Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900.Erstes Buch. Land, Leute und Technik. dabei vor allem an das antike sinkende Griechenland und Italien und ihre Bevölkerungs-abnahme. Immer bleibt es wahrscheinlich, daß die ungünstigen Folgen von einzelnen Völkern Schon das Altertum hatte gewisse Institutionen, welche indirekt die Zunahme Die zu starke Wirkung solcher Einrichtungen hatte lange Zeit hindurch in Ver- Als die englische Bevölkerung von 1500--1800 aber von 2,5 auf 9 Mill. gestiegen Erſtes Buch. Land, Leute und Technik. dabei vor allem an das antike ſinkende Griechenland und Italien und ihre Bevölkerungs-abnahme. Immer bleibt es wahrſcheinlich, daß die ungünſtigen Folgen von einzelnen Völkern Schon das Altertum hatte gewiſſe Inſtitutionen, welche indirekt die Zunahme Die zu ſtarke Wirkung ſolcher Einrichtungen hatte lange Zeit hindurch in Ver- Als die engliſche Bevölkerung von 1500—1800 aber von 2,5 auf 9 Mill. geſtiegen <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0190" n="174"/><fw place="top" type="header">Erſtes Buch. Land, Leute und Technik.</fw><lb/> dabei vor allem an das antike ſinkende Griechenland und Italien und ihre Bevölkerungs-<lb/> abnahme.</p><lb/> <p>Immer bleibt es wahrſcheinlich, daß die ungünſtigen Folgen von einzelnen Völkern<lb/> früh erkannt wurden, und daß ſie in Verbindung mit den großen techniſchen Fortſchritten<lb/> der Hirten- und Ackerbauvölker, mit den geläuterten Religionsſyſtemen derſelben zu der<lb/> mit der höheren Kultur ſiegenden Auffaſſung führten, welche alle ſolche hemmenden Ein-<lb/> griffe für verwerflich und ſtrafbar, jede Bevölkerungszunahme für ein Glück erklärt. Die<lb/> Juden, das Chriſtentum, die chriſtlich-germaniſchen Völker ſtellten ſich auf dieſen Stand-<lb/> punkt. Letztere konnten ihn um ſo leichter feſthalten, als ſie Jahrhunderte lang eroberten,<lb/> koloniſierten, bei großem Verluſte durch Kriege und Krankheiten bis in die zweite Hälfte<lb/> des Mittelalters über einen unausgefüllten Nahrungsſpielraum verfügten. Seit ſie aber,<lb/> von 1200—1400 doch mehr und mehr zur Ruhe gekommen, den Ausbau in Stadt und<lb/> Land vollendet hatten und nun nicht mehr ebenſo leicht weiter wachſen konnten, da<lb/> haben ſie zwar nicht wieder ſo naiv zu Kindsmord, Abtreibung und Ähnlichem gegriffen<lb/> wie einſtmals die älteren Völker, aber ſie haben in Einrichtungen die Rettung geſucht,<lb/> welche mehr indirekt die Zunahme verlangſamen ſollten. Es ſind die, welche die euro-<lb/> päiſche Bevölkerungsbewegung in der Hauptſache von 1300—1800 beherrſchten.</p><lb/> <p>Schon das Altertum hatte gewiſſe Inſtitutionen, welche indirekt die Zunahme<lb/> hemmten: vor allem die Sklaverei; ſie ſtellte den Geſchlechtsverkehr aller Sklaven unter<lb/> die Kontrolle des Herrn, verminderte die Zahl der Ehen bei den Sklaven außerordentlich,<lb/> ſchränkte auch die eheliche Fruchtbarkeit der Herren durch Laſter und Mißbrauch der<lb/> Sklavinnen ein. Im Mittelalter kam die Eheſchließung der Unfreien und Halbfreien<lb/> wieder unter die Kontrolle der Herren. Die patriarchaliſche Familienverfaſſung, ſowie<lb/> die ganze feudale Agrarverfaſſung mit der Bevorzugung eines Erben, der Geſchloſſenheit<lb/> der Güter, dem Geſindezwangsdienſt verſchob das Heiratsalter, zwang viele Erwachſene<lb/> zu eheloſem Leben, regulierte die Bevölkerung in beſchränkendem Sinne. Und in den<lb/> Städten wirkten erſchwerte Niederlaſſung, Zunft- und Realrechte ſeit 1400—1500 ähnlich.