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Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900.

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Die Zahl der Verehelichten und der Eheschließungen.
auf wirtschaftliche Hoffnungen, auf Schwierigkeit und Leichtigkeit der Existenzgründung
zu Tage.

Süßmilch führt für 1620--1755 Beispiele aus Holland mit 15 jährlichen Ehen,
aus deutschen Städten mit 5,8 an; er zeigt die Abnahme der Ehefrequenz in verschiedenen
Städten und Provinzen von 1680--1750 und bringt sie in Zusammenhang mit der
Thatsache, daß es 1650--1720 noch galt, Lücken aus den Kriegs- und Sterbejahren
des 17. Jahrhunderts auszufüllen; in den meisten preußischen Provinzen war gegen
1700 die Ehezahl 11,7--10; gegen 1750 war sie in Magdeburg, Halberstadt, Minden,
Brandenburg auf 8--9 gesunken, während sie in den östlichen menschenleeren Teilen
Preußens dieselbe blieb wie 1700. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts und
der Zeit bis 1840, ja teilweise bis 1850 bleibt die Frequenz, soweit wir Zahlen haben,
meist auf 7--8, ja sinkt z. B. in mehreren Schweizer Kantonen auf 5, in Württemberg
auf 6, in England und Frankreich auf 7,8. Dann folgt die große Zunahme von 1840
an, noch mehr von 1850--60. Der allgemeine Aufschwung des wirtschaftlichen Lebens
führt, wenigstens in England, Deutschland, Österreich-Ungarn, den Vereinigten Staaten,
für ein oder mehrere Jahrzehnte zu 8--10 Ehen, während neuestens wieder ein Rückgang
auf 7--8, in Norwegen und Schweden auf 6,5 eingetreten ist, und einige Länder, wie
Belgien, Frankreich, die Niederlande, Dänemark, stets bei 7--8 geblieben waren.

71. Die Geburten und die Todesfälle. Alter und Geschlecht sind die
elementaren natürlichen Unterschiede, Geburt und Tod die elementaren natürlichen
Ereignisse, welche die Bevölkerung beherrschen. Ihre Zahl bringt man für gewöhnlich
in der Art zur Anschauung, daß man, wie bei den Eheschließungen, berechnet, wie viel
Geburten und Todesfälle jährlich auf 1000 Lebende kommen. Die Zahlen, die man so
erhält, wären streng genommen nur dann ganz vergleichbar, wenn alle Staaten und
Gebiete den gleichen Altersaufbau und die gleiche Stabilität oder Zunahme zeigten.
Da dies nicht überall zutrifft, so hat man neuerdings feinere Methoden der Vergleichung
ausgebildet. Wir müssen uns aber des Raumes wegen mit dieser roheren hier begnügen,
die für unsere Zwecke auch im ganzen ausreicht.

Die Zahl der Geburten und der Todesfälle ist in erster Linie von physiologisch-
natürlichen Ursachen bedingt; aber diese geben nur äußerste Grenzen der Möglichkeit,
innerhalb deren dann hauptsächlich die Kulturursachen bestimmend sind. Wenn alle
Menschen 70 Jahre alt würden, so würde jährlich der 70., d. h. 14,3 auf 1000 oder
noch erheblich weniger sterben, da hiemit eine stark zunehmende Zahl der Lebenden ver-
bunden wäre; aber nur ausnahmsweise kommt es vor, daß erst der 40., 50. oder 60.
stirbt, meist sterben viel mehr, heute 20--30 auf 1000. Auf 1000 Seelen gewöhnlicher
Alters- und Geschlechtszusammensetzung könnten jährlich 150 Kinder geboren werden,
wenn es irgendwo denkbar wäre, daß alle Frauen fruchtbar wären und alle 22 Jahre
lang jährlich ein Kind erhielten; aber 25--50 Kinder sind heute das Gewöhnliche auf
1000 Seelen. Das heißt, die wirklichen Zahlen der Geburten und Sterbefälle sind ganz
andere als die physiologisch unter idealen Kultur- und Wirtschaftsverhältnissen, unter
Wegdenkung aller übrigen Ursachen möglichen; die Menschen haben stets einen schweren
Kampf ums Dasein geführt und führen ihn noch; Lebenserhaltung und Fortpflanzung
waren nie allein dastehende und herrschende Zwecke, sondern solche, welche sich als Teil-
zwecke ins Ganze der menschlichen Bedingungen und Ziele einzufügen haben.

