Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900.Siedlungs-, Wirtschafts- und sonstige Gemeinschaft. berührungen; Staat und Gemeinde fordern Steuern und Dienste aller Art nach kompli-zierten Maßstäben: es bildet sich das unendlich verzweigte System wirtschaftlicher Gemeinschaft, das wir schon oben (S. 2--4) kurz zu schildern suchten, das in seinem Schoße aber ebenso sehr die Gegensätze steigert, die Individualitäten entwickelt, die einzelnen durch die Lust an der Herrschaft, am Besitz und am Mehrhaben in Gegensatz bringt, als es immer wieder über die Gegensätze hinweg durch größere gemeinsame Organisationen und Schaffung stärkerer Gemeingefühle die Elemente wieder zusammen- faßt. -- Sind die Blutsbande, die Kriegs- und Friedensgemeinschaft und die wirtschaft- Hier waren sie nur zu erwähnen, um eine Vorstellung davon zu erwecken, wie Mit all' diesen Thatsachen und ihrem Zusammenhang ist aber noch keineswegs Siedlungs-, Wirtſchafts- und ſonſtige Gemeinſchaft. berührungen; Staat und Gemeinde fordern Steuern und Dienſte aller Art nach kompli-zierten Maßſtäben: es bildet ſich das unendlich verzweigte Syſtem wirtſchaftlicher Gemeinſchaft, das wir ſchon oben (S. 2—4) kurz zu ſchildern ſuchten, das in ſeinem Schoße aber ebenſo ſehr die Gegenſätze ſteigert, die Individualitäten entwickelt, die einzelnen durch die Luſt an der Herrſchaft, am Beſitz und am Mehrhaben in Gegenſatz bringt, als es immer wieder über die Gegenſätze hinweg durch größere gemeinſame Organiſationen und Schaffung ſtärkerer Gemeingefühle die Elemente wieder zuſammen- faßt. — Sind die Blutsbande, die Kriegs- und Friedensgemeinſchaft und die wirtſchaft- Hier waren ſie nur zu erwähnen, um eine Vorſtellung davon zu erwecken, wie Mit all’ dieſen Thatſachen und ihrem Zuſammenhang iſt aber noch keineswegs <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0025" n="9"/><fw place="top" type="header">Siedlungs-, Wirtſchafts- und ſonſtige Gemeinſchaft.</fw><lb/> berührungen; Staat und Gemeinde fordern Steuern und Dienſte aller Art nach kompli-<lb/> zierten Maßſtäben: es bildet ſich das unendlich verzweigte Syſtem wirtſchaftlicher<lb/> Gemeinſchaft, das wir ſchon oben (S. 2—4) kurz zu ſchildern ſuchten, das in ſeinem<lb/> Schoße aber ebenſo ſehr die Gegenſätze ſteigert, die Individualitäten entwickelt, die<lb/> einzelnen durch die Luſt an der Herrſchaft, am Beſitz und am Mehrhaben in Gegenſatz<lb/> bringt, als es immer wieder über die Gegenſätze hinweg durch größere gemeinſame<lb/> Organiſationen und Schaffung ſtärkerer Gemeingefühle die Elemente wieder zuſammen-<lb/> faßt. —</p><lb/> <p>Sind die Blutsbande, die Kriegs- und Friedensgemeinſchaft und die wirtſchaft-<lb/> lichen Beziehungen die elementarſten und wichtigſten Veranlaſſungen zu geſellſchaftlicher<lb/> Organiſation, ſo entſtehen mit der höheren Kultur daneben eine Reihe weiterer Zwecke,<lb/> wie <hi rendition="#g">Gottesdienſt, Erziehung, Kunſt, Geſundheitspflege</hi> und Ähnliches,<lb/> welche ſociale Beziehungen und Gemeinſchaften und damit neue Vorſtellungsreihen,<lb/> Gefühle und Ziele des Handelns erzeugen. Es bilden ſich jene höheren Funktionen und<lb/> Formen des geſellſchaftlichen Lebens, wie Sitte, Recht, Moral, Religion, deren Ent-<lb/> wickelung zuerſt als Mittel für die älteren nächſtliegenden Zwecke, dann aber als Selbſt-<lb/> zweck und beherrſchender Regulator alles Handelns erſcheint. Ihr eigenartiges Daſein<lb/> ſchafft wieder neue geſellſchaftliche Beziehungen und Gemeinſchaften, auf die wir weiterhin<lb/> zu kommen haben werden.