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Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900.

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Siedlungs-, Wirtschafts- und sonstige Gemeinschaft.
berührungen; Staat und Gemeinde fordern Steuern und Dienste aller Art nach kompli-
zierten Maßstäben: es bildet sich das unendlich verzweigte System wirtschaftlicher
Gemeinschaft, das wir schon oben (S. 2--4) kurz zu schildern suchten, das in seinem
Schoße aber ebenso sehr die Gegensätze steigert, die Individualitäten entwickelt, die
einzelnen durch die Lust an der Herrschaft, am Besitz und am Mehrhaben in Gegensatz
bringt, als es immer wieder über die Gegensätze hinweg durch größere gemeinsame
Organisationen und Schaffung stärkerer Gemeingefühle die Elemente wieder zusammen-
faßt. --

Sind die Blutsbande, die Kriegs- und Friedensgemeinschaft und die wirtschaft-
lichen Beziehungen die elementarsten und wichtigsten Veranlassungen zu gesellschaftlicher
Organisation, so entstehen mit der höheren Kultur daneben eine Reihe weiterer Zwecke,
wie Gottesdienst, Erziehung, Kunst, Gesundheitspflege und Ähnliches,
welche sociale Beziehungen und Gemeinschaften und damit neue Vorstellungsreihen,
Gefühle und Ziele des Handelns erzeugen. Es bilden sich jene höheren Funktionen und
Formen des gesellschaftlichen Lebens, wie Sitte, Recht, Moral, Religion, deren Ent-
wickelung zuerst als Mittel für die älteren nächstliegenden Zwecke, dann aber als Selbst-
zweck und beherrschender Regulator alles Handelns erscheint. Ihr eigenartiges Dasein
schafft wieder neue gesellschaftliche Beziehungen und Gemeinschaften, auf die wir weiterhin
zu kommen haben werden.

Hier waren sie nur zu erwähnen, um eine Vorstellung davon zu erwecken, wie
die gesellschaftlichen Zusammenhänge sich anknüpfen an eine Reihe gemeinsam erstrebter
Zwecke und Ziele. Jeder dieser Zwecke erzeugt eigenartige Zusammenhänge, Gemein-
schaften, Vorstellungen und Gefühle; jeder muß aber dulden, daß die anderen neben ihm
verfolgt werden. So entsteht ein System, eine Hierarchie von socialen Zwecken und
Zielen, wobei die einen sich teils als Mittel für die anderen, teils als Hindernis heraus-
stellen; es muß also eine Neben- und Unterordnung der Zwecke, eine Ineinanderfügung
und Anpassung, ein geordneter Zusammenhang in den Gefühlen, Vorstellungen und In-
stitutionen sich herstellen. Hier liegt gleichsam das Geheimnis der socialen Organisation,
hier liegt der Punkt, von dem aus es zu verstehen ist, daß Familien-, Rechts-, Staats-
und Wirtschaftsverfassung sich stets gegenseitig bedingen, nie getrennt verstanden werden
können.

Mit all' diesen Thatsachen und ihrem Zusammenhang ist aber noch keineswegs
erklärt, wodurch die Menschen in Stand gesetzt sind, für alle möglichen Zwecke Ver-
bindungen anzuknüpfen. Man hat darauf hingewiesen, daß auch die höheren Tiere
herdenweise zu Verteidigungs- und Arbeitsgemeinschaften zusammentreten. Man hat
gesagt, der Mensch sei ein kräftigeres und klügeres Raubtier, aber auch ein mit viel
stärkeren Gemütsimpulsen und Gemeinschaftsgefühlen ausgestattetes Herdentier als die
anderen Lebewesen; darauf beruhe seine Herrschaft über die ganze Natur und die Ausbildung
seiner socialen Fähigkeiten. So viel scheint jedenfalls klar, daß die feinere Organisation
unseres Körpers, unserer Nerven, unseres seelischen Apparates eine leichtere Verständigung
der Menschen als der Tiere untereinander herbeiführt. Die höhere Stellung des Menschen
beruht darauf, daß er bessere, reichere Verständigungsmittel für sociales Zusammenwirken
und damit stärkere Gemeingefühle, ein helleres Bewußtsein über Zwecke höherer und fern-
liegender Art, ihre Folgen, ihre gemeinsame Verfolgung sich erwarb. Eine starke Aus-
bildung der Mit- und Gleichgefühle stand an der Geburtsstätte alles gesellschaftlichen
Daseins. Kein anderes Wesen steht so unter der ansteckenden Herrschaft der Umgebung
von Seinesgleichen, kein anderes kann sich schon durch Gesten so verständigen, Gefühle
und Vorstellungen austauschen. Wie der Mensch gähnt und lacht und tanzt, wenn
er gähnen, lachen und tanzen sieht, wie die rauschende Militärmusik in hunderten von
Gassenjungen unwillkürlich Reflexbewegungen und Muskelgefühle erzeugt, die sie fort-
reißt, im Takte mit zu marschieren, so wirkt alles Menschliche ansteckend. Wie der junge
Vogel singen lernt durch Nachahmung der alten, so und in noch viel höherem Grade
ahmt der Mensch nach; alle Erziehung der Kinder besteht in unzähligen Anläufen und
Aufforderungen zur Nachahmung. Und so lange der Mensch frisch und bildungsfähig