Bleiben wir zunächst bei der Geburtenzahl, so wissen wir leider über sie aus
älterer Zeit und von primitiven Völkern nichts Genaueres, erst aus neuester Zeit etwas
über einige außereuropäische Länder. Ich halte es für denkbar, daß in älteren Zeiten und
im Süden unter den günstigsten Lebensbedingungen die Geburtenzahl (stets auf 1000 Ein-
wohner bezogen und die Totgeburten ausgeschlossen) jährlich 70'90 erreichen konnte,
da sie heute noch in Indien 48--50, in Rußland 46--50, in Java 50--60, auch in
einzelnen deutschen Kreisen solche Höhe erreicht. In Frankreich, Irland, einigen Neu-
englandstaaten ist sie neuerdings auf 20--23 gesunken. Im Durchschnitt geben 2 Ge-
burten auf das Leben einer zeugungsfähigen Frau die Geburtenzahl 15, 4 die Zahl 30,
6 die Zahl 45, 8 die Zahl 60 auf 1000. Osteuropa hat heute etwas höhere Zahlen

Die Zahl der Verehelichten und der Eheſchließungen.
auf wirtſchaftliche Hoffnungen, auf Schwierigkeit und Leichtigkeit der Exiſtenzgründung
zu Tage.

Süßmilch führt für 1620—1755 Beiſpiele aus Holland mit 15 jährlichen Ehen,
aus deutſchen Städten mit 5,8 an; er zeigt die Abnahme der Ehefrequenz in verſchiedenen
Städten und Provinzen von 1680—1750 und bringt ſie in Zuſammenhang mit der
Thatſache, daß es 1650—1720 noch galt, Lücken aus den Kriegs- und Sterbejahren
des 17. Jahrhunderts auszufüllen; in den meiſten preußiſchen Provinzen war gegen
1700 die Ehezahl 11,7—10; gegen 1750 war ſie in Magdeburg, Halberſtadt, Minden,
Brandenburg auf 8—9 geſunken, während ſie in den öſtlichen menſchenleeren Teilen
Preußens dieſelbe blieb wie 1700. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts und
der Zeit bis 1840, ja teilweiſe bis 1850 bleibt die Frequenz, ſoweit wir Zahlen haben,
meiſt auf 7—8, ja ſinkt z. B. in mehreren Schweizer Kantonen auf 5, in Württemberg
auf 6, in England und Frankreich auf 7,8. Dann folgt die große Zunahme von 1840
an, noch mehr von 1850—60. Der allgemeine Aufſchwung des wirtſchaftlichen Lebens
führt, wenigſtens in England, Deutſchland, Öſterreich-Ungarn, den Vereinigten Staaten,
für ein oder mehrere Jahrzehnte zu 8—10 Ehen, während neueſtens wieder ein Rückgang
auf 7—8, in Norwegen und Schweden auf 6,5 eingetreten iſt, und einige Länder, wie
Belgien, Frankreich, die Niederlande, Dänemark, ſtets bei 7—8 geblieben waren.

71. Die Geburten und die Todesfälle. Alter und Geſchlecht ſind die
elementaren natürlichen Unterſchiede, Geburt und Tod die elementaren natürlichen
Ereigniſſe, welche die Bevölkerung beherrſchen. Ihre Zahl bringt man für gewöhnlich
in der Art zur Anſchauung, daß man, wie bei den Eheſchließungen, berechnet, wie viel
Geburten und Todesfälle jährlich auf 1000 Lebende kommen. Die Zahlen, die man ſo
erhält, wären ſtreng genommen nur dann ganz vergleichbar, wenn alle Staaten und
Gebiete den gleichen Altersaufbau und die gleiche Stabilität oder Zunahme zeigten.
Da dies nicht überall zutrifft, ſo hat man neuerdings feinere Methoden der Vergleichung
ausgebildet. Wir müſſen uns aber des Raumes wegen mit dieſer roheren hier begnügen,
die für unſere Zwecke auch im ganzen ausreicht.

