſo auf dem Wege der Ergaͤn-
zung in dem einen oder auf dem Wege der Ausgleichung in dem
andern Falle. Beide Aufgaben kommen vor. Nehmen wir z. B.
die Homeriſche Frage. Laſſen wir es auch ganz unentſchieden, ob
zu der Zeit, wo der Dichter gelebt haben ſoll, er des Schreibens
habe kundig ſein und ſeine Werke ſelbſt ſchriftlich habe abfaſſen
koͤnnen, ſo werden wir doch mit Recht behaupten, daß ſie von
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Schleiermacher, Friedrich: Hermeneutik und Kritik. Berlin, 1838, S. 376. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schleiermacher_hermeneutik_1838/400>, abgerufen am 05.12.2024.
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