Siedlungs-, Wirtſchafts- und ſonſtige Gemeinſchaft.
berührungen; Staat und Gemeinde fordern Steuern und Dienſte aller Art nach kompli-
zierten Maßſtäben: es bildet ſich das unendlich verzweigte Syſtem wirtſchaftlicher
Gemeinſchaft, das wir ſchon oben (S. 2—4) kurz zu ſchildern ſuchten, das in ſeinem
Schoße aber ebenſo ſehr die Gegenſätze ſteigert, die Individualitäten entwickelt, die
einzelnen durch die Luſt an der Herrſchaft, am Beſitz und am Mehrhaben in Gegenſatz
bringt, als es immer wieder über die Gegenſätze hinweg durch größere gemeinſame
Organiſationen und Schaffung ſtärkerer Gemeingefühle die Elemente wieder zuſammen-
faßt. —

Sind die Blutsbande, die Kriegs- und Friedensgemeinſchaft und die wirtſchaft-
lichen Beziehungen die elementarſten und wichtigſten Veranlaſſungen zu geſellſchaftlicher
Organiſation, ſo entſtehen mit der höheren Kultur daneben eine Reihe weiterer Zwecke,
wie Gottesdienſt, Erziehung, Kunſt, Geſundheitspflege und Ähnliches,
welche ſociale Beziehungen und Gemeinſchaften und damit neue Vorſtellungsreihen,
Gefühle und Ziele des Handelns erzeugen. Es bilden ſich jene höheren Funktionen und
Formen des geſellſchaftlichen Lebens, wie Sitte, Recht, Moral, Religion, deren Ent-
wickelung zuerſt als Mittel für die älteren nächſtliegenden Zwecke, dann aber als Selbſt-
zweck und beherrſchender Regulator alles Handelns erſcheint. Ihr eigenartiges Daſein
ſchafft wieder neue geſellſchaftliche Beziehungen und Gemeinſchaften, auf die wir weiterhin
zu kommen haben werden.

Hier waren ſie nur zu erwähnen, um eine Vorſtellung davon zu erwecken, wie
die geſellſchaftlichen Zuſammenhänge ſich anknüpfen an eine Reihe gemeinſam erſtrebter
Zwecke und Ziele. Jeder dieſer Zwecke erzeugt eigenartige Zuſammenhänge, Gemein-
ſchaften, Vorſtellungen und Gefühle; jeder muß aber dulden, daß die anderen neben ihm
verfolgt werden. So entſteht ein Syſtem, eine Hierarchie von ſocialen Zwecken und
Zielen, wobei die einen ſich teils als Mittel für die anderen, teils als Hindernis heraus-
ſtellen; es muß alſo eine Neben- und Unterordnung der Zwecke, eine Ineinanderfügung
und Anpaſſung, ein geordneter Zuſammenhang in den Gefühlen, Vorſtellungen und In-
ſtitutionen ſich herſtellen. Hier liegt gleichſam das Geheimnis der ſocialen Organiſation,
hier liegt der Punkt, von dem aus es zu verſtehen iſt, daß Familien-, Rechts-, Staats-
und Wirtſchaftsverfaſſung ſich ſtets gegenſeitig bedingen, nie getrennt verſtanden werden
können.

