Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900.Erstes Buch. Land, Leute und Technik. ist es ein zierlicher, elastischer, untersetzter Menschenschlag mit kleinem, ovalem Kopfdunkeln, lebhaften Augen, ausdrucksvollen Gesichtern. Die Erscheinung, die Form ist dem Franzosen die Hauptsache; die Geselligkeit ist ihm sein Lebenselement; von der Mode beherrscht, lebt er, um gesehen, bewundert, geehrt zu werden. Mit Anmut bewegt er sich in allen Lebenslagen; mit Geschick und Geschmack weiß er sich das Haus und das Leben einzurichten, nirgends anstoßend, überall mit einem Witzwort sich helfend. Der scharfe, schematisierende, ordnende Verstand und die leichte, schwungvolle Erregbar- keit, die glänzende und durchsichtige Sprache und der veredelte Kunstsinn haben nach den verschiedensten Seiten Großes geleistet; Frankreich war lange in Politik und Wissen- schaft, Kunst und Litteratur, Technik und Geschmack an der Spitze der europäischen Kultur. Heute ist, wie das Hildebrand so scharfsinnig ausführt, der Grundzug des französischen Wesens rationelle Verständigkeit. Wie die Ehe sorgfältig ausgeklügelte Vernunftehe ist, so ist die Erziehung darauf 66. Ethnographische Einzelbeschreibung: Die germanischen Die großen stattlichen Leiber, die blonden Haare und blauen Augen, die rücksichts- Bleiben wir zunächst bei den Deutschen stehen, so werden wir sagen können, daß Erſtes Buch. Land, Leute und Technik. iſt es ein zierlicher, elaſtiſcher, unterſetzter Menſchenſchlag mit kleinem, ovalem Kopfdunkeln, lebhaften Augen, ausdrucksvollen Geſichtern. Die Erſcheinung, die Form iſt dem Franzoſen die Hauptſache; die Geſelligkeit iſt ihm ſein Lebenselement; von der Mode beherrſcht, lebt er, um geſehen, bewundert, geehrt zu werden. Mit Anmut bewegt er ſich in allen Lebenslagen; mit Geſchick und Geſchmack weiß er ſich das Haus und das Leben einzurichten, nirgends anſtoßend, überall mit einem Witzwort ſich helfend. Der ſcharfe, ſchematiſierende, ordnende Verſtand und die leichte, ſchwungvolle Erregbar- keit, die glänzende und durchſichtige Sprache und der veredelte Kunſtſinn haben nach den verſchiedenſten Seiten Großes geleiſtet; Frankreich war lange in Politik und Wiſſen- ſchaft, Kunſt und Litteratur, Technik und Geſchmack an der Spitze der europäiſchen Kultur. Heute iſt, wie das Hildebrand ſo ſcharfſinnig ausführt, der Grundzug des franzöſiſchen Weſens rationelle Verſtändigkeit. Wie die Ehe ſorgfältig ausgeklügelte Vernunftehe iſt, ſo iſt die Erziehung darauf 66. Ethnographiſche Einzelbeſchreibung: Die germaniſchen Die großen ſtattlichen Leiber, die blonden Haare und blauen Augen, die rückſichts- Bleiben wir zunächſt bei den Deutſchen ſtehen, ſo werden wir ſagen können, daß <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0170" n="154"/><fw place="top" type="header">Erſtes Buch. Land, Leute und Technik.