Zweites Buch. Die gesellschaftliche Verfassung der Volkswirtschaft.
Und Ähnliches in verstärktem Maße trat in den Städten mit der vordringenden Geldwirtschaft ein. Der Händler und der Handwerker, der Priester, der Arzt und der Tagelöhner, sie alle begannen einen selbständigen Geldverdienst außer dem Hause zu erwerben; damit konnte ergänzt werden, was die Familie etwa noch nicht auf ihrem Ackerstücke und in ihrem Hause schuf; und bald konnten von solchem Geldeinkommen zuerst einzelne Familien, dann viele ausschließlich leben, auch wenn sie kein Haus, keine Hufe mehr eigen besaßen, nicht ihre Lebensmittel, Kleider, Geräte, Wohnungen mehr selbst schufen. Freilich ist dieser Prozeß im Altertum sehr langsam vorangeschritten; nur die unteren Klassen in den Städten hatten die eigene Produktion ganz aufgegeben; die höheren Klassen, selbst der Mittelstand, wollten nicht darauf verzichten, selbst das Brot und das Wollgewebe, sowie vieles andere in der eigenen Wirtschaft zu erzeugen. Und ähnlich war die Entwickelung vom Mittelalter bis ins 18. und 19. Jahrhundert. Manche Patricier und Kaufleute der deutschen Städte trieben noch in Goethes Jugend- zeit Acker- und Viehwirtschaft; in Italien suchen noch heute die städtischen Honoratioren sich ihr Getreide und Gemüse, ihre Trauben und Oliven mit Hülfe der auf dem Lande ihren Besitz verwaltenden Halbpächter zu ziehen, während die städtischen Handwerker und Tagelöhner, die Beamten und Lehrer auch dort darauf meist verzichtet haben, und heute in Nordeuropa der Städter fast jede Eigenproduktion von Lebensmitteln, meist auch von Geweben aufgegeben hat. Der Bauer und Gutsbesitzer freilich lebt vielfach noch zur Hälfte oder zu zwei Drittel von seinen eigenen Produkten; seine Familien- wirtschaft ist daher auch noch halb eine patriarchalische; und auch der Handwerker und der Tagelöhner, der Beamte und der Fabrikarbeiter auf dem Lande baut sich mit Recht noch seine Kartoffeln, füttert Hühner und Schweine und erleichtert sich so seine wirt- schaftliche Existenz, füllt so unbeschäftigte Stunden aus. Aber auch auf dem Lande nimmt das ab: in den deutschen Berufszählungen von 1882 und 1895 sinken die ländlichen Tagelöhner, die einen eigenen oder gepachteten Landwirtschaftsbetrieb haben, von 866493 auf 382872.
Die wichtigste Folge der ganzen, immerhin heute für einen großen Teil der Be- völkerung vollzogenen Scheidung liegt darin, daß damit zwei ganz gesonderte und doch innig miteinander verbundene, aufeinander angewiesene Systeme der socialen und wirt- schaftlichen Organisation entstanden sind: das wirtschaftliche Familienleben einerseits, die Welt der Gütererzeugung, des Verkehrs, des öffentlichen Dienstes und was sonst noch dazu gehört andererseits. Dem ersteren Systeme gehören so ziemlich alle Einwohner eines Landes an: von 28,3 Mill. Preußen lebten 1. Dezember 1885 27,4 in Familien- haushaltungen, nur 0,37 in Einzel- und 0,54 in Anstaltshaushaltungen (d. h. Kasernen, Kranken- und Armenhäusern, Erziehungsanstalten, Hotels); von der am 14. Juni 1895 gezählten deutschen Bevölkerung waren 22,9 Mill. Personen im Hauptberufe erwerbs- thätig, d. h. übten einen erwerbenden Beruf aus; neben ihnen zählte man 1,3 Mill. häusliche Dienstboten und 27,5 Mill. Familienangehörige, die nicht erwerben, wirt- schaftlich nicht oder nur in der Familie thätig sind; die Erwerbsthätigen gehören ihr, soweit nicht Familienwirtschaft und Erwerb, wie beim Landwirt