</p><lb/> <p>Hier waren ſie nur zu erwähnen, um eine Vorſtellung davon zu erwecken, wie<lb/> die geſellſchaftlichen Zuſammenhänge ſich anknüpfen an eine Reihe gemeinſam erſtrebter<lb/> Zwecke und Ziele. Jeder dieſer Zwecke erzeugt eigenartige Zuſammenhänge, Gemein-<lb/> ſchaften, Vorſtellungen und Gefühle; jeder muß aber dulden, daß die anderen neben ihm<lb/> verfolgt werden. So entſteht ein Syſtem, eine Hierarchie von ſocialen Zwecken und<lb/> Zielen, wobei die einen ſich teils als Mittel für die anderen, teils als Hindernis heraus-<lb/> ſtellen; es muß alſo eine Neben- und Unterordnung der Zwecke, eine Ineinanderfügung<lb/> und Anpaſſung, ein geordneter Zuſammenhang in den Gefühlen, Vorſtellungen und In-<lb/> ſtitutionen ſich herſtellen. Hier liegt gleichſam das Geheimnis der ſocialen Organiſation,<lb/> hier liegt der Punkt, von dem aus es zu verſtehen iſt, daß Familien-, Rechts-, Staats-<lb/> und Wirtſchaftsverfaſſung ſich ſtets gegenſeitig bedingen, nie getrennt verſtanden werden<lb/> können.</p><lb/> <p>Mit all’ dieſen Thatſachen und ihrem Zuſammenhang iſt aber noch keineswegs<lb/> erklärt, wodurch die Menſchen in Stand geſetzt ſind, für alle möglichen Zwecke Ver-<lb/> bindungen anzuknüpfen. Man hat darauf hingewieſen, daß auch die höheren Tiere<lb/> herdenweiſe zu Verteidigungs- und Arbeitsgemeinſchaften zuſammentreten. Man hat<lb/> geſagt, der Menſch ſei ein kräftigeres und klügeres Raubtier, aber auch ein mit viel<lb/> ſtärkeren Gemütsimpulſen und Gemeinſchaftsgefühlen ausgeſtattetes Herdentier als die<lb/> anderen Lebeweſen; darauf beruhe ſeine Herrſchaft über die ganze Natur und die Ausbildung<lb/> ſeiner ſocialen Fähigkeiten. So viel ſcheint jedenfalls klar, daß die feinere Organiſation<lb/> unſeres Körpers, unſerer Nerven, unſeres ſeeliſchen Apparates eine leichtere Verſtändigung<lb/> der Menſchen als der Tiere untereinander herbeiführt. Die höhere Stellung des Menſchen<lb/> beruht darauf, daß er beſſere, reichere Verſtändigungsmittel für ſociales Zuſammenwirken<lb/> und damit ſtärkere Gemeingefühle, ein helleres Bewußtſein über Zwecke höherer und fern-<lb/> liegender Art, ihre Folgen, ihre gemeinſame Verfolgung ſich erwarb. Eine ſtarke Aus-<lb/> bildung der Mit- und Gleichgefühle ſtand an der Geburtsſtätte alles geſellſchaftlichen<lb/> Daſeins. Kein anderes Weſen ſteht ſo unter der anſteckenden Herrſchaft der Umgebung<lb/> von Seinesgleichen, kein anderes kann ſich ſchon durch Geſten ſo verſtändigen, Gefühle<lb/> und Vorſtellungen austauſchen. Wie der Menſch gähnt und lacht und tanzt, wenn<lb/> er gähnen, lachen und tanzen ſieht, wie die rauſchende Militärmuſik in hunderten von<lb/> Gaſſenjungen unwillkürlich Reflexbewegungen und Muskelgefühle erzeugt, die ſie fort-<lb/> reißt, im Takte mit zu marſchieren, ſo wirkt alles Menſchliche anſteckend. Wie der junge<lb/> Vogel ſingen lernt durch Nachahmung der alten, ſo und in noch viel höherem Grade<lb/> ahmt der Menſch nach; alle Erziehung der Kinder beſteht in unzähligen Anläufen und<lb/> Aufforderungen zur Nachahmung. Und ſo lange der Menſch friſch und bildungsfähig<lb/></p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [9/0025]
Siedlungs-, Wirtſchafts- und ſonſtige Gemeinſchaft.
