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Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900.

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Erstes Buch. Land, Leute und Technik.
denn der Ausspruch Pindars, daß das Wasser das Herrlichste sei, ist vor allem auch
wirtschaftlich wahr. Ohne Wasser ist nirgends ein wirtschaftliches Gedeihen. Man
könnte fast sagen, die am Wasser gelegenen Gebiete seien die reichen.

Die Regenmenge und das örtliche Vorkommen des Wassers stehen in engster
kausaler Wechselwirkung; aber im einzelnen ist der Reichtum an Quellen, Flüssen und
Küsten doch nicht durch die Regenmenge des Ortes bedingt, und jedenfalls wird das
Vorkommen fließenden Wassers um so wichtiger, je mehr es an Regen in der
Gegend fehlt.

Wie schon die Tiere des Waldes und der Wüste dem Wasser nachgehen, so hat
es der primitive Mensch gethan; die Wanderungen und Siedelungen der Ureinwohner
sind zwar von großen Wasserläufen oft auch gehemmt worden, große Ströme bieten
lange eine fast unüberbrückbare Völkerscheide; aber umsomehr folgt der primitive Mensch
den Quellen und Flußrändern. Und mit der Seßhaftigkeit und der höheren Kultur
nimmt der Zug nach dem Wasser nicht ab. Die Quellen haben überall die Wohnsitze
der Menschen bestimmt, weil Mensch und Vieh, Küche und Haus ohne Wasser nicht
existieren können. Wo die Feuchtigkeit durch Regen fehlt, bestimmen Quellen, Bäche und
Flüsse alle Vegetation; freilich erst eine hohe gesellschaftliche und technische Entwickelung
haben in trockenen Ländern wie in Ägypten, Indien, China, Mesopotamien, in Nord-
afrika, Spanien und Italien die Wunder jener bewässerten Ackerbau- und Gartendistrikte
geschaffen, wobei nicht bloß die Zuführung der nötigen Feuchtigkeit, sondern auch die
des düngenden Schlammes die reichen Ernten erzeugte. Ein großer Teil alles älteren
Gewerbebetriebes bedurfte der Nähe bedeutender Wassermengen, mußte also den Bächen
und Flüssen folgen: der Flachsbereiter und -Bleicher, der Gerber, Walker und Färber,
der Bierbrauer und Fleischer suchte das Wasser auf. Als die Wassermühlen erfunden
waren, war für die Mahl- und Sägemühlen, die Eisenhämmer und alle Werkstätten,
die mechanischer Kraft bedurften, der Standort am Wasser gegeben; und wenn heute
Dampf und Elektricität teilweise die große Industrie von dieser Bannung ans Wasser
befreit haben, billiger bleibt stets die Wasserkraft, und noch heute ist die ganze Ver-
teilung unserer Gewerbe doch überwiegend durch die Wasserläufe bestimmt.

Und wenn wir so Siedelungen, Ackerbau und Gewerbe dem Wasser mit Vorliebe
folgen sehen, wenn deshalb überall die dichte Bevölkerung in den mit Wasser reichlich
versehenen Thälern sich zusammendrängt, so ist die Wirkung auf den Verkehr fast eine
noch größere. Wie alle menschliche Kultur von den Küsten und Flußmündungen die
Thäler aufwärts ging, so entstanden alle größeren Orte und Städte hauptsächlich durch
den Verkehr, der von hier aus landeinwärts und stromaufwärts ging; in primitiven
Zeiten war der Wasserverkehr, der Handel zu Schiff vielfach die einzige Art größeren
Warenaustausches, lebendiger Berührung verschiedener Stämme und Händler; nur am
Meere und an großen Strömen saßen alle bekannten reichen Handelsvölker. Freilich
hat nicht überall, sondern nur an wenigen besonders günstigen Stellen das Wasser
fähige Rassen zu selbständiger Erfindung des Schiffsbaues und Handels angeleitet; an den
ungünstigen Küsten hat die Nachahmung erst langsam und nach und nach einen Wasser-
verkehr geschaffen. Nur an Punkten wie Tyrus, Alexandria, Karthago, Venedig, Genua,
Amsterdam, London, Hamburg, Newyork konnten die vorangeschrittensten Völker Mittelpunkte
des Welthandels und höchsten Reichtums schaffen. Und wenn heute die Eisenbahnen teil-
weise dem Wasser seine Verkehrsrolle abgenommen haben, wenn falsche gesellschaftliche
und politische Einrichtungen, sowie politische Schicksale die Kultur an großen Strömen,
die früher die Hauptlinien des Handels bildeten, verfallen ließen, die großen Fluß- und
Stromsysteme sind doch auch heute mehr als je die Hauptadern alles, auch des Eisen-
bahnverkehrs: am Lorenzo- und Mississippistrom, an Rhein und Elbe, an Seine und
Themse konzentriert sich auch heute der Pulsschlag des höchsten wirtschaftlichen Lebens.