</fw><lb/> iſt es ein zierlicher, elaſtiſcher, unterſetzter Menſchenſchlag mit kleinem, ovalem Kopf<lb/> dunkeln, lebhaften Augen, ausdrucksvollen Geſichtern. Die Erſcheinung, die Form iſt<lb/> dem Franzoſen die Hauptſache; die Geſelligkeit iſt ihm ſein Lebenselement; von der<lb/> Mode beherrſcht, lebt er, um geſehen, bewundert, geehrt zu werden. Mit Anmut bewegt<lb/> er ſich in allen Lebenslagen; mit Geſchick und Geſchmack weiß er ſich das Haus und<lb/> das Leben einzurichten, nirgends anſtoßend, überall mit einem Witzwort ſich helfend.<lb/> Der ſcharfe, ſchematiſierende, ordnende Verſtand und die leichte, ſchwungvolle Erregbar-<lb/> keit, die glänzende und durchſichtige Sprache und der veredelte Kunſtſinn haben nach<lb/> den verſchiedenſten Seiten Großes geleiſtet; Frankreich war lange in Politik und Wiſſen-<lb/> ſchaft, Kunſt und Litteratur, Technik und Geſchmack an der Spitze der europäiſchen Kultur.<lb/> Heute iſt, wie das Hildebrand ſo ſcharfſinnig ausführt, der Grundzug des franzöſiſchen<lb/> Weſens rationelle Verſtändigkeit.</p><lb/> <p>Wie die Ehe ſorgfältig ausgeklügelte Vernunftehe iſt, ſo iſt die Erziehung darauf<lb/> gerichtet, einen klugen, feinen Egoismus in wohlwollenden Formen zu erzeugen; die<lb/> Eltern wollen nicht charakterfeſte, geiſtesfreie Söhne haben, ſondern ihnen die Wege<lb/> ebnen, ſie davor bewahren, ſich lächerlich zu machen. Was man am höchſten ſchätzt,<lb/> iſt nicht feſter Wille, Mut, Arbeit um der Sache willen, ſondern Mäßigkeit, Beſonnen-<lb/> heit, Fügſamkeit gegenüber allen konventionellen Regeln. Nirgends iſt man ſo redlich<lb/> vom letzten Dienſtboten bis zum Millionär, ſo ordnungsliebend, ſolid und ſauber in<lb/> der Kleidung, ſo mäßig im Eſſen und Trinken, ſo wenig verſchwenderiſch, ſo klug<lb/> berechnend in der Sparſamkeit. Der Franzoſe iſt ſtets gefällig, nicht leicht generös; er<lb/> arbeitet in gewiſſen Jahren außerordentlich fleißig, aber um ſo früh als möglich ſich<lb/> zur Ruhe zu ſetzen oder um irgend ein Ordensbändchen, eine Auszeichnung zu erhalten;<lb/> uneigennütziges Arbeiten iſt ihm unverſtändlich. Auch in der Liebe, in der Religion<lb/> iſt er klug, vorſichtig, berechnend. Dieſe kluge Reflexion reicht für gewöhnliche Lebens-<lb/> lagen aus, verſagt aber leicht in den großen und beſonderen Augenblicken. Und daher iſt<lb/> das franzöſiſche Volk in ſolchen Lagen ſo kopf- und ratlos, von bleicher Panik, blinder<lb/> Leidenſchaft, ſelbſtſüchtiger Wildheit erfaßt. Es fehlen, ſagt Hildebrand, dem Franzoſen<lb/> jene ernſten männlichen Tugenden, die nur auf dem Boden des inneren individuellen<lb/> Lebens gedeihen. Es herrſchen wenigſtens bei einem erheblichen Teile die nüchternen<lb/> und rationaliſtiſchen Ideale der Mittelmäßigkeit und die Phraſen.