Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900.Zweites Buch. Die gesellschaftliche Verfassung der Volkswirtschaft. auf seine Studien über die Slaven und Finnen; auch eine kritische Würdigung ist hiernicht am Platze. Wir können nur sagen: die Hypothese hat viele Anhänger, aber auch erheblichen Widerspruch gefunden; sie erklärt geographische Verschiedenheiten, für die bisher kein rechter Schlüssel da war; sie trägt der Stammes- und Volkseigentümlichkeit Rechnung, welche man bisher nicht sehr berücksichtigte. Aber sie überspannt vielleicht die Bedeutung der verschiedenen Gemütsanlage und Rechtsanschauung der Kelten und Germanen, negiert wohl zu sehr den Einfluß der Bodenbeschaffenheit, der Bodengüte und Ähnlichem. Sie führt überwiegend auf aristokratische und demokratische Gliederung der Kelten und Germanen die verschiedene Siedlung zurück, wobei Zweifel und Fragen aller Art offen bleiben. Wir selbst können nach unseren obigen Ausführungen uns Kelten und Germanen nicht vorher als reine Nomaden denken; ebensowenig ist es uns leicht glaublich, daß die Kelten so früh und allgemein ein Hofsystem sollten ausgebildet haben, das doch sonst überwiegend ein Produkt höherer landwirtschaftlicher Kultur oder natür- licher Nötigung ist. Die Zweifel, welche Henning und Knapp ausgesprochen haben, wird Meitzen wohl selbst erneuter Prüfung unterziehen. Am meisten begründet erscheint der Einwurf, daß der keltische wie der germanische Übergang von der Nomadenwirtschaft zum Hof- und zum Dorfsystem bei Meitzen zu sehr als eine einmalige rationalistisch ersonnene Maßregel erscheint, während es sich doch wohl um einen Umbildungsprozeß von vielen Jahrhunderten handelt. Müssen wir so die Darlegung der Siedlungstheorien mit einem "non liquet" Das Zusammenleben im Dorfe ist in dem Maße für die meisten menschlichen All' diesen Gründen steht nun freilich die größere wirtschaftliche Zweckmäßigkeit Zweites Buch. Die geſellſchaftliche Verfaſſung der Volkswirtſchaft. auf ſeine Studien über die Slaven und Finnen; auch eine kritiſche Würdigung iſt hiernicht am Platze. Wir können nur ſagen: die Hypotheſe hat viele Anhänger, aber auch erheblichen Widerſpruch gefunden; ſie erklärt geographiſche Verſchiedenheiten, für die bisher kein rechter Schlüſſel da war; ſie trägt der Stammes- und Volkseigentümlichkeit Rechnung, welche man bisher nicht ſehr berückſichtigte. Aber ſie überſpannt vielleicht die Bedeutung der verſchiedenen Gemütsanlage und Rechtsanſchauung der Kelten und Germanen, negiert wohl zu ſehr den Einfluß der Bodenbeſchaffenheit, der Bodengüte und Ähnlichem. Sie führt überwiegend auf ariſtokratiſche und demokratiſche Gliederung der Kelten und Germanen die verſchiedene Siedlung zurück, wobei Zweifel und Fragen aller Art offen bleiben. Wir ſelbſt können nach unſeren obigen Ausführungen uns Kelten und Germanen nicht vorher als reine Nomaden denken; ebenſowenig iſt es uns leicht glaublich, daß die Kelten ſo früh und allgemein ein Hofſyſtem ſollten ausgebildet haben, das doch ſonſt überwiegend ein Produkt höherer landwirtſchaftlicher Kultur oder natür- licher Nötigung iſt. Die Zweifel, welche Henning und Knapp ausgeſprochen haben, wird Meitzen wohl ſelbſt erneuter Prüfung unterziehen. Am meiſten begründet erſcheint der Einwurf, daß der keltiſche wie der germaniſche Übergang von der Nomadenwirtſchaft zum Hof- und zum Dorfſyſtem bei Meitzen zu ſehr als eine einmalige rationaliſtiſch erſonnene Maßregel erſcheint, während es ſich doch wohl um einen Umbildungsprozeß von vielen Jahrhunderten handelt. Müſſen wir ſo die Darlegung der Siedlungstheorien mit einem „non liquet“ Das Zuſammenleben im Dorfe iſt in dem Maße für die meiſten menſchlichen All’ dieſen Gründen ſteht nun freilich die größere wirtſchaftliche Zweckmäßigkeit <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0278" n="262"/><fw place="top" type="header">Zweites Buch. Die geſellſchaftliche Verfaſſung der Volkswirtſchaft.