Mit all’ dieſen Thatſachen und ihrem Zuſammenhang iſt aber noch keineswegs
erklärt, wodurch die Menſchen in Stand geſetzt ſind, für alle möglichen Zwecke Ver-
bindungen anzuknüpfen. Man hat darauf hingewieſen, daß auch die höheren Tiere
herdenweiſe zu Verteidigungs- und Arbeitsgemeinſchaften zuſammentreten. Man hat
geſagt, der Menſch ſei ein kräftigeres und klügeres Raubtier, aber auch ein mit viel
ſtärkeren Gemütsimpulſen und Gemeinſchaftsgefühlen ausgeſtattetes Herdentier als die
anderen Lebeweſen; darauf beruhe ſeine Herrſchaft über die ganze Natur und die Ausbildung
ſeiner ſocialen Fähigkeiten. So viel ſcheint jedenfalls klar, daß die feinere Organiſation
unſeres Körpers, unſerer Nerven, unſeres ſeeliſchen Apparates eine leichtere Verſtändigung
der Menſchen als der Tiere untereinander herbeiführt. Die höhere Stellung des Menſchen
beruht darauf, daß er beſſere, reichere Verſtändigungsmittel für ſociales Zuſammenwirken
und damit ſtärkere Gemeingefühle, ein helleres Bewußtſein über Zwecke höherer und fern-
liegender Art, ihre Folgen, ihre gemeinſame Verfolgung ſich erwarb. Eine ſtarke Aus-
bildung der Mit- und Gleichgefühle ſtand an der Geburtsſtätte alles geſellſchaftlichen
Daſeins. Kein anderes Weſen ſteht ſo unter der anſteckenden Herrſchaft der Umgebung
von Seinesgleichen, kein anderes kann ſich ſchon durch Geſten ſo verſtändigen, Gefühle
und Vorſtellungen austauſchen. Wie der Menſch gähnt und lacht und tanzt, wenn
er gähnen, lachen und tanzen ſieht, wie die rauſchende Militärmuſik in hunderten von
Gaſſenjungen unwillkürlich Reflexbewegungen und Muskelgefühle erzeugt, die ſie fort-
reißt, im Takte mit zu marſchieren, ſo wirkt alles Menſchliche anſteckend. Wie der junge
Vogel ſingen lernt durch Nachahmung der alten, ſo und in noch viel höherem Grade
ahmt der Menſch nach; alle Erziehung der Kinder beſteht in unzähligen Anläufen und
Aufforderungen zur Nachahmung. Und ſo lange der Menſch friſch und bildungsfähig