</p><lb/> <p>66. <hi rendition="#g">Ethnographiſche Einzelbeſchreibung: Die germaniſchen<lb/> Völker, die Deutſchen</hi>. Die romaniſchen und die germaniſchen Völker ſind die<lb/> Hauptelemente der europäiſchen Kultur, auf ihrem Zuſammenwirken und ihrer Wechſel-<lb/> wirkung beruht die europäiſche Geſchichte. Die Romanen ſind die älteren, die Germanen<lb/> die jüngeren Glieder derſelben Familie, jene ſitzen im Süden, dieſe im Norden, jene ſind<lb/> direkter von den Überlieferungen der Antike und der mittelalterlich-katholiſchen Kirche<lb/> beherrſcht als dieſe. Der Proteſtantismus und die geiſtigen, an ihn ſich knüpfenden,<lb/> ſittlichen und ſtaatlichen Reformbewegungen gehören der germaniſchen, nordeuropäiſchen<lb/> Welt an.</p><lb/> <p>Die großen ſtattlichen Leiber, die blonden Haare und blauen Augen, die rückſichts-<lb/> loſe Härte, der unbeugſame Stolz, die hingebende Treue, das reine Familienleben der<lb/> Germanen bewunderten ſchon die Römer. Und dieſe Eigenſchaften finden ſich noch heute<lb/> bei manchen der germaniſchen Völker, zumal den ungemiſchteren nordgermaniſchen, wenn<lb/> auch ſo vieles ſeither da und dort unter anderen Verhältniſſen ſich wandelte, und<lb/> Schickſal, Klima, Raſſenmiſchung, Wirtſchaftsleben die einzelnen germaniſchen Stämme<lb/> und Völker weit auseinander führte.</p><lb/> <p>Bleiben wir zunächſt bei den <hi rendition="#g">Deutſchen</hi> ſtehen, ſo werden wir ſagen können, daß<lb/> die Barbaren des Tacitus durch die Kämpfe mit Rom, die definitive Seßhaftigkeit, die<lb/> chriſtliche Kirche zwar ſchon etwas andere geworden ſeien, daß aber die lang dauernde<lb/> Naturalwirtſchaft und das Mißlingen eines eigenen centraliſtiſchen Staates, ſowie die Los-<lb/> löſung von Rom durch den Proteſtantismus doch auf längere Erhaltung ihrer älteren<lb/> Eigenſchaften hinwirkte, als ſonſt wohl geſchehen wäre. Noch iſt heute Deutſchland eine<lb/> Völkermutter wie einſtmals Iran; viele Jahrhunderte hat es alle Völker Europas mit<lb/></p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [154/0170]
Erſtes Buch. Land, Leute und Technik.
iſt es ein zierlicher, elaſtiſcher, unterſetzter Menſchenſchlag mit kleinem, ovalem Kopf
dunkeln, lebhaften Augen, ausdrucksvollen Geſichtern. Die Erſcheinung, die Form iſt
dem Franzoſen die Hauptſache; die Geſelligkeit iſt ihm ſein Lebenselement; von der
Mode beherrſcht, lebt er, um geſehen, bewundert, geehrt zu werden. Mit Anmut bewegt
er ſich in allen Lebenslagen; mit Geſchick und Geſchmack weiß er ſich das Haus und
das Leben einzurichten, nirgends anſtoßend, überall mit einem Witzwort ſich helfend.
Der ſcharfe, ſchematiſierende, ordnende Verſtand und die leichte, ſchwungvolle Erregbar-
keit, die glänzende und durchſichtige Sprache und der veredelte Kunſtſinn haben nach
den verſchiedenſten Seiten Großes geleiſtet; Frankreich war lange in Politik und Wiſſen-
ſchaft, Kunſt und Litteratur, Technik und Geſchmack an der Spitze der europäiſchen Kultur.
Heute iſt, wie das Hildebrand ſo ſcharfſinnig ausführt, der Grundzug des franzöſiſchen
Weſens rationelle Verſtändigkeit.