</fw><lb/> auf ſeine Studien über die Slaven und Finnen; auch eine kritiſche Würdigung iſt hier<lb/> nicht am Platze. Wir können nur ſagen: die Hypotheſe hat viele Anhänger, aber auch<lb/> erheblichen Widerſpruch gefunden; ſie erklärt geographiſche Verſchiedenheiten, für die<lb/> bisher kein rechter Schlüſſel da war; ſie trägt der Stammes- und Volkseigentümlichkeit<lb/> Rechnung, welche man bisher nicht ſehr berückſichtigte. 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Jahrhundert zunächſt noch ein gewiſſer Schleier ruht, — ſo viel<lb/> ſcheint mir doch wahrſcheinlich, daß kleine Dörfer wohl das älteſte waren, daß dann<lb/> vielfach Hofbildungen entſtanden, vor allem durch Könige, Große, Klöſter und ihre Leute,<lb/> daß dann mit der Zeit der Grundherrſchaft, der Städtebildung, der höheren allgemeinen<lb/> Kultur die Dörfer ſich erheblich vergrößerten, die Höfe teilweiſe wieder verſchwanden,<lb/> und daß die eigentlich intenſive Ausbildung des Hofſyſtems erſt den letzten Jahr-<lb/> hunderten angehöre. Keußler hat auch für Rußland nachgewieſen, daß bis ins 16. Jahr-<lb/> hundert ganz kleine Dörfer und Höfe neben einander vorkommen, dann erſt ſich etwas<lb/> größere Dörfer bildeten.</p><lb/> <p>Das Zuſammenleben im Dorfe iſt in dem Maße für die meiſten menſchlichen<lb/> Zwecke zuträglicher, als der Verkehr, die Preſſe und andere Verbindungen nach außen<lb/> fehlen, als die genoſſenſchaftliche Schulung wie das tägliche ſich Helfen und Fördern<lb/> erſtes Bedürfnis für die kleinen Ackerwirte iſt. Unter fremdem Volkstum bei ungeord-<lb/> neten politiſchen und rechtlichen Zuſtänden gelingt ja eine Koloniſation als Einzelſiedlung<lb/> überhaupt nicht leicht, wohl aber als genoſſenſchaftliche Dorfſiedlung. Die erſten agra-<lb/> riſchen Kolonien Neuenglands im 17. Jahrhundert konnten nur als geſchloſſene Dorf-<lb/> anlagen ſich halten. Und als im Anfange des 18. Jahrhunderts die preußiſche Regierung<lb/> ganz Littauen neu beſiedelte und die bäuerlichen Verhältniſſe dort neu ordnete, einigte<lb/> man ſich nach langer Debatte über Dorf- und Hofſyſtem doch für das erſtere, als un-<lb/> entbehrlich. Noch heute iſt vielfach im Oſten Deutſchlands der einzeln lebende Bauer<lb/> auf iſoliertem Hofe zu ſchwach; er kann ſich da nicht halten, wo das Dorf ganz gut<lb/> gedeiht. Die engliſche und die deutſche Landflucht in der Gegenwart geht nicht ſowohl<lb/> von den Dörfern als von den iſoliert oder in zu kleinen Gruppen wohnenden Tage-<lb/> löhnern aus. Einer gewiſſen Geſellſchaft bedarf der Menſch.</p><lb/> <p>All’ dieſen Gründen ſteht nun freilich die größere wirtſchaftliche Zweckmäßigkeit<lb/> des Hofſyſtems für den landwirtſchaftlichen Betrieb gegenüber. Sie konnte aber, wie<lb/> wir ſchon bemerkten, doch erſt bei höherer Kultur voll und ganz erfaßt werden. Die<lb/> Vereinödung des Hochſtifts Kempten gehört dem vorigen Jahrhundert an, die Auflöſung<lb/> der engliſchen Dörfer in iſoliert liegende Pachthöfe der Zeit der Einhegung der Gemein-<lb/> heiten (1720—1860). Die iſoliert wohnenden Marſchbauern Deutſchlands ſtammen auch<lb/></p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [262/0278]
Zweites Buch. Die geſellſchaftliche Verfaſſung der Volkswirtſchaft.
