Schmidt, Erich: Gedächtnissrede auf Karl Weinhold. Berlin, 1902.
<TEI> <text> <body> <pb facs="#f0005" n="5"/> <div> <p><lb/><hi rendition="#in">H</hi>eute vor einundfünfzig Jahren hat hier Jacob Grimm seine berühmte<lb/> Rede auf Karl Lachmann gehalten und die Art des zum Herausgeber ge-<lb/> bornen Freundes mit seiner eigenen vergleichend beide Hemisphären der<lb/> Philologie, die formale und die reale, die doch kein rechter Philolog trennen<lb/> mag, umschrieben. Aus dieser Heroenzeit der deutschen Alterthumskunde ragte<lb/> der verehrungswürdige Mann, der damals bereits an der vierten Hochschule<lb/> lehrte und dem jetzt zwischen zwei soviel jünger abberufenen Akademikern<lb/> ein Valet erschallen soll, in unsre Gegenwart. Schon der Gedanke daran,<lb/> daſs ihm Lachmann persönlich in der Vollkraft den Sinn geschärft, daſs<lb/> ihm Jacob Grimm, sein mit nie geschwächter Pietät gepriesener Meister,<lb/> weite Bahnen erschlossen und langhin freundschaftlichen Zuruf gespendet<lb/> hatte, hob Karl Weinhold vor den Nachfahren empor. Die reiche Ge-<lb/> lehrsamkeit, die so extensive wie intensive Arbeit durch zwei Menschen-<lb/> alter, die Wahrung einer fast die gesammte deutsche Philologie umfassenden<lb/> Totalität von dem groſsen Erblasser her in die Diadochenzeit hinein, das<lb/> tiefe vaterländisch-religiöse Wesen seiner ganzen Studien, die wirksame<lb/> Energie endlich, mit der er seiner Jugendliebe zur Volkskunde durch eigenes,<lb/> aus vieljährigem Sammeleifer strömendes Schaffen und von ihm gestiftete<lb/> und beseelte Organe diente — das und viel mehr gab ihm gerad auf der<lb/> letzten Wegstrecke ein hohes Ansehen.<lb/> Den so groſsen und mannigfachen Ertrag dieses langen rüstigen Ge-<lb/> lehrtenlebens (26. October 1823 bis 15. August 1901) hier zu entrollen und<lb/> nach altgermanischem Brauch dem Todten seine Waffen andächtig in’s letzte<lb/> Bett zu legen, verbietet mir, abgesehn von den viel engeren Schranken<lb/> meines Urtheils, die karg bemessene Frist. Nur ein unbehauenes Steinmal<lb/> kann ich rasch errichten, in treuer Dankbarkeit gegen den um dreiſsig Jahre<lb/> älteren Nachbar, den ich doch schon als steirischen Collegen und Freund<lb/> meines Vaters im ersten Safte geschaut habe.</p> <p><lb/> 1 *</p> </div> </body> </text> </TEI> [5/0005]
Heute vor einundfünfzig Jahren hat hier Jacob Grimm seine berühmte
Rede auf Karl Lachmann gehalten und die Art des zum Herausgeber ge-
bornen Freundes mit seiner eigenen vergleichend beide Hemisphären der
Philologie, die formale und die reale, die doch kein rechter Philolog trennen
mag, umschrieben. Aus dieser Heroenzeit der deutschen Alterthumskunde ragte
der verehrungswürdige Mann, der damals bereits an der vierten Hochschule
lehrte und dem jetzt zwischen zwei soviel jünger abberufenen Akademikern
ein Valet erschallen soll, in unsre Gegenwart. Schon der Gedanke daran,
daſs ihm Lachmann persönlich in der Vollkraft den Sinn geschärft, daſs
ihm Jacob Grimm, sein mit nie geschwächter Pietät gepriesener Meister,
weite Bahnen erschlossen und langhin freundschaftlichen Zuruf gespendet
hatte, hob Karl Weinhold vor den Nachfahren empor. Die reiche Ge-
lehrsamkeit, die so extensive wie intensive Arbeit durch zwei Menschen-
alter, die Wahrung einer fast die gesammte deutsche Philologie umfassenden
Totalität von dem groſsen Erblasser her in die Diadochenzeit hinein, das
tiefe vaterländisch-religiöse Wesen seiner ganzen Studien, die wirksame
Energie endlich, mit der er seiner Jugendliebe zur Volkskunde durch eigenes,
aus vieljährigem Sammeleifer strömendes Schaffen und von ihm gestiftete
und beseelte Organe diente — das und viel mehr gab ihm gerad auf der
letzten Wegstrecke ein hohes Ansehen.
Den so groſsen und mannigfachen Ertrag dieses langen rüstigen Ge-
lehrtenlebens (26. October 1823 bis 15. August 1901) hier zu entrollen und
nach altgermanischem Brauch dem Todten seine Waffen andächtig in’s letzte
Bett zu legen, verbietet mir, abgesehn von den viel engeren Schranken
meines Urtheils, die karg bemessene Frist. Nur ein unbehauenes Steinmal
kann ich rasch errichten, in treuer Dankbarkeit gegen den um dreiſsig Jahre
älteren Nachbar, den ich doch schon als steirischen Collegen und Freund
meines Vaters im ersten Safte geschaut habe.
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