noch vielfach, zusammen- fallen, nur gleichsam mit ihrer halben Existenz, mit der Zeit, da sie nicht dem Erwerbe nachgehen, an. Aber auch sie müssen so wohnen, ihre Zeit muß so eingeteilt sein, ihr Verdienst muß so beschaffen sein, daß sie ihrer Stellung als Familienhäupter und Familienglieder ebenso genügen können, wie ihrer Funktion in irgend einer Unternehmung oder Arbeitsstellung. Die beiden Systeme der socialen Organisation gewinnen ihr eigenes Leben, verfolgen ihre speciellen Zwecke und müssen das thun. Von verschiedenen Prin- cipien regiert, können sie in Kollision kommen, sich gegenseitig schädigen und hindern. Die neue Sitte und das neue Recht für beide ist nicht leicht zu finden. Die Familien- wirtschaft existiert jetzt gleichsam nur als Hülfsorgan, häufig als schwächeres neben den neuen, stärkeren, größeren Gebilden der Volkswirtschaft. Sie kann und muß in loserer Form als früher ihre Rolle spielen, muß ihren Gliedern alle mögliche Freiheit geben. Sie ist teilweise sogar mit vollständiger Auflösung bedroht, wo die anderen Organe die Kinder und die Erwachsenen ganz mit Beschlag belegen, alle Zeit und alle Kraft für sich
Zweites Buch. Die geſellſchaftliche Verfaſſung der Volkswirtſchaft.
Und Ähnliches in verſtärktem Maße trat in den Städten mit der vordringenden Geldwirtſchaft ein. Der Händler und der Handwerker, der Prieſter, der Arzt und der Tagelöhner, ſie alle begannen einen ſelbſtändigen Geldverdienſt außer dem Hauſe zu erwerben; damit konnte ergänzt werden, was die Familie etwa noch nicht auf ihrem Ackerſtücke und in ihrem Hauſe ſchuf; und bald konnten von ſolchem Geldeinkommen zuerſt einzelne Familien, dann viele ausſchließlich leben, auch wenn ſie kein Haus, keine Hufe mehr eigen beſaßen, nicht ihre Lebensmittel, Kleider, Geräte, Wohnungen mehr ſelbſt ſchufen. Freilich iſt dieſer Prozeß im Altertum ſehr langſam vorangeſchritten; nur die unteren Klaſſen in den Städten hatten die eigene Produktion ganz aufgegeben; die höheren Klaſſen, ſelbſt der Mittelſtand, wollten nicht darauf verzichten, ſelbſt das Brot und das Wollgewebe, ſowie vieles andere in der eigenen Wirtſchaft zu erzeugen. Und ähnlich war die Entwickelung vom Mittelalter bis ins 18. und 19. Jahrhundert. Manche Patricier und Kaufleute der deutſchen Städte trieben noch in Goethes Jugend- zeit Acker- und Viehwirtſchaft; in Italien ſuchen noch heute die ſtädtiſchen Honoratioren ſich ihr Getreide und Gemüſe, ihre Trauben und Oliven mit Hülfe der auf dem Lande ihren Beſitz verwaltenden Halbpächter zu ziehen, während die ſtädtiſchen Handwerker und Tagelöhner, die Beamten und Lehrer auch dort darauf meiſt verzichtet haben, und heute in Nordeuropa der Städter faſt jede Eigenproduktion von Lebensmitteln, meiſt auch von Geweben aufgegeben hat. Der Bauer und Gutsbeſitzer freilich lebt vielfach noch zur Hälfte oder zu zwei Drittel von ſeinen eigenen Produkten; ſeine Familien- wirtſchaft iſt daher auch noch halb eine patriarchaliſche; und auch der Handwerker und der Tagelöhner, der Beamte und der Fabrikarbeiter auf dem Lande baut ſich mit Recht noch ſeine Kartoffeln, füttert Hühner und Schweine und erleichtert ſich ſo ſeine wirt- ſchaftliche Exiſtenz, füllt ſo unbeſchäftigte Stunden aus. Aber auch auf dem Lande nimmt das ab: in den deutſchen Berufszählungen von 1882 und 1895 ſinken die ländlichen Tagelöhner, die einen eigenen oder gepachteten Landwirtſchaftsbetrieb haben, von 866493 auf 382872.