auf ſeine Studien über die Slaven und Finnen; auch eine kritiſche Würdigung iſt hier
nicht am Platze. Wir können nur ſagen: die Hypotheſe hat viele Anhänger, aber auch
erheblichen Widerſpruch gefunden; ſie erklärt geographiſche Verſchiedenheiten, für die
bisher kein rechter Schlüſſel da war; ſie trägt der Stammes- und Volkseigentümlichkeit
Rechnung, welche man bisher nicht ſehr berückſichtigte. Aber ſie überſpannt vielleicht
die Bedeutung der verſchiedenen Gemütsanlage und Rechtsanſchauung der Kelten und
Germanen, negiert wohl zu ſehr den Einfluß der Bodenbeſchaffenheit, der Bodengüte und
Ähnlichem. Sie führt überwiegend auf ariſtokratiſche und demokratiſche Gliederung der
Kelten und Germanen die verſchiedene Siedlung zurück, wobei Zweifel und Fragen aller
Art offen bleiben. Wir ſelbſt können nach unſeren obigen Ausführungen uns Kelten
und Germanen nicht vorher als reine Nomaden denken; ebenſowenig iſt es uns leicht
glaublich, daß die Kelten ſo früh und allgemein ein Hofſyſtem ſollten ausgebildet haben,
das doch ſonſt überwiegend ein Produkt höherer landwirtſchaftlicher Kultur oder natür-
licher Nötigung iſt. Die Zweifel, welche Henning und Knapp ausgeſprochen haben,
wird Meitzen wohl ſelbſt erneuter Prüfung unterziehen. Am meiſten begründet erſcheint
der Einwurf, daß der keltiſche wie der germaniſche Übergang von der Nomadenwirtſchaft
zum Hof- und zum Dorfſyſtem bei Meitzen zu ſehr als eine einmalige rationaliſtiſch
erſonnene Maßregel erſcheint, während es ſich doch wohl um einen Umbildungsprozeß
von vielen Jahrhunderten handelt.
Müſſen wir ſo die Darlegung der Siedlungstheorien mit einem „non liquet“
abſchließen, müſſen wir auch konſtatieren, daß alle Verſuche, aus Stellen von Tacitus
das Dorf- oder das Hofſyſtem herauszuleſen, vergeblich ſind (nur daß die Germanen ihre
Holzhäuſer nicht Mauer an Mauer, wie die Römer ihre Steinhäuſer, bauten, ſagt er),
müſſen wir zugeben, daß überhaupt über der älteren europäiſchen Siedlungsgeſchichte
bis ins 10. und 11. Jahrhundert zunächſt noch ein gewiſſer Schleier ruht, — ſo viel
ſcheint mir doch wahrſcheinlich, daß kleine Dörfer wohl das älteſte waren, daß dann
vielfach Hofbildungen entſtanden, vor allem durch Könige, Große, Klöſter und ihre Leute,
daß dann mit der Zeit der Grundherrſchaft, der Städtebildung, der höheren allgemeinen
Kultur die Dörfer ſich erheblich vergrößerten, die Höfe teilweiſe wieder verſchwanden,
und daß die eigentlich intenſive Ausbildung des Hofſyſtems erſt den letzten Jahr-
hunderten angehöre. Keußler hat auch für Rußland nachgewieſen, daß bis ins 16. Jahr-
hundert ganz kleine Dörfer und Höfe neben einander vorkommen, dann erſt ſich etwas
größere Dörfer bildeten.
Das Zuſammenleben im Dorfe iſt in dem Maße für die meiſten menſchlichen
Zwecke zuträglicher, als der Verkehr, die Preſſe und andere Verbindungen nach außen
fehlen, als die genoſſenſchaftliche Schulung wie das tägliche ſich Helfen und Fördern
erſtes Bedürfnis für die kleinen Ackerwirte iſt. Unter fremdem Volkstum bei ungeord-
neten politiſchen und rechtlichen Zuſtänden gelingt ja eine Koloniſation als Einzelſiedlung
überhaupt nicht leicht, wohl aber als genoſſenſchaftliche Dorfſiedlung. Die erſten agra-
riſchen Kolonien Neuenglands im 17. Jahrhundert konnten nur als geſchloſſene Dorf-
anlagen ſich halten. Und als im Anfange des 18. Jahrhunderts die preußiſche Regierung
ganz Littauen neu beſiedelte und die bäuerlichen Verhältniſſe dort neu ordnete, einigte
man ſich nach langer Debatte über Dorf- und Hofſyſtem doch für das erſtere, als un-
entbehrlich. Noch heute iſt vielfach im Oſten Deutſchlands der einzeln lebende Bauer
auf iſoliertem Hofe zu ſchwach; er kann ſich da nicht halten, wo das Dorf ganz gut
gedeiht. Die engliſche und die deutſche Landflucht in der Gegenwart geht nicht ſowohl
von den Dörfern als von den iſoliert oder in zu kleinen Gruppen wohnenden Tage-
löhnern aus. Einer gewiſſen Geſellſchaft bedarf der Menſch.
All’ dieſen Gründen ſteht nun freilich die größere wirtſchaftliche Zweckmäßigkeit
des Hofſyſtems für den landwirtſchaftlichen Betrieb gegenüber. Sie konnte aber, wie
wir ſchon bemerkten, doch erſt bei höherer Kultur voll und ganz erfaßt werden. Die
Vereinödung des Hochſtifts Kempten gehört dem vorigen Jahrhundert an, die Auflöſung
der engliſchen Dörfer in iſoliert liegende Pachthöfe der Zeit der Einhegung der Gemein-
heiten (1720—1860). Die iſoliert wohnenden Marſchbauern Deutſchlands ſtammen auch
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