Die Zahl der Geburten und der Todesfälle iſt in erſter Linie von phyſiologiſch-
natürlichen Urſachen bedingt; aber dieſe geben nur äußerſte Grenzen der Möglichkeit,
innerhalb deren dann hauptſächlich die Kultururſachen beſtimmend ſind. Wenn alle
Menſchen 70 Jahre alt würden, ſo würde jährlich der 70., d. h. 14,3 auf 1000 oder
noch erheblich weniger ſterben, da hiemit eine ſtark zunehmende Zahl der Lebenden ver-
bunden wäre; aber nur ausnahmsweiſe kommt es vor, daß erſt der 40., 50. oder 60.
ſtirbt, meiſt ſterben viel mehr, heute 20—30 auf 1000. Auf 1000 Seelen gewöhnlicher
Alters- und Geſchlechtszuſammenſetzung könnten jährlich 150 Kinder geboren werden,
wenn es irgendwo denkbar wäre, daß alle Frauen fruchtbar wären und alle 22 Jahre
lang jährlich ein Kind erhielten; aber 25—50 Kinder ſind heute das Gewöhnliche auf
1000 Seelen. Das heißt, die wirklichen Zahlen der Geburten und Sterbefälle ſind ganz
andere als die phyſiologiſch unter idealen Kultur- und Wirtſchaftsverhältniſſen, unter
Wegdenkung aller übrigen Urſachen möglichen; die Menſchen haben ſtets einen ſchweren
Kampf ums Daſein geführt und führen ihn noch; Lebenserhaltung und Fortpflanzung
waren nie allein daſtehende und herrſchende Zwecke, ſondern ſolche, welche ſich als Teil-
zwecke ins Ganze der menſchlichen Bedingungen und Ziele einzufügen haben.

Bleiben wir zunächſt bei der Geburtenzahl, ſo wiſſen wir leider über ſie aus
älterer Zeit und von primitiven Völkern nichts Genaueres, erſt aus neueſter Zeit etwas
über einige außereuropäiſche Länder. Ich halte es für denkbar, daß in älteren Zeiten und
im Süden unter den günſtigſten Lebensbedingungen die Geburtenzahl (ſtets auf 1000 Ein-
wohner bezogen und die Totgeburten ausgeſchloſſen) jährlich 70’90 erreichen konnte,
da ſie heute noch in Indien 48—50, in Rußland 46—50, in Java 50—60, auch in
einzelnen deutſchen Kreiſen ſolche Höhe erreicht. In Frankreich, Irland, einigen Neu-
englandſtaaten iſt ſie neuerdings auf 20—23 geſunken. Im Durchſchnitt geben 2 Ge-
burten auf das Leben einer zeugungsfähigen Frau die Geburtenzahl 15, 4 die Zahl 30,
6 die Zahl 45, 8 die Zahl 60 auf 1000. Oſteuropa hat heute etwas höhere Zahlen