Die wichtigſte Folge der ganzen, immerhin heute für einen großen Teil der Be- völkerung vollzogenen Scheidung liegt darin, daß damit zwei ganz geſonderte und doch innig miteinander verbundene, aufeinander angewieſene Syſteme der ſocialen und wirt- ſchaftlichen Organiſation entſtanden ſind: das wirtſchaftliche Familienleben einerſeits, die Welt der Gütererzeugung, des Verkehrs, des öffentlichen Dienſtes und was ſonſt noch dazu gehört andererſeits. Dem erſteren Syſteme gehören ſo ziemlich alle Einwohner eines Landes an: von 28,3 Mill. Preußen lebten 1. Dezember 1885 27,4 in Familien- haushaltungen, nur 0,37 in Einzel- und 0,54 in Anſtaltshaushaltungen (d. h. Kaſernen, Kranken- und Armenhäuſern, Erziehungsanſtalten, Hotels); von der am 14. Juni 1895 gezählten deutſchen Bevölkerung waren 22,9 Mill. Perſonen im Hauptberufe erwerbs- thätig, d. h. übten einen erwerbenden Beruf aus; neben ihnen zählte man 1,3 Mill. häusliche Dienſtboten und 27,5 Mill. Familienangehörige, die nicht erwerben, wirt- ſchaftlich nicht oder nur in der Familie thätig ſind; die Erwerbsthätigen gehören ihr, ſoweit nicht Familienwirtſchaft und Erwerb, wie beim Landwirt noch vielfach, zuſammen- fallen, nur gleichſam mit ihrer halben Exiſtenz, mit der Zeit, da ſie nicht dem Erwerbe nachgehen, an. Aber auch ſie müſſen ſo wohnen, ihre Zeit muß ſo eingeteilt ſein, ihr Verdienſt muß ſo beſchaffen ſein, daß ſie ihrer Stellung als Familienhäupter und Familienglieder ebenſo genügen können, wie ihrer Funktion in irgend einer Unternehmung oder Arbeitsſtellung. Die beiden Syſteme der ſocialen Organiſation gewinnen ihr eigenes Leben, verfolgen ihre ſpeciellen Zwecke und müſſen das thun. Von verſchiedenen Prin- cipien regiert, können ſie in Kolliſion kommen, ſich gegenſeitig ſchädigen und hindern. Die neue Sitte und das neue Recht für beide iſt nicht leicht zu finden. Die Familien- wirtſchaft exiſtiert jetzt gleichſam nur als Hülfsorgan, häufig als ſchwächeres neben den neuen, ſtärkeren, größeren Gebilden der Volkswirtſchaft. Sie kann und muß in loſerer Form als früher ihre Rolle ſpielen, muß ihren Gliedern alle mögliche Freiheit geben. Sie iſt teilweiſe ſogar mit vollſtändiger Auflöſung bedroht, wo die anderen Organe die Kinder und die Erwachſenen ganz mit Beſchlag belegen, alle Zeit und alle Kraft für ſich
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><pbfacs="#f0262"n="246"/><fwplace="top"type="header">Zweites Buch. Die geſellſchaftliche Verfaſſung der Volkswirtſchaft.</fw><lb/><p>Und Ähnliches in verſtärktem Maße trat in den Städten mit der vordringenden<lb/>
Geldwirtſchaft ein. Der Händler und der Handwerker, der Prieſter, der Arzt und der<lb/>
Tagelöhner, ſie alle begannen einen ſelbſtändigen Geldverdienſt außer dem Hauſe zu<lb/>
erwerben; damit konnte ergänzt werden, was die Familie etwa noch nicht auf ihrem<lb/>