Das Ergebnis all' solcher an die Erdoberfläche anknüpfender volkswirtschaftlich-
geographischer Betrachtungen ist immer wieder die Erkenntnis, wie engbegrenzt die Punkte
und Gebiete sind, an welchen eine hohe und allseitige, reiche wirtschaftliche Entwickelung
möglich ist, wie die an diesen Punkten sitzenden Menschen und Gesellschaften naturgemäß

Erſtes Buch. Land, Leute und Technik.
denn der Ausſpruch Pindars, daß das Waſſer das Herrlichſte ſei, iſt vor allem auch
wirtſchaftlich wahr. Ohne Waſſer iſt nirgends ein wirtſchaftliches Gedeihen. Man
könnte faſt ſagen, die am Waſſer gelegenen Gebiete ſeien die reichen.

Die Regenmenge und das örtliche Vorkommen des Waſſers ſtehen in engſter
kauſaler Wechſelwirkung; aber im einzelnen iſt der Reichtum an Quellen, Flüſſen und
Küſten doch nicht durch die Regenmenge des Ortes bedingt, und jedenfalls wird das
Vorkommen fließenden Waſſers um ſo wichtiger, je mehr es an Regen in der
Gegend fehlt.

Wie ſchon die Tiere des Waldes und der Wüſte dem Waſſer nachgehen, ſo hat
es der primitive Menſch gethan; die Wanderungen und Siedelungen der Ureinwohner
ſind zwar von großen Waſſerläufen oft auch gehemmt worden, große Ströme bieten
lange eine faſt unüberbrückbare Völkerſcheide; aber umſomehr folgt der primitive Menſch
den Quellen und Flußrändern. Und mit der Seßhaftigkeit und der höheren Kultur
nimmt der Zug nach dem Waſſer nicht ab. Die Quellen haben überall die Wohnſitze
der Menſchen beſtimmt, weil Menſch und Vieh, Küche und Haus ohne Waſſer nicht
exiſtieren können. Wo die Feuchtigkeit durch Regen fehlt, beſtimmen Quellen, Bäche und
Flüſſe alle Vegetation; freilich erſt eine hohe geſellſchaftliche und techniſche Entwickelung
haben in trockenen Ländern wie in Ägypten, Indien, China, Meſopotamien, in Nord-
afrika, Spanien und Italien die Wunder jener bewäſſerten Ackerbau- und Gartendiſtrikte
geſchaffen, wobei nicht bloß die Zuführung der nötigen Feuchtigkeit, ſondern auch die
des düngenden Schlammes die reichen Ernten erzeugte. Ein großer Teil alles älteren
Gewerbebetriebes bedurfte der Nähe bedeutender Waſſermengen, mußte alſo den Bächen
und Flüſſen folgen: der Flachsbereiter und -Bleicher, der Gerber, Walker und Färber,
der Bierbrauer und Fleiſcher ſuchte das Waſſer auf. Als die Waſſermühlen erfunden
waren, war für die Mahl- und Sägemühlen, die Eiſenhämmer und alle Werkſtätten,
die mechaniſcher Kraft bedurften, der Standort am Waſſer gegeben; und wenn heute
Dampf und Elektricität teilweiſe die große Induſtrie von dieſer Bannung ans Waſſer
befreit haben, billiger bleibt ſtets die Waſſerkraft, und noch heute iſt die ganze Ver-
teilung unſerer Gewerbe doch überwiegend durch die Waſſerläufe beſtimmt.