<lb/> Je ſtabiler die wirtſchaftlichen Zuſtände und je gebundener durch Sitte und Recht ſie<lb/> waren, deſto mehr näherte man ſich dem, was Malthus auf ſeinen Reiſen in Norwegen<lb/> und im Kanton Bern als ſein Ideal fand: vorſichtige Anpaſſung der Ehen und der<lb/> Kinderzahl an einen gegebenen engen Nahrungsſpielraum mit geringer oder faſt ver-<lb/> ſchwindender Zunahme.</p><lb/> <p>Die zu ſtarke Wirkung ſolcher Einrichtungen hatte lange Zeit hindurch in Ver-<lb/> bindung mit den noch vorhandenen Krankheiten und Hungersnöten, mit den Kriegen<lb/> da und dort Stillſtand, ja Rückgang der Bevölkerung erzeugt. Daraus entſprangen die<lb/> populationiſtiſchen Theorien und die entſprechende Bevölkerungspolitik des aufgeklärten<lb/> Despotismus. Weil es in der That von 1600—1800 in vielen Staaten an Menſchen<lb/> fehlte, ſo konnten jene optimiſtiſchen Lehren von Sir William Temple, Vauban, dem<lb/> älteren Mirabeau und Rouſſeau, von J. J. Becher, Süßmilch, Juſti und Sonnenfels<lb/> bis zu Adam Smith entſtehen, daß die zunehmende Menſchenzahl an ſich ein Glück, mit<lb/> allen Mitteln zu fördern ſei, daß ſie den Reichtum der Staaten ausmache und erzeuge.<lb/> Und ſie hatten damit für ihre Zeit und die ihnen bekannten Länder im ganzen gar<lb/> nicht Unrecht; es handelte ſich darum, durch gute Verwaltung, Aufhebung aller mög-<lb/> lichen Schranken, durch Erleichterung der Ehen, Förderung der Einwanderung, Hemmung<lb/> der Auswanderung die zu geringe Menſchenzahl zu vermehren. Dieſe Theorien irrten nur<lb/> darin, daß ſie den beſtimmten ſtagnierenden Verhältniſſen entnommenen Satz: die<lb/> größere Menſchenzahl erzeugt größeren Wohlſtand, allzu ſehr generaliſierten, die zahl-<lb/> reichen Mittelurſachen und Nebenbedingungen der Kauſalkette überſahen.</p><lb/> <p>Als die engliſche Bevölkerung von 1500—1800 aber von 2,5 auf 9 Mill. geſtiegen<lb/> war, erzeugte die Zunahme, welche von 3 ‰ jährlich 1700—1751 ſucceſſive auf 18 ‰<lb/> 1811—21 gewachſen war, auch 1851—61 noch 12 ‰ betrug, immer häufiger ein<lb/> periodiſches Unbehagen. Schon die Puritaner, die 1620 nach Neuengland zogen, klagen,<lb/> daß der Menſch, das Wertvollſte auf der Welt, wegen der Überzahl in der Heimat<lb/> wertlos geworden ſei. Sir Walter Raleigh, Child, Sir James Steuart betonten dann<lb/></p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [174/0190]
Erſtes Buch. Land, Leute und Technik.
dabei vor allem an das antike ſinkende Griechenland und Italien und ihre Bevölkerungs-
abnahme.
Immer bleibt es wahrſcheinlich, daß die ungünſtigen Folgen von einzelnen Völkern
früh erkannt wurden, und daß ſie in Verbindung mit den großen techniſchen Fortſchritten
der Hirten- und Ackerbauvölker, mit den geläuterten Religionsſyſtemen derſelben zu der
mit der höheren Kultur ſiegenden Auffaſſung führten, welche alle ſolche hemmenden Ein-
griffe für verwerflich und ſtrafbar, jede Bevölkerungszunahme für ein Glück erklärt. Die
Juden, das Chriſtentum, die chriſtlich-germaniſchen Völker ſtellten ſich auf dieſen Stand-
punkt. Letztere konnten ihn um ſo leichter feſthalten, als ſie Jahrhunderte lang eroberten,
koloniſierten, bei großem Verluſte durch Kriege und Krankheiten bis in die zweite Hälfte
des Mittelalters über einen unausgefüllten Nahrungsſpielraum verfügten. Seit ſie aber,
von 1200—1400 doch mehr und mehr zur Ruhe gekommen, den Ausbau in Stadt und
Land vollendet hatten und nun nicht mehr ebenſo leicht weiter wachſen konnten, da
haben ſie zwar nicht wieder ſo naiv zu Kindsmord, Abtreibung und Ähnlichem gegriffen
wie einſtmals die älteren Völker, aber ſie haben in Einrichtungen die Rettung geſucht,
welche mehr indirekt die Zunahme verlangſamen ſollten. Es ſind die, welche die euro-
päiſche Bevölkerungsbewegung in der Hauptſache von 1300—1800 beherrſchten.