Ackerſtücke und in ihrem Hauſe ſchuf; und bald konnten von ſolchem Geldeinkommen zuerſt<lb/>
einzelne Familien, dann viele ausſchließlich leben, auch wenn ſie kein Haus, keine Hufe<lb/>
mehr eigen beſaßen, nicht ihre Lebensmittel, Kleider, Geräte, Wohnungen mehr ſelbſt<lb/>ſchufen. Freilich iſt dieſer Prozeß im Altertum ſehr langſam vorangeſchritten; nur die<lb/>
unteren Klaſſen in den Städten hatten die eigene Produktion ganz aufgegeben; die<lb/>
höheren Klaſſen, ſelbſt der Mittelſtand, wollten nicht darauf verzichten, ſelbſt das Brot<lb/>
und das Wollgewebe, ſowie vieles andere in der eigenen Wirtſchaft zu erzeugen. Und<lb/>
ähnlich war die Entwickelung vom Mittelalter bis ins 18. und 19. Jahrhundert.<lb/>
Manche Patricier und Kaufleute der deutſchen Städte trieben noch in Goethes Jugend-<lb/>
zeit Acker- und Viehwirtſchaft; in Italien ſuchen noch heute die ſtädtiſchen Honoratioren<lb/>ſich ihr Getreide und Gemüſe, ihre Trauben und Oliven mit Hülfe der auf dem Lande<lb/>
ihren Beſitz verwaltenden Halbpächter zu ziehen, während die ſtädtiſchen Handwerker<lb/>
und Tagelöhner, die Beamten und Lehrer auch dort darauf meiſt verzichtet haben, und<lb/>
heute in Nordeuropa der Städter faſt jede Eigenproduktion von Lebensmitteln, meiſt<lb/>
auch von Geweben aufgegeben hat. Der Bauer und Gutsbeſitzer freilich lebt vielfach<lb/>
noch zur Hälfte oder zu zwei Drittel von ſeinen eigenen Produkten; ſeine Familien-<lb/>
wirtſchaft iſt daher auch noch halb eine patriarchaliſche; und auch der Handwerker und<lb/>
der Tagelöhner, der Beamte und der Fabrikarbeiter auf dem Lande baut ſich mit Recht<lb/>
noch ſeine Kartoffeln, füttert Hühner und Schweine und erleichtert ſich ſo ſeine wirt-<lb/>ſchaftliche Exiſtenz, füllt ſo unbeſchäftigte Stunden aus. Aber auch auf dem Lande<lb/>
nimmt das ab: in den deutſchen Berufszählungen von 1882 und 1895 ſinken die<lb/>
ländlichen Tagelöhner, die einen eigenen oder gepachteten Landwirtſchaftsbetrieb haben,<lb/>
von 866493 auf 382872.</p><lb/><p>Die wichtigſte Folge der ganzen, immerhin heute für einen großen Teil der Be-<lb/>
völkerung vollzogenen Scheidung liegt darin, daß damit zwei ganz geſonderte und doch<lb/>
innig miteinander verbundene, aufeinander angewieſene Syſteme der ſocialen und wirt-<lb/>ſchaftlichen Organiſation entſtanden ſind: das wirtſchaftliche Familienleben einerſeits,<lb/>
die Welt der Gütererzeugung, des Verkehrs, des öffentlichen Dienſtes und was ſonſt<lb/>
noch dazu gehört andererſeits. Dem erſteren Syſteme gehören ſo ziemlich alle Einwohner<lb/>
eines Landes an: von 28,3 Mill. Preußen lebten 1. Dezember 1885 27,4 in Familien-<lb/>
haushaltungen, nur 0,37 in Einzel- und 0,54 in Anſtaltshaushaltungen (d. h. Kaſernen,<lb/>
Kranken- und Armenhäuſern, Erziehungsanſtalten, Hotels); von der am 14. Juni 1895<lb/>