Und wenn wir ſo Siedelungen, Ackerbau und Gewerbe dem Waſſer mit Vorliebe
folgen ſehen, wenn deshalb überall die dichte Bevölkerung in den mit Waſſer reichlich
verſehenen Thälern ſich zuſammendrängt, ſo iſt die Wirkung auf den Verkehr faſt eine
noch größere. Wie alle menſchliche Kultur von den Küſten und Flußmündungen die
Thäler aufwärts ging, ſo entſtanden alle größeren Orte und Städte hauptſächlich durch
den Verkehr, der von hier aus landeinwärts und ſtromaufwärts ging; in primitiven
Zeiten war der Waſſerverkehr, der Handel zu Schiff vielfach die einzige Art größeren
Warenaustauſches, lebendiger Berührung verſchiedener Stämme und Händler; nur am
Meere und an großen Strömen ſaßen alle bekannten reichen Handelsvölker. Freilich
hat nicht überall, ſondern nur an wenigen beſonders günſtigen Stellen das Waſſer
fähige Raſſen zu ſelbſtändiger Erfindung des Schiffsbaues und Handels angeleitet; an den
ungünſtigen Küſten hat die Nachahmung erſt langſam und nach und nach einen Waſſer-
verkehr geſchaffen. Nur an Punkten wie Tyrus, Alexandria, Karthago, Venedig, Genua,
Amſterdam, London, Hamburg, Newyork konnten die vorangeſchrittenſten Völker Mittelpunkte
des Welthandels und höchſten Reichtums ſchaffen. Und wenn heute die Eiſenbahnen teil-
weiſe dem Waſſer ſeine Verkehrsrolle abgenommen haben, wenn falſche geſellſchaftliche
und politiſche Einrichtungen, ſowie politiſche Schickſale die Kultur an großen Strömen,
die früher die Hauptlinien des Handels bildeten, verfallen ließen, die großen Fluß- und
Stromſyſteme ſind doch auch heute mehr als je die Hauptadern alles, auch des Eiſen-
bahnverkehrs: am Lorenzo- und Miſſiſſippiſtrom, an Rhein und Elbe, an Seine und
Themſe konzentriert ſich auch heute der Pulsſchlag des höchſten wirtſchaftlichen Lebens.

Das Ergebnis all’ ſolcher an die Erdoberfläche anknüpfender volkswirtſchaftlich-
geographiſcher Betrachtungen iſt immer wieder die Erkenntnis, wie engbegrenzt die Punkte
und Gebiete ſind, an welchen eine hohe und allſeitige, reiche wirtſchaftliche Entwickelung
möglich iſt, wie die an dieſen Punkten ſitzenden Menſchen und Geſellſchaften naturgemäß