Wie die Ehe ſorgfältig ausgeklügelte Vernunftehe iſt, ſo iſt die Erziehung darauf
gerichtet, einen klugen, feinen Egoismus in wohlwollenden Formen zu erzeugen; die
Eltern wollen nicht charakterfeſte, geiſtesfreie Söhne haben, ſondern ihnen die Wege
ebnen, ſie davor bewahren, ſich lächerlich zu machen. Was man am höchſten ſchätzt,
iſt nicht feſter Wille, Mut, Arbeit um der Sache willen, ſondern Mäßigkeit, Beſonnen-
heit, Fügſamkeit gegenüber allen konventionellen Regeln. Nirgends iſt man ſo redlich
vom letzten Dienſtboten bis zum Millionär, ſo ordnungsliebend, ſolid und ſauber in
der Kleidung, ſo mäßig im Eſſen und Trinken, ſo wenig verſchwenderiſch, ſo klug
berechnend in der Sparſamkeit. Der Franzoſe iſt ſtets gefällig, nicht leicht generös; er
arbeitet in gewiſſen Jahren außerordentlich fleißig, aber um ſo früh als möglich ſich
zur Ruhe zu ſetzen oder um irgend ein Ordensbändchen, eine Auszeichnung zu erhalten;
uneigennütziges Arbeiten iſt ihm unverſtändlich. Auch in der Liebe, in der Religion
iſt er klug, vorſichtig, berechnend. Dieſe kluge Reflexion reicht für gewöhnliche Lebens-
lagen aus, verſagt aber leicht in den großen und beſonderen Augenblicken. Und daher iſt
das franzöſiſche Volk in ſolchen Lagen ſo kopf- und ratlos, von bleicher Panik, blinder
Leidenſchaft, ſelbſtſüchtiger Wildheit erfaßt. Es fehlen, ſagt Hildebrand, dem Franzoſen
jene ernſten männlichen Tugenden, die nur auf dem Boden des inneren individuellen
Lebens gedeihen. Es herrſchen wenigſtens bei einem erheblichen Teile die nüchternen
und rationaliſtiſchen Ideale der Mittelmäßigkeit und die Phraſen.
66. Ethnographiſche Einzelbeſchreibung: Die germaniſchen
Völker, die Deutſchen. Die romaniſchen und die germaniſchen Völker ſind die
Hauptelemente der europäiſchen Kultur, auf ihrem Zuſammenwirken und ihrer Wechſel-
wirkung beruht die europäiſche Geſchichte. Die Romanen ſind die älteren, die Germanen
die jüngeren Glieder derſelben Familie, jene ſitzen im Süden, dieſe im Norden, jene ſind
direkter von den Überlieferungen der Antike und der mittelalterlich-katholiſchen Kirche
beherrſcht als dieſe. Der Proteſtantismus und die geiſtigen, an ihn ſich knüpfenden,
ſittlichen und ſtaatlichen Reformbewegungen gehören der germaniſchen, nordeuropäiſchen
Welt an.
Die großen ſtattlichen Leiber, die blonden Haare und blauen Augen, die rückſichts-
loſe Härte, der unbeugſame Stolz, die hingebende Treue, das reine Familienleben der
Germanen bewunderten ſchon die Römer. Und dieſe Eigenſchaften finden ſich noch heute
bei manchen der germaniſchen Völker, zumal den ungemiſchteren nordgermaniſchen, wenn
auch ſo vieles ſeither da und dort unter anderen Verhältniſſen ſich wandelte, und
Schickſal, Klima, Raſſenmiſchung, Wirtſchaftsleben die einzelnen germaniſchen Stämme
und Völker weit auseinander führte.
Bleiben wir zunächſt bei den Deutſchen ſtehen, ſo werden wir ſagen können, daß
die Barbaren des Tacitus durch die Kämpfe mit Rom, die definitive Seßhaftigkeit, die
chriſtliche Kirche zwar ſchon etwas andere geworden ſeien, daß aber die lang dauernde
Naturalwirtſchaft und das Mißlingen eines eigenen centraliſtiſchen Staates, ſowie die Los-
löſung von Rom durch den Proteſtantismus doch auf längere Erhaltung ihrer älteren
Eigenſchaften hinwirkte, als ſonſt wohl geſchehen wäre. Noch iſt heute Deutſchland eine
Völkermutter wie einſtmals Iran; viele Jahrhunderte hat es alle Völker Europas mit
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