gezählten deutſchen Bevölkerung waren 22,9 Mill. Perſonen im Hauptberufe erwerbs-<lb/>
thätig, d. h. übten einen erwerbenden Beruf aus; neben ihnen zählte man 1,3 Mill.<lb/>
häusliche Dienſtboten und 27,5 Mill. Familienangehörige, die nicht erwerben, wirt-<lb/>ſchaftlich nicht oder nur in der Familie thätig ſind; die Erwerbsthätigen gehören ihr,<lb/>ſoweit nicht Familienwirtſchaft und Erwerb, wie beim Landwirt noch vielfach, zuſammen-<lb/>
fallen, nur gleichſam mit ihrer halben Exiſtenz, mit der Zeit, da ſie nicht dem Erwerbe<lb/>
nachgehen, an. Aber auch ſie müſſen ſo wohnen, ihre Zeit muß ſo eingeteilt ſein, ihr<lb/>
Verdienſt muß ſo beſchaffen ſein, daß ſie ihrer Stellung als Familienhäupter und<lb/>
Familienglieder ebenſo genügen können, wie ihrer Funktion in irgend einer Unternehmung<lb/>
oder Arbeitsſtellung. Die beiden Syſteme der ſocialen Organiſation gewinnen ihr eigenes<lb/>
Leben, verfolgen ihre ſpeciellen Zwecke und müſſen das thun. Von verſchiedenen Prin-<lb/>
cipien regiert, können ſie in Kolliſion kommen, ſich gegenſeitig ſchädigen und hindern.<lb/>
Die neue Sitte und das neue Recht für beide iſt nicht leicht zu finden. Die Familien-<lb/>
wirtſchaft exiſtiert jetzt gleichſam nur als Hülfsorgan, häufig als ſchwächeres neben den<lb/>
neuen, ſtärkeren, größeren Gebilden der Volkswirtſchaft. Sie kann und muß in loſerer<lb/>
Form als früher ihre Rolle ſpielen, muß ihren Gliedern alle mögliche Freiheit geben.<lb/>
Sie iſt teilweiſe ſogar mit vollſtändiger Auflöſung bedroht, wo die anderen Organe die<lb/>
Kinder und die Erwachſenen ganz mit Beſchlag belegen, alle Zeit und alle Kraft für ſich<lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[246/0262]
Zweites Buch. Die geſellſchaftliche Verfaſſung der Volkswirtſchaft.
Und Ähnliches in verſtärktem Maße trat in den Städten mit der vordringenden
Geldwirtſchaft ein. Der Händler und der Handwerker, der Prieſter, der Arzt und der
Tagelöhner, ſie alle begannen einen ſelbſtändigen Geldverdienſt außer dem Hauſe zu
erwerben; damit konnte ergänzt werden, was die Familie etwa noch nicht auf ihrem
Ackerſtücke und in ihrem Hauſe ſchuf; und bald konnten von ſolchem Geldeinkommen zuerſt
einzelne Familien, dann viele ausſchließlich leben, auch wenn ſie kein Haus, keine Hufe
mehr eigen beſaßen, nicht ihre Lebensmittel, Kleider, Geräte, Wohnungen mehr ſelbſt
ſchufen. Freilich iſt dieſer Prozeß im Altertum ſehr langſam vorangeſchritten; nur die
unteren Klaſſen in den Städten hatten die eigene Produktion ganz aufgegeben; die
höheren Klaſſen, ſelbſt der Mittelſtand, wollten nicht darauf verzichten, ſelbſt das Brot
und das Wollgewebe, ſowie vieles andere in der eigenen Wirtſchaft zu erzeugen. Und
ähnlich war die Entwickelung vom Mittelalter bis ins 18. und 19. Jahrhundert.