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[9/0025] Siedlungs-, Wirtſchafts- und ſonſtige Gemeinſchaft. berührungen; Staat und Gemeinde fordern Steuern und Dienſte aller Art nach kompli- zierten Maßſtäben: es bildet ſich das unendlich verzweigte Syſtem wirtſchaftlicher Gemeinſchaft, das wir ſchon oben (S. 2—4) kurz zu ſchildern ſuchten, das in ſeinem Schoße aber ebenſo ſehr die Gegenſätze ſteigert, die Individualitäten entwickelt, die einzelnen durch die Luſt an der Herrſchaft, am Beſitz und am Mehrhaben in Gegenſatz bringt, als es immer wieder über die Gegenſätze hinweg durch größere gemeinſame Organiſationen und Schaffung ſtärkerer Gemeingefühle die Elemente wieder zuſammen- faßt. — Sind die Blutsbande, die Kriegs- und Friedensgemeinſchaft und die wirtſchaft- lichen Beziehungen die elementarſten und wichtigſten Veranlaſſungen zu geſellſchaftlicher Organiſation, ſo entſtehen mit der höheren Kultur daneben eine Reihe weiterer Zwecke, wie Gottesdienſt, Erziehung, Kunſt, Geſundheitspflege und Ähnliches, welche ſociale Beziehungen und Gemeinſchaften und damit neue Vorſtellungsreihen, Gefühle und Ziele des Handelns erzeugen. Es bilden ſich jene höheren Funktionen und Formen des geſellſchaftlichen Lebens, wie Sitte, Recht, Moral, Religion, deren Ent- wickelung zuerſt als Mittel für die älteren nächſtliegenden Zwecke, dann aber als Selbſt- zweck und beherrſchender Regulator alles Handelns erſcheint. Ihr eigenartiges Daſein ſchafft wieder neue geſellſchaftliche Beziehungen und Gemeinſchaften, auf die wir weiterhin zu kommen haben werden. Hier waren ſie nur zu erwähnen, um eine Vorſtellung davon zu erwecken, wie die geſellſchaftlichen Zuſammenhänge ſich anknüpfen an eine Reihe gemeinſam erſtrebter Zwecke und Ziele. Jeder dieſer Zwecke erzeugt eigenartige Zuſammenhänge, Gemein- ſchaften, Vorſtellungen und Gefühle; jeder muß aber dulden, daß die anderen neben ihm verfolgt werden. So entſteht ein Syſtem, eine Hierarchie von ſocialen Zwecken und Zielen, wobei die einen ſich teils als Mittel für die anderen, teils als Hindernis heraus- ſtellen; es muß alſo eine Neben- und Unterordnung der Zwecke, eine Ineinanderfügung und Anpaſſung, ein geordneter Zuſammenhang in den Gefühlen, Vorſtellungen und In- ſtitutionen ſich herſtellen. Hier liegt gleichſam das Geheimnis der ſocialen Organiſation, hier liegt der Punkt, von dem aus es zu verſtehen iſt, daß Familien-, Rechts-, Staats- und Wirtſchaftsverfaſſung ſich ſtets gegenſeitig bedingen, nie getrennt verſtanden werden können. Mit all’ dieſen Thatſachen und ihrem Zuſammenhang iſt aber noch keineswegs erklärt, wodurch die Menſchen in Stand geſetzt ſind, für alle möglichen Zwecke Ver- bindungen anzuknüpfen. Man hat darauf hingewieſen, daß auch die höheren Tiere herdenweiſe zu Verteidigungs- und Arbeitsgemeinſchaften zuſammentreten. Man hat geſagt, der Menſch ſei ein kräftigeres und klügeres Raubtier, aber auch ein mit viel ſtärkeren Gemütsimpulſen und Gemeinſchaftsgefühlen ausgeſtattetes Herdentier als die anderen Lebeweſen; darauf beruhe ſeine Herrſchaft über die ganze Natur und die Ausbildung ſeiner ſocialen Fähigkeiten. So viel ſcheint jedenfalls klar, daß die feinere Organiſation unſeres Körpers, unſerer Nerven, unſeres ſeeliſchen Apparates eine leichtere Verſtändigung der Menſchen als der Tiere untereinander herbeiführt. Die höhere Stellung des Menſchen beruht darauf, daß er beſſere, reichere Verſtändigungsmittel für ſociales Zuſammenwirken und damit ſtärkere Gemeingefühle, ein helleres Bewußtſein über Zwecke höherer und fern- liegender Art, ihre Folgen, ihre gemeinſame Verfolgung ſich erwarb. Eine ſtarke Aus- bildung der Mit- und Gleichgefühle ſtand an der Geburtsſtätte alles geſellſchaftlichen Daſeins. Kein anderes Weſen ſteht ſo unter der anſteckenden Herrſchaft der Umgebung von Seinesgleichen, kein anderes kann ſich ſchon durch Geſten ſo verſtändigen, Gefühle und Vorſtellungen austauſchen. Wie der Menſch gähnt und lacht und tanzt, wenn er gähnen, lachen und tanzen ſieht, wie die rauſchende Militärmuſik in hunderten von Gaſſenjungen unwillkürlich Reflexbewegungen und Muskelgefühle erzeugt, die ſie fort- reißt, im Takte mit zu marſchieren, ſo wirkt alles Menſchliche anſteckend. Wie der junge Vogel ſingen lernt durch Nachahmung der alten, ſo und in noch viel höherem Grade ahmt der Menſch nach; alle Erziehung der Kinder beſteht in unzähligen Anläufen und Aufforderungen zur Nachahmung. Und ſo lange der Menſch friſch und bildungsfähig

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Zitationshilfe: Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900, S. 9. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schmoller_grundriss01_1900/25>, abgerufen am 21.11.2024.