Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900.Einleitung. Begriff. Psychologische und sittliche Grundlage. Litteratur und Methode. Um Vorstellungen und Gedanken zu fixieren, Mitteilungen in die Ferne zu machen Dieselben Alphabetzeichen dienten dann ursprünglich auch zum Schreiben der Erst wer lesen kann, ist ein Mensch, sagt ein armenisches Sprichwort. Das ver- Haben zuerst nur die Könige und die Priester auf Stein und Erz geschrieben, so Herder hat Recht, wenn er sagt: "Die Sprache ist das unwesenhafteste, flüchtigste Einleitung. Begriff. Pſychologiſche und ſittliche Grundlage. Litteratur und Methode. Um Vorſtellungen und Gedanken zu fixieren, Mitteilungen in die Ferne zu machen Dieſelben Alphabetzeichen dienten dann urſprünglich auch zum Schreiben der Erſt wer leſen kann, iſt ein Menſch, ſagt ein armeniſches Sprichwort. Das ver- Haben zuerſt nur die Könige und die Prieſter auf Stein und Erz geſchrieben, ſo Herder hat Recht, wenn er ſagt: „Die Sprache iſt das unweſenhafteſte, flüchtigſte <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0028" n="12"/> <fw place="top" type="header">Einleitung. Begriff. Pſychologiſche und ſittliche Grundlage. Litteratur und Methode.</fw><lb/> <p>Um Vorſtellungen und Gedanken zu fixieren, Mitteilungen in die Ferne zu machen<lb/> und ihnen eine längere Dauer zu ſichern, haben rohe Völker Kerbhölzer, Gürtel mit<lb/> Schnüren, an denen verſchiedenfarbige Muſcheln befeſtigt ſind, dann die Tätowierung<lb/> angewandt. Die Inkas in Peru hatten eine Knoten-, die Azteken und Chineſen eine<lb/> Bilderſchrift. Durch die Verkürzung der Bilder und ihre Verbindung mit Strichen<lb/> entſtand die Wortſchrift der Chineſen und Altägypter mit ihren Tauſenden von Zeichen.<lb/> Es war ein ungeheurer Fortſchritt, daß die Zeichen immer mehr den Charakter des<lb/> Bildlichen abſtreiften, zu Symbolen für Silben und Buchſtaben wurden; den Phönikern<lb/> gebührt das ungeheure Verdienſt, zuerſt mit 22 Lautzeichen alle Worte geſchrieben zu<lb/> haben. Alle Kulturvölker, mit Ausnahme der aſiatiſchen, führen den Stammbaum ihrer<lb/> Schriftzeichen auf das phönikiſche Alphabet zurück.</p><lb/> <p>Dieſelben Alphabetzeichen dienten dann urſprünglich auch zum Schreiben der<lb/> Zahlen; erſt ſpäter wandelten ſich dieſe Zeichen zu beſonderen abweichenden Zügen um.<lb/> Unſere heutige Zahlenſchreibweiſe ſtammt aus Indien, iſt durch die Araber im 13. Jahr-<lb/> hundert nach Italien gekommen, hat von da im 16. Jahrhundert über Europa ſich<lb/> verbreitet.</p><lb/> <p>Erſt wer leſen kann, iſt ein Menſch, ſagt ein armeniſches Sprichwort. Das ver-<lb/> nünftige Leben beruht auf dem Verſtändnis der Schrift, meint Diodor. Der Gedanke,<lb/> der mit dem geſprochenen Worte zündet, aber auch im nächſten Augenblicke verweht,<lb/> wird in der Schrift in ein totes Zeichen gebannt, das dem Auge für lange Zeiträume,<lb/> für Jahrhunderte und Jahrtauſende ſichtbar bleibt. Die Zahl der Zuhörer iſt immer<lb/> beſchränkt, die der Leſer unbeſchränkt. Und ſo ſtellt das geſchriebene Wort gleichſam<lb/> eine höhere Potenz der ſocialen Berührungsmöglichkeit dar, das Wort hat einen neuen<lb/> Leib angezogen, durch den es unabhängig von ſeinem Urheber eine lautloſe Sprache in<lb/> alle Fernen und in alle Zeiten erklingen läßt. Mit der Schrift wird die Sprache ſelbſt<lb/> erſt feſt und klar, der Gedanke ſchärfer; die Schriftſprache erzeugt erſt im Laufe der Zeit<lb/> einheitliche Kulturſprachen, welche autoritativ durch die Großthaten der geiſtigen Heroen<lb/> beherrſcht, gereinigt, gehoben werden; die deutſche Sprache iſt die Sprache Luthers,<lb/> Goethes und Rankes. Mit der Schrift entſteht erſt eine ſichere Erinnerung und Über-<lb/> lieferung, eine Verbindung von Ahnen und Enkeln. Schriftloſe Stämme und Völker<lb/> können nicht leicht voranſchreiten, weil die Thaten ihrer großen Männer nur ſchwer zu<lb/> dauernden Inſtitutionen führen. Die großen Fortſchritte in Kultus und Gottesverehrung,<lb/> Sitte, Recht und Verfaſſung knüpfen alle an heilige Bücher, an Geſetzestafeln, an<lb/> ſchriftliche Aufzeichnungen an. Aus Schrift- und Zahlzeichen heraus erſt konnte Maß und<lb/> Gewicht, Geld und Marktpreis ſich entwickeln. Dasſelbe Volk, dem wir unſer Alphabet<lb/> danken, vermittelte dieſe chaldäiſchen und ägyptiſchen Errungenſchaften dem Weſten.