Manche Patricier und Kaufleute der deutſchen Städte trieben noch in Goethes Jugend-
zeit Acker- und Viehwirtſchaft; in Italien ſuchen noch heute die ſtädtiſchen Honoratioren
ſich ihr Getreide und Gemüſe, ihre Trauben und Oliven mit Hülfe der auf dem Lande
ihren Beſitz verwaltenden Halbpächter zu ziehen, während die ſtädtiſchen Handwerker
und Tagelöhner, die Beamten und Lehrer auch dort darauf meiſt verzichtet haben, und
heute in Nordeuropa der Städter faſt jede Eigenproduktion von Lebensmitteln, meiſt
auch von Geweben aufgegeben hat. Der Bauer und Gutsbeſitzer freilich lebt vielfach
noch zur Hälfte oder zu zwei Drittel von ſeinen eigenen Produkten; ſeine Familien-
wirtſchaft iſt daher auch noch halb eine patriarchaliſche; und auch der Handwerker und
der Tagelöhner, der Beamte und der Fabrikarbeiter auf dem Lande baut ſich mit Recht
noch ſeine Kartoffeln, füttert Hühner und Schweine und erleichtert ſich ſo ſeine wirt-
ſchaftliche Exiſtenz, füllt ſo unbeſchäftigte Stunden aus. Aber auch auf dem Lande
nimmt das ab: in den deutſchen Berufszählungen von 1882 und 1895 ſinken die
ländlichen Tagelöhner, die einen eigenen oder gepachteten Landwirtſchaftsbetrieb haben,
von 866493 auf 382872.
Die wichtigſte Folge der ganzen, immerhin heute für einen großen Teil der Be-
völkerung vollzogenen Scheidung liegt darin, daß damit zwei ganz geſonderte und doch
innig miteinander verbundene, aufeinander angewieſene Syſteme der ſocialen und wirt-
ſchaftlichen Organiſation entſtanden ſind: das wirtſchaftliche Familienleben einerſeits,
die Welt der Gütererzeugung, des Verkehrs, des öffentlichen Dienſtes und was ſonſt
noch dazu gehört andererſeits. Dem erſteren Syſteme gehören ſo ziemlich alle Einwohner
eines Landes an: von 28,3 Mill. Preußen lebten 1. Dezember 1885 27,4 in Familien-
haushaltungen, nur 0,37 in Einzel- und 0,54 in Anſtaltshaushaltungen (d. h. Kaſernen,
Kranken- und Armenhäuſern, Erziehungsanſtalten, Hotels); von der am 14. Juni 1895
gezählten deutſchen Bevölkerung waren 22,9 Mill. Perſonen im Hauptberufe erwerbs-
thätig, d. h. übten einen erwerbenden Beruf aus; neben ihnen zählte man 1,3 Mill.
häusliche Dienſtboten und 27,5 Mill. Familienangehörige, die nicht erwerben, wirt-
ſchaftlich nicht oder nur in der Familie thätig ſind; die Erwerbsthätigen gehören ihr,
ſoweit nicht Familienwirtſchaft und Erwerb, wie beim Landwirt noch vielfach, zuſammen-
fallen, nur gleichſam mit ihrer halben Exiſtenz, mit der Zeit, da ſie nicht dem Erwerbe
nachgehen, an. Aber auch ſie müſſen ſo wohnen, ihre Zeit muß ſo eingeteilt ſein, ihr
Verdienſt muß ſo beſchaffen ſein, daß ſie ihrer Stellung als Familienhäupter und
Familienglieder ebenſo genügen können, wie ihrer Funktion in irgend einer Unternehmung
oder Arbeitsſtellung. Die beiden Syſteme der ſocialen Organiſation gewinnen ihr eigenes
Leben, verfolgen ihre ſpeciellen Zwecke und müſſen das thun. Von verſchiedenen Prin-
cipien regiert, können ſie in Kolliſion kommen, ſich gegenſeitig ſchädigen und hindern.
Die neue Sitte und das neue Recht für beide iſt nicht leicht zu finden. Die Familien-
wirtſchaft exiſtiert jetzt gleichſam nur als Hülfsorgan, häufig als ſchwächeres neben den
neuen, ſtärkeren, größeren Gebilden der Volkswirtſchaft. Sie kann und muß in loſerer
Form als früher ihre Rolle ſpielen, muß ihren Gliedern alle mögliche Freiheit geben.
Sie iſt teilweiſe ſogar mit vollſtändiger Auflöſung bedroht, wo die anderen Organe die
Kinder und die Erwachſenen ganz mit Beſchlag belegen, alle Zeit und alle Kraft für ſich
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900, S. 246. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schmoller_grundriss01_1900/262>, abgerufen am 21.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.