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[134/0150] Erſtes Buch. Land, Leute und Technik. denn der Ausſpruch Pindars, daß das Waſſer das Herrlichſte ſei, iſt vor allem auch wirtſchaftlich wahr. Ohne Waſſer iſt nirgends ein wirtſchaftliches Gedeihen. Man könnte faſt ſagen, die am Waſſer gelegenen Gebiete ſeien die reichen. Die Regenmenge und das örtliche Vorkommen des Waſſers ſtehen in engſter kauſaler Wechſelwirkung; aber im einzelnen iſt der Reichtum an Quellen, Flüſſen und Küſten doch nicht durch die Regenmenge des Ortes bedingt, und jedenfalls wird das Vorkommen fließenden Waſſers um ſo wichtiger, je mehr es an Regen in der Gegend fehlt. Wie ſchon die Tiere des Waldes und der Wüſte dem Waſſer nachgehen, ſo hat es der primitive Menſch gethan; die Wanderungen und Siedelungen der Ureinwohner ſind zwar von großen Waſſerläufen oft auch gehemmt worden, große Ströme bieten lange eine faſt unüberbrückbare Völkerſcheide; aber umſomehr folgt der primitive Menſch den Quellen und Flußrändern. Und mit der Seßhaftigkeit und der höheren Kultur nimmt der Zug nach dem Waſſer nicht ab. Die Quellen haben überall die Wohnſitze der Menſchen beſtimmt, weil Menſch und Vieh, Küche und Haus ohne Waſſer nicht exiſtieren können. Wo die Feuchtigkeit durch Regen fehlt, beſtimmen Quellen, Bäche und Flüſſe alle Vegetation; freilich erſt eine hohe geſellſchaftliche und techniſche Entwickelung haben in trockenen Ländern wie in Ägypten, Indien, China, Meſopotamien, in Nord- afrika, Spanien und Italien die Wunder jener bewäſſerten Ackerbau- und Gartendiſtrikte geſchaffen, wobei nicht bloß die Zuführung der nötigen Feuchtigkeit, ſondern auch die des düngenden Schlammes die reichen Ernten erzeugte. Ein großer Teil alles älteren Gewerbebetriebes bedurfte der Nähe bedeutender Waſſermengen, mußte alſo den Bächen und Flüſſen folgen: der Flachsbereiter und -Bleicher, der Gerber, Walker und Färber, der Bierbrauer und Fleiſcher ſuchte das Waſſer auf. Als die Waſſermühlen erfunden waren, war für die Mahl- und Sägemühlen, die Eiſenhämmer und alle Werkſtätten, die mechaniſcher Kraft bedurften, der Standort am Waſſer gegeben; und wenn heute Dampf und Elektricität teilweiſe die große Induſtrie von dieſer Bannung ans Waſſer befreit haben, billiger bleibt ſtets die Waſſerkraft, und noch heute iſt die ganze Ver- teilung unſerer Gewerbe doch überwiegend durch die Waſſerläufe beſtimmt. Und wenn wir ſo Siedelungen, Ackerbau und Gewerbe dem Waſſer mit Vorliebe folgen ſehen, wenn deshalb überall die dichte Bevölkerung in den mit Waſſer reichlich verſehenen Thälern ſich zuſammendrängt, ſo iſt die Wirkung auf den Verkehr faſt eine noch größere. Wie alle menſchliche Kultur von den Küſten und Flußmündungen die Thäler aufwärts ging, ſo entſtanden alle größeren Orte und Städte hauptſächlich durch den Verkehr, der von hier aus landeinwärts und ſtromaufwärts ging; in primitiven Zeiten war der Waſſerverkehr, der Handel zu Schiff vielfach die einzige Art größeren Warenaustauſches, lebendiger Berührung verſchiedener Stämme und Händler; nur am Meere und an großen Strömen ſaßen alle bekannten reichen Handelsvölker. Freilich hat nicht überall, ſondern nur an wenigen beſonders günſtigen Stellen das Waſſer fähige Raſſen zu ſelbſtändiger Erfindung des Schiffsbaues und Handels angeleitet; an den ungünſtigen Küſten hat die Nachahmung erſt langſam und nach und nach einen Waſſer- verkehr geſchaffen. Nur an Punkten wie Tyrus, Alexandria, Karthago, Venedig, Genua, Amſterdam, London, Hamburg, Newyork konnten die vorangeſchrittenſten Völker Mittelpunkte des Welthandels und höchſten Reichtums ſchaffen. Und wenn heute die Eiſenbahnen teil- weiſe dem Waſſer ſeine Verkehrsrolle abgenommen haben, wenn falſche geſellſchaftliche und politiſche Einrichtungen, ſowie politiſche Schickſale die Kultur an großen Strömen, die früher die Hauptlinien des Handels bildeten, verfallen ließen, die großen Fluß- und Stromſyſteme ſind doch auch heute mehr als je die Hauptadern alles, auch des Eiſen- bahnverkehrs: am Lorenzo- und Miſſiſſippiſtrom, an Rhein und Elbe, an Seine und Themſe konzentriert ſich auch heute der Pulsſchlag des höchſten wirtſchaftlichen Lebens. Das Ergebnis all’ ſolcher an die Erdoberfläche anknüpfender volkswirtſchaftlich- geographiſcher Betrachtungen iſt immer wieder die Erkenntnis, wie engbegrenzt die Punkte und Gebiete ſind, an welchen eine hohe und allſeitige, reiche wirtſchaftliche Entwickelung möglich iſt, wie die an dieſen Punkten ſitzenden Menſchen und Geſellſchaften naturgemäß

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Zitationshilfe: Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900, S. 134. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schmoller_grundriss01_1900/150>, abgerufen am 04.12.2024.