berührungen; Staat und Gemeinde fordern Steuern und Dienſte aller Art nach kompli-
zierten Maßſtäben: es bildet ſich das unendlich verzweigte Syſtem wirtſchaftlicher
Gemeinſchaft, das wir ſchon oben (S. 2—4) kurz zu ſchildern ſuchten, das in ſeinem
Schoße aber ebenſo ſehr die Gegenſätze ſteigert, die Individualitäten entwickelt, die
einzelnen durch die Luſt an der Herrſchaft, am Beſitz und am Mehrhaben in Gegenſatz
bringt, als es immer wieder über die Gegenſätze hinweg durch größere gemeinſame
Organiſationen und Schaffung ſtärkerer Gemeingefühle die Elemente wieder zuſammen-
faßt. —
Sind die Blutsbande, die Kriegs- und Friedensgemeinſchaft und die wirtſchaft-
lichen Beziehungen die elementarſten und wichtigſten Veranlaſſungen zu geſellſchaftlicher
Organiſation, ſo entſtehen mit der höheren Kultur daneben eine Reihe weiterer Zwecke,
wie Gottesdienſt, Erziehung, Kunſt, Geſundheitspflege und Ähnliches,
welche ſociale Beziehungen und Gemeinſchaften und damit neue Vorſtellungsreihen,
Gefühle und Ziele des Handelns erzeugen. Es bilden ſich jene höheren Funktionen und
Formen des geſellſchaftlichen Lebens, wie Sitte, Recht, Moral, Religion, deren Ent-
wickelung zuerſt als Mittel für die älteren nächſtliegenden Zwecke, dann aber als Selbſt-
zweck und beherrſchender Regulator alles Handelns erſcheint. Ihr eigenartiges Daſein
ſchafft wieder neue geſellſchaftliche Beziehungen und Gemeinſchaften, auf die wir weiterhin
zu kommen haben werden.
Hier waren ſie nur zu erwähnen, um eine Vorſtellung davon zu erwecken, wie
die geſellſchaftlichen Zuſammenhänge ſich anknüpfen an eine Reihe gemeinſam erſtrebter
Zwecke und Ziele. Jeder dieſer Zwecke erzeugt eigenartige Zuſammenhänge, Gemein-
ſchaften, Vorſtellungen und Gefühle; jeder muß aber dulden, daß die anderen neben ihm
verfolgt werden. So entſteht ein Syſtem, eine Hierarchie von ſocialen Zwecken und
Zielen, wobei die einen ſich teils als Mittel für die anderen, teils als Hindernis heraus-
ſtellen; es muß alſo eine Neben- und Unterordnung der Zwecke, eine Ineinanderfügung
und Anpaſſung, ein geordneter Zuſammenhang in den Gefühlen, Vorſtellungen und In-
ſtitutionen ſich herſtellen. Hier liegt gleichſam das Geheimnis der ſocialen Organiſation,
hier liegt der Punkt, von dem aus es zu verſtehen iſt, daß Familien-, Rechts-, Staats-
und Wirtſchaftsverfaſſung ſich ſtets gegenſeitig bedingen, nie getrennt verſtanden werden
können.
Mit all’ dieſen Thatſachen und ihrem Zuſammenhang iſt aber noch keineswegs
erklärt, wodurch die Menſchen in Stand geſetzt ſind, für alle möglichen Zwecke Ver-
bindungen anzuknüpfen. Man hat darauf hingewieſen, daß auch die höheren Tiere
herdenweiſe zu Verteidigungs- und Arbeitsgemeinſchaften zuſammentreten. Man hat
geſagt, der Menſch ſei ein kräftigeres und klügeres Raubtier, aber auch ein mit viel
ſtärkeren Gemütsimpulſen und Gemeinſchaftsgefühlen ausgeſtattetes Herdentier als die
anderen Lebeweſen; darauf beruhe ſeine Herrſchaft über die ganze Natur und die Ausbildung
ſeiner ſocialen Fähigkeiten. So viel ſcheint jedenfalls klar, daß die feinere Organiſation
unſeres Körpers, unſerer Nerven, unſeres ſeeliſchen Apparates eine leichtere Verſtändigung
der Menſchen als der Tiere untereinander herbeiführt. Die höhere Stellung des Menſchen
beruht darauf, daß er beſſere, reichere Verſtändigungsmittel für ſociales Zuſammenwirken
und damit ſtärkere Gemeingefühle, ein helleres Bewußtſein über Zwecke höherer und fern-
liegender Art, ihre Folgen, ihre gemeinſame Verfolgung ſich erwarb. Eine ſtarke Aus-
bildung der Mit- und Gleichgefühle ſtand an der Geburtsſtätte alles geſellſchaftlichen
Daſeins. Kein anderes Weſen ſteht ſo unter der anſteckenden Herrſchaft der Umgebung
von Seinesgleichen, kein anderes kann ſich ſchon durch Geſten ſo verſtändigen, Gefühle
und Vorſtellungen austauſchen. Wie der Menſch gähnt und lacht und tanzt, wenn
er gähnen, lachen und tanzen ſieht, wie die rauſchende Militärmuſik in hunderten von
Gaſſenjungen unwillkürlich Reflexbewegungen und Muskelgefühle erzeugt, die ſie fort-
reißt, im Takte mit zu marſchieren, ſo wirkt alles Menſchliche anſteckend. Wie der junge
Vogel ſingen lernt durch Nachahmung der alten, ſo und in noch viel höherem Grade
ahmt der Menſch nach; alle Erziehung der Kinder beſteht in unzähligen Anläufen und
Aufforderungen zur Nachahmung. Und ſo lange der Menſch friſch und bildungsfähig
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