Schmidt, Erich: Gedächtnissrede auf Karl Weinhold. Berlin, 1902.
<TEI> <text> <body> <div> <pb facs="#f0014" n="14"/> <p><lb/> 12 E. SCHMIDT:</p> <p><lb/> ist nicht bloſs der zunächst geringe äuſsere Erfolg schuld gewesen. Wein-<lb/> hold’s Aufsatz »Über den Beilaut«, ein kleiner Vorläufer der Alemannischen<lb/> Grammatik, scheidet 1860 zwei Richtungen des grammatischen Betriebes:<lb/> eine geht auf Bearbeitung des ganzen groſsen Sprachstamms, der andern<lb/> hilft die Vergleichung nur für die Etymologie der Äste; dazu das un-<lb/> zweideutige Geständniſs: »Ich neige mich entschieden der letzten zu. Jene<lb/> ist kühner und vielleicht genialer, diese nüchterner, aber sicherer«. So<lb/> hatte sein Lehrer und Freund Theodor Jacobi doch nicht gedacht, als er<lb/> 1843 in Ansicht und Methode, wie er ganz offen in dem Zukunft ath-<lb/> menden Vorwort der »Beiträge zur deutschen Grammatik« erklärte, von<lb/> Grimm und Bopp abwich, um zum Historischen und Allgemeinen zu streben,<lb/> statt einer history of the decline and the fall of german language ein ge-<lb/> treues Bild allmählicher Entfaltung, die für alle formalen Verluste reichen<lb/> Ersatz schafft, zu bieten, in die historische Grammatik Physiologie und<lb/> Philosophie hineinzutragen, »dem märchenhaften Es war einmal Grenzen<lb/> zu setzen, und was äuṣserlich geschieht aus dem geistigen Proceſs, der<lb/> es hervorruft, oder aus der Beschaffenheit der menschlichen Organe zu<lb/> erklären«. Weinhold hat Jacobi’s Theorie des Ablauts verbreiten helfen,<lb/> aber auch in den pietätvollen Gedenkblättern von 1874 keine principielle<lb/> Auseinandersetzung versucht.<lb/> Ich kann nur mit Einem Wort andeuten, welche Gährung lange nach<lb/> Jacobi’s halbvergessenen Wegweisern oder einzelnen späteren Thaten gleich<lb/> Westphal’s Entdeckung des gothischen Auslautgesetzes namentlich durch<lb/> Wilhelm Scherer’s »kühnes und geniales« Jugendwerk entstand, wie die<lb/> germanische Grammatik den innigen Zusammenhang mit der allgemeinen<lb/> Sprachwissenschaft und der Lautphysiologie empfing, was dann für die<lb/> fränkischen Dialekte und die Geschichte der Schriftsprache erforscht wurde.<lb/> Weinhold blieb bei seiner Art als einer, der »noch bei Jacob Grimm und<lb/> Bopp gelernt« habe. Die neue Bewegung war ihm fremd, unbehaglich,<lb/> ja zuwider. Im letzten Jahrzehend legte er groſses Gewicht auf die von<lb/> Grimm mit dem einfachen Satz abgebrochene Syntax und auf lexikalische<lb/> Studien: beide thun, so sagt der Berliner Rector 1893 unumwunden, »uns<lb/> jetzt weit mehr noth, als die phonetischen, die sicherer dem Naturforscher<lb/> und seinen Instrumenten überlassen bleiben, und als die problematischen<lb/> Constructionen einer vorgeschichtlichen Sprache«. Derselbe Revolutionär<lb/> Scherer jedoch rief (Kl. Schriften 1, 562; 1866), als er die energische Frage</p> </div> </body> </text> </TEI> [14/0014]
12 E. SCHMIDT:
ist nicht bloſs der zunächst geringe äuſsere Erfolg schuld gewesen. Wein-
hold’s Aufsatz »Über den Beilaut«, ein kleiner Vorläufer der Alemannischen
Grammatik, scheidet 1860 zwei Richtungen des grammatischen Betriebes:
eine geht auf Bearbeitung des ganzen groſsen Sprachstamms, der andern
hilft die Vergleichung nur für die Etymologie der Äste; dazu das un-
zweideutige Geständniſs: »Ich neige mich entschieden der letzten zu. Jene
ist kühner und vielleicht genialer, diese nüchterner, aber sicherer«. So
hatte sein Lehrer und Freund Theodor Jacobi doch nicht gedacht, als er
1843 in Ansicht und Methode, wie er ganz offen in dem Zukunft ath-
menden Vorwort der »Beiträge zur deutschen Grammatik« erklärte, von
Grimm und Bopp abwich, um zum Historischen und Allgemeinen zu streben,
statt einer history of the decline and the fall of german language ein ge-
treues Bild allmählicher Entfaltung, die für alle formalen Verluste reichen
Ersatz schafft, zu bieten, in die historische Grammatik Physiologie und
Philosophie hineinzutragen, »dem märchenhaften Es war einmal Grenzen
zu setzen, und was äuṣserlich geschieht aus dem geistigen Proceſs, der
es hervorruft, oder aus der Beschaffenheit der menschlichen Organe zu
erklären«. Weinhold hat Jacobi’s Theorie des Ablauts verbreiten helfen,
aber auch in den pietätvollen Gedenkblättern von 1874 keine principielle
Auseinandersetzung versucht.
Ich kann nur mit Einem Wort andeuten, welche Gährung lange nach
Jacobi’s halbvergessenen Wegweisern oder einzelnen späteren Thaten gleich
Westphal’s Entdeckung des gothischen Auslautgesetzes namentlich durch
Wilhelm Scherer’s »kühnes und geniales« Jugendwerk entstand, wie die
germanische Grammatik den innigen Zusammenhang mit der allgemeinen
Sprachwissenschaft und der Lautphysiologie empfing, was dann für die
fränkischen Dialekte und die Geschichte der Schriftsprache erforscht wurde.
Weinhold blieb bei seiner Art als einer, der »noch bei Jacob Grimm und
Bopp gelernt« habe. Die neue Bewegung war ihm fremd, unbehaglich,
ja zuwider. Im letzten Jahrzehend legte er groſses Gewicht auf die von
Grimm mit dem einfachen Satz abgebrochene Syntax und auf lexikalische
Studien: beide thun, so sagt der Berliner Rector 1893 unumwunden, »uns
jetzt weit mehr noth, als die phonetischen, die sicherer dem Naturforscher
und seinen Instrumenten überlassen bleiben, und als die problematischen
Constructionen einer vorgeschichtlichen Sprache«. Derselbe Revolutionär
Scherer jedoch rief (Kl. Schriften 1, 562; 1866), als er die energische Frage
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