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[165/0181] Die Zahl der Verehelichten und der Eheſchließungen. auf wirtſchaftliche Hoffnungen, auf Schwierigkeit und Leichtigkeit der Exiſtenzgründung zu Tage. Süßmilch führt für 1620—1755 Beiſpiele aus Holland mit 15 jährlichen Ehen, aus deutſchen Städten mit 5,8 an; er zeigt die Abnahme der Ehefrequenz in verſchiedenen Städten und Provinzen von 1680—1750 und bringt ſie in Zuſammenhang mit der Thatſache, daß es 1650—1720 noch galt, Lücken aus den Kriegs- und Sterbejahren des 17. Jahrhunderts auszufüllen; in den meiſten preußiſchen Provinzen war gegen 1700 die Ehezahl 11,7—10; gegen 1750 war ſie in Magdeburg, Halberſtadt, Minden, Brandenburg auf 8—9 geſunken, während ſie in den öſtlichen menſchenleeren Teilen Preußens dieſelbe blieb wie 1700. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts und der Zeit bis 1840, ja teilweiſe bis 1850 bleibt die Frequenz, ſoweit wir Zahlen haben, meiſt auf 7—8, ja ſinkt z. B. in mehreren Schweizer Kantonen auf 5, in Württemberg auf 6, in England und Frankreich auf 7,8. Dann folgt die große Zunahme von 1840 an, noch mehr von 1850—60. Der allgemeine Aufſchwung des wirtſchaftlichen Lebens führt, wenigſtens in England, Deutſchland, Öſterreich-Ungarn, den Vereinigten Staaten, für ein oder mehrere Jahrzehnte zu 8—10 Ehen, während neueſtens wieder ein Rückgang auf 7—8, in Norwegen und Schweden auf 6,5 eingetreten iſt, und einige Länder, wie Belgien, Frankreich, die Niederlande, Dänemark, ſtets bei 7—8 geblieben waren. 71. Die Geburten und die Todesfälle. Alter und Geſchlecht ſind die elementaren natürlichen Unterſchiede, Geburt und Tod die elementaren natürlichen Ereigniſſe, welche die Bevölkerung beherrſchen. Ihre Zahl bringt man für gewöhnlich in der Art zur Anſchauung, daß man, wie bei den Eheſchließungen, berechnet, wie viel Geburten und Todesfälle jährlich auf 1000 Lebende kommen. Die Zahlen, die man ſo erhält, wären ſtreng genommen nur dann ganz vergleichbar, wenn alle Staaten und Gebiete den gleichen Altersaufbau und die gleiche Stabilität oder Zunahme zeigten. Da dies nicht überall zutrifft, ſo hat man neuerdings feinere Methoden der Vergleichung ausgebildet. Wir müſſen uns aber des Raumes wegen mit dieſer roheren hier begnügen, die für unſere Zwecke auch im ganzen ausreicht. Die Zahl der Geburten und der Todesfälle iſt in erſter Linie von phyſiologiſch- natürlichen Urſachen bedingt; aber dieſe geben nur äußerſte Grenzen der Möglichkeit, innerhalb deren dann hauptſächlich die Kultururſachen beſtimmend ſind. Wenn alle Menſchen 70 Jahre alt würden, ſo würde jährlich der 70., d. h. 14,3 auf 1000 oder noch erheblich weniger ſterben, da hiemit eine ſtark zunehmende Zahl der Lebenden ver- bunden wäre; aber nur ausnahmsweiſe kommt es vor, daß erſt der 40., 50. oder 60. ſtirbt, meiſt ſterben viel mehr, heute 20—30 auf 1000. Auf 1000 Seelen gewöhnlicher Alters- und Geſchlechtszuſammenſetzung könnten jährlich 150 Kinder geboren werden, wenn es irgendwo denkbar wäre, daß alle Frauen fruchtbar wären und alle 22 Jahre lang jährlich ein Kind erhielten; aber 25—50 Kinder ſind heute das Gewöhnliche auf 1000 Seelen. Das heißt, die wirklichen Zahlen der Geburten und Sterbefälle ſind ganz andere als die phyſiologiſch unter idealen Kultur- und Wirtſchaftsverhältniſſen, unter Wegdenkung aller übrigen Urſachen möglichen; die Menſchen haben ſtets einen ſchweren Kampf ums Daſein geführt und führen ihn noch; Lebenserhaltung und Fortpflanzung waren nie allein daſtehende und herrſchende Zwecke, ſondern ſolche, welche ſich als Teil- zwecke ins Ganze der menſchlichen Bedingungen und Ziele einzufügen haben. Bleiben wir zunächſt bei der Geburtenzahl, ſo wiſſen wir leider über ſie aus älterer Zeit und von primitiven Völkern nichts Genaueres, erſt aus neueſter Zeit etwas über einige außereuropäiſche Länder. Ich halte es für denkbar, daß in älteren Zeiten und im Süden unter den günſtigſten Lebensbedingungen die Geburtenzahl (ſtets auf 1000 Ein- wohner bezogen und die Totgeburten ausgeſchloſſen) jährlich 70’90 erreichen konnte, da ſie heute noch in Indien 48—50, in Rußland 46—50, in Java 50—60, auch in einzelnen deutſchen Kreiſen ſolche Höhe erreicht. In Frankreich, Irland, einigen Neu- englandſtaaten iſt ſie neuerdings auf 20—23 geſunken. Im Durchſchnitt geben 2 Ge- burten auf das Leben einer zeugungsfähigen Frau die Geburtenzahl 15, 4 die Zahl 30, 6 die Zahl 45, 8 die Zahl 60 auf 1000. Oſteuropa hat heute etwas höhere Zahlen

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Zitationshilfe: Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900, S. 165. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schmoller_grundriss01_1900/181>, abgerufen am 04.12.2024.