Schon das Altertum hatte gewiſſe Inſtitutionen, welche indirekt die Zunahme
hemmten: vor allem die Sklaverei; ſie ſtellte den Geſchlechtsverkehr aller Sklaven unter
die Kontrolle des Herrn, verminderte die Zahl der Ehen bei den Sklaven außerordentlich,
ſchränkte auch die eheliche Fruchtbarkeit der Herren durch Laſter und Mißbrauch der
Sklavinnen ein. Im Mittelalter kam die Eheſchließung der Unfreien und Halbfreien
wieder unter die Kontrolle der Herren. Die patriarchaliſche Familienverfaſſung, ſowie
die ganze feudale Agrarverfaſſung mit der Bevorzugung eines Erben, der Geſchloſſenheit
der Güter, dem Geſindezwangsdienſt verſchob das Heiratsalter, zwang viele Erwachſene
zu eheloſem Leben, regulierte die Bevölkerung in beſchränkendem Sinne. Und in den
Städten wirkten erſchwerte Niederlaſſung, Zunft- und Realrechte ſeit 1400—1500 ähnlich.
Je ſtabiler die wirtſchaftlichen Zuſtände und je gebundener durch Sitte und Recht ſie
waren, deſto mehr näherte man ſich dem, was Malthus auf ſeinen Reiſen in Norwegen
und im Kanton Bern als ſein Ideal fand: vorſichtige Anpaſſung der Ehen und der
Kinderzahl an einen gegebenen engen Nahrungsſpielraum mit geringer oder faſt ver-
ſchwindender Zunahme.
Die zu ſtarke Wirkung ſolcher Einrichtungen hatte lange Zeit hindurch in Ver-
bindung mit den noch vorhandenen Krankheiten und Hungersnöten, mit den Kriegen
da und dort Stillſtand, ja Rückgang der Bevölkerung erzeugt. Daraus entſprangen die
populationiſtiſchen Theorien und die entſprechende Bevölkerungspolitik des aufgeklärten
Despotismus. Weil es in der That von 1600—1800 in vielen Staaten an Menſchen
fehlte, ſo konnten jene optimiſtiſchen Lehren von Sir William Temple, Vauban, dem
älteren Mirabeau und Rouſſeau, von J. J. Becher, Süßmilch, Juſti und Sonnenfels
bis zu Adam Smith entſtehen, daß die zunehmende Menſchenzahl an ſich ein Glück, mit
allen Mitteln zu fördern ſei, daß ſie den Reichtum der Staaten ausmache und erzeuge.
Und ſie hatten damit für ihre Zeit und die ihnen bekannten Länder im ganzen gar
nicht Unrecht; es handelte ſich darum, durch gute Verwaltung, Aufhebung aller mög-
lichen Schranken, durch Erleichterung der Ehen, Förderung der Einwanderung, Hemmung
der Auswanderung die zu geringe Menſchenzahl zu vermehren. Dieſe Theorien irrten nur
darin, daß ſie den beſtimmten ſtagnierenden Verhältniſſen entnommenen Satz: die
größere Menſchenzahl erzeugt größeren Wohlſtand, allzu ſehr generaliſierten, die zahl-
reichen Mittelurſachen und Nebenbedingungen der Kauſalkette überſahen.
Als die engliſche Bevölkerung von 1500—1800 aber von 2,5 auf 9 Mill. geſtiegen
war, erzeugte die Zunahme, welche von 3 ‰ jährlich 1700—1751 ſucceſſive auf 18 ‰
1811—21 gewachſen war, auch 1851—61 noch 12 ‰ betrug, immer häufiger ein
periodiſches Unbehagen. Schon die Puritaner, die 1620 nach Neuengland zogen, klagen,
daß der Menſch, das Wertvollſte auf der Welt, wegen der Überzahl in der Heimat
wertlos geworden ſei. Sir Walter Raleigh, Child, Sir James Steuart betonten dann
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |