gleichen haben wir bei der griechischen und lateinischen Sprache nur unvollkommen. Daher die ersten lexikalischen Arbeiten von solchen herrühren, welche die ganze Litteratur zum Behufe der Sprachkenntniß durchgearbeitet hatten. Deßhalb aber bedürfen diese Arbeiten auch beständiger Berichtigung durch die Ausle- gung selbst, und jede kunstmäßige Auslegung muß dazu ihrer- seits beitragen.
2. Unter bestimmtem Sprachschaz verstehe ich Dialekt, Pe- riode und Sprachgebiet einer besonderen Gattung, letzteres aus- gehend von dem Unterschiede zwischen Poesie und Prosa.
3. Der Anfänger muß die ersten Schritte an der Hand je- ner Hülfsmittel thun, aber selbstthätige Interpretation kann nur auf verhältnißmäßiger selbstthätiger Erwerbung jener Vor- kenntnisse ruhen. Denn alle Bestimmungen über die Sprache in Wörterbüchern und Observationen gehn doch von besonderer und oftmals unsicherer Auslegung aus.
4. In dem neutestam. Gebiet kann man besonders sagen, daß die Unsicherheit und Willkührlichkeit der Auslegung größten- theils auf diesem Mangel beruht. Denn aus einzelnen Observa- tionen lassen sich immer entgegengesezte Analogien entwickeln. -- Der Weg zum neutest. Sprachschaze geht aber vom klassischen Alterthume aus durch die makedonische Gräcität, die jüdischen Profanschriftsteller Josephus und Philo, die deuterokanonischen Schriften und die LXX, als die stärkste Annäherung zum he- bräischen.
Was 1) die gegenwärtige Art des akademischen Studiums der neutest. Exegese betrifft, so fehlt es dabei an einer genügenden Vorbereitung. Gewöhnlich kommt man unmittelbar von der klassischphilologischen Gymnasialbildung zur kunstmäßigen Ausle- gung des N. T. Das ist eine ungünstige Lage. Doch wollen wir deßhalb nicht in den Wunsch einstimmen, daß zum Behuf der theologischen Bildung die jezige gelehrte Schulbildung geän-
1) Aus der Vorles. v. J. 1826.
gleichen haben wir bei der griechiſchen und lateiniſchen Sprache nur unvollkommen. Daher die erſten lexikaliſchen Arbeiten von ſolchen herruͤhren, welche die ganze Litteratur zum Behufe der Sprachkenntniß durchgearbeitet hatten. Deßhalb aber beduͤrfen dieſe Arbeiten auch beſtaͤndiger Berichtigung durch die Ausle- gung ſelbſt, und jede kunſtmaͤßige Auslegung muß dazu ihrer- ſeits beitragen.
2. Unter beſtimmtem Sprachſchaz verſtehe ich Dialekt, Pe- riode und Sprachgebiet einer beſonderen Gattung, letzteres aus- gehend von dem Unterſchiede zwiſchen Poeſie und Proſa.
3. Der Anfaͤnger muß die erſten Schritte an der Hand je- ner Huͤlfsmittel thun, aber ſelbſtthaͤtige Interpretation kann nur auf verhaͤltnißmaͤßiger ſelbſtthaͤtiger Erwerbung jener Vor- kenntniſſe ruhen. Denn alle Beſtimmungen uͤber die Sprache in Woͤrterbuͤchern und Obſervationen gehn doch von beſonderer und oftmals unſicherer Auslegung aus.
4. In dem neuteſtam. Gebiet kann man beſonders ſagen, daß die Unſicherheit und Willkuͤhrlichkeit der Auslegung groͤßten- theils auf dieſem Mangel beruht. Denn aus einzelnen Obſerva- tionen laſſen ſich immer entgegengeſezte Analogien entwickeln. — Der Weg zum neuteſt. Sprachſchaze geht aber vom klaſſiſchen Alterthume aus durch die makedoniſche Graͤcitaͤt, die juͤdiſchen Profanſchriftſteller Joſephus und Philo, die deuterokanoniſchen Schriften und die LXX, als die ſtaͤrkſte Annaͤherung zum he- braͤiſchen.
Was 1) die gegenwaͤrtige Art des akademiſchen Studiums der neuteſt. Exegeſe betrifft, ſo fehlt es dabei an einer genuͤgenden Vorbereitung. Gewoͤhnlich kommt man unmittelbar von der klaſſiſchphilologiſchen Gymnaſialbildung zur kunſtmaͤßigen Ausle- gung des N. T. Das iſt eine unguͤnſtige Lage. Doch wollen wir deßhalb nicht in den Wunſch einſtimmen, daß zum Behuf der theologiſchen Bildung die jezige gelehrte Schulbildung geaͤn-
1) Aus der Vorleſ. v. J. 1826.
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gleichen haben wir bei der griechiſchen und lateiniſchen Sprache
nur unvollkommen. Daher die erſten lexikaliſchen Arbeiten von
ſolchen herruͤhren, welche die ganze Litteratur zum Behufe der
Sprachkenntniß durchgearbeitet hatten. Deßhalb aber beduͤrfen
dieſe Arbeiten auch beſtaͤndiger Berichtigung durch die Ausle-
gung ſelbſt, und jede kunſtmaͤßige Auslegung muß dazu ihrer-
ſeits beitragen.
2. Unter beſtimmtem Sprachſchaz verſtehe ich Dialekt, Pe-
riode und Sprachgebiet einer beſonderen Gattung, letzteres aus-
gehend von dem Unterſchiede zwiſchen Poeſie und Proſa.
3. Der Anfaͤnger muß die erſten Schritte an der Hand je-
ner Huͤlfsmittel thun, aber ſelbſtthaͤtige Interpretation kann
nur auf verhaͤltnißmaͤßiger ſelbſtthaͤtiger Erwerbung jener Vor-
kenntniſſe ruhen. Denn alle Beſtimmungen uͤber die Sprache
in Woͤrterbuͤchern und Obſervationen gehn doch von beſonderer
und oftmals unſicherer Auslegung aus.
4. In dem neuteſtam. Gebiet kann man beſonders ſagen,
daß die Unſicherheit und Willkuͤhrlichkeit der Auslegung groͤßten-
theils auf dieſem Mangel beruht. Denn aus einzelnen Obſerva-
tionen laſſen ſich immer entgegengeſezte Analogien entwickeln. —
Der Weg zum neuteſt. Sprachſchaze geht aber vom klaſſiſchen
Alterthume aus durch die makedoniſche Graͤcitaͤt, die juͤdiſchen
Profanſchriftſteller Joſephus und Philo, die deuterokanoniſchen
Schriften und die LXX, als die ſtaͤrkſte Annaͤherung zum he-
braͤiſchen.
Was 1) die gegenwaͤrtige Art des akademiſchen Studiums der
neuteſt. Exegeſe betrifft, ſo fehlt es dabei an einer genuͤgenden
Vorbereitung. Gewoͤhnlich kommt man unmittelbar von der
klaſſiſchphilologiſchen Gymnaſialbildung zur kunſtmaͤßigen Ausle-
gung des N. T. Das iſt eine unguͤnſtige Lage. Doch wollen
wir deßhalb nicht in den Wunſch einſtimmen, daß zum Behuf
der theologiſchen Bildung die jezige gelehrte Schulbildung geaͤn-
1) Aus der Vorleſ. v. J. 1826.
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Schleiermacher, Friedrich: Hermeneutik und Kritik. Berlin, 1838, S. 34. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schleiermacher_hermeneutik_1838/58>, abgerufen am 12.12.2024.
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