</p><lb/> <p>Haben zuerſt nur die Könige und die Prieſter auf Stein und Erz geſchrieben, ſo<lb/> hat man ſpäter Leder und Pergament, Papyrusrollen und Wachstafeln auch in weiteren<lb/> Kreiſen benutzt. Das Rechtſprechen und Verwalten, Befehlen und Berichten wurde<lb/> damit ebenſo ſehr ein anderes als das Kaufen, Tauſchen und Geſchäfte-Abſchließen.<lb/> Die Benutzung der Schrift durch die einzelnen in Brief- und anderer Form hat dem<lb/> geſamten individuellen Leben einen anderen höheren Inhalt gegeben. Neben dem Schrift-<lb/> tum der Prieſter, Richter, Geſetzgeber und Beamten entſtanden die Aufzeichnungen der<lb/> Denker und Dichter, der Gelehrten und Journaliſten, der Kaufleute und Unternehmer.<lb/> Aus dem mythiſchen Heldengeſang und den Rhapſodien der fahrenden Sänger entſtand<lb/> die Litteratur mit all’ ihren Gattungen und tiefgreifenden Wirkungen.</p><lb/> <p>Herder hat Recht, wenn er ſagt: „Die Sprache iſt das unweſenhafteſte, flüchtigſte<lb/> Gewebe, womit der Schöpfer unſer Geſchlecht verknüpfen wollte. Die Tradition der<lb/> Schrift iſt als die dauerhafteſte, ſtillſte, wirkſamſte Gottesanſtalt anzuſehen, dadurch<lb/> Nationen auf Nationen, Jahrhunderte auf Jahrhunderte wirken, und ſich das ganze<lb/> Menſchengeſchlecht mit der Zeit an einer Kette brüderlicher Tradition zuſammenfindet.“<lb/> Das Schrifttum iſt das große Behältnis alles geiſtigen Lebens der Menſchheit, ein<lb/> Schatz, der, ſo lange die Kultur ſteigt, nur zu- nicht abnehmen kann.</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [12/0028]
Einleitung. Begriff. Pſychologiſche und ſittliche Grundlage. Litteratur und Methode.
Um Vorſtellungen und Gedanken zu fixieren, Mitteilungen in die Ferne zu machen
und ihnen eine längere Dauer zu ſichern, haben rohe Völker Kerbhölzer, Gürtel mit
Schnüren, an denen verſchiedenfarbige Muſcheln befeſtigt ſind, dann die Tätowierung
angewandt. Die Inkas in Peru hatten eine Knoten-, die Azteken und Chineſen eine
Bilderſchrift. Durch die Verkürzung der Bilder und ihre Verbindung mit Strichen
entſtand die Wortſchrift der Chineſen und Altägypter mit ihren Tauſenden von Zeichen.
Es war ein ungeheurer Fortſchritt, daß die Zeichen immer mehr den Charakter des
Bildlichen abſtreiften, zu Symbolen für Silben und Buchſtaben wurden; den Phönikern
gebührt das ungeheure Verdienſt, zuerſt mit 22 Lautzeichen alle Worte geſchrieben zu
haben. Alle Kulturvölker, mit Ausnahme der aſiatiſchen, führen den Stammbaum ihrer
Schriftzeichen auf das phönikiſche Alphabet zurück.
Dieſelben Alphabetzeichen dienten dann urſprünglich auch zum Schreiben der
Zahlen; erſt ſpäter wandelten ſich dieſe Zeichen zu beſonderen abweichenden Zügen um.
Unſere heutige Zahlenſchreibweiſe ſtammt aus Indien, iſt durch die Araber im 13. Jahr-
hundert nach Italien gekommen, hat von da im 16. Jahrhundert über Europa ſich
verbreitet.
Erſt wer leſen kann, iſt ein Menſch, ſagt ein armeniſches Sprichwort. Das ver-
nünftige Leben beruht auf dem Verſtändnis der Schrift, meint Diodor. Der Gedanke,
der mit dem geſprochenen Worte zündet, aber auch im nächſten Augenblicke verweht,
wird in der Schrift in ein totes Zeichen gebannt, das dem Auge für lange Zeiträume,
für Jahrhunderte und Jahrtauſende ſichtbar bleibt. Die Zahl der Zuhörer iſt immer
beſchränkt, die der Leſer unbeſchränkt. Und ſo ſtellt das geſchriebene Wort gleichſam
eine höhere Potenz der ſocialen Berührungsmöglichkeit dar, das Wort hat einen neuen
Leib angezogen, durch den es unabhängig von ſeinem Urheber eine lautloſe Sprache in
alle Fernen und in alle Zeiten erklingen läßt. Mit der Schrift wird die Sprache ſelbſt
erſt feſt und klar, der Gedanke ſchärfer; die Schriftſprache erzeugt erſt im Laufe der Zeit
einheitliche Kulturſprachen, welche autoritativ durch die Großthaten der geiſtigen Heroen
beherrſcht, gereinigt, gehoben werden; die deutſche Sprache iſt die Sprache Luthers,
Goethes und Rankes. Mit der Schrift entſteht erſt eine ſichere Erinnerung und Über-
lieferung, eine Verbindung von Ahnen und Enkeln. Schriftloſe Stämme und Völker
können nicht leicht voranſchreiten, weil die Thaten ihrer großen Männer nur ſchwer zu
dauernden Inſtitutionen führen. Die großen Fortſchritte in Kultus und Gottesverehrung,
Sitte, Recht und Verfaſſung knüpfen alle an heilige Bücher, an Geſetzestafeln, an
ſchriftliche Aufzeichnungen an. Aus Schrift- und Zahlzeichen heraus erſt konnte Maß und
Gewicht, Geld und Marktpreis ſich entwickeln. Dasſelbe Volk, dem wir unſer Alphabet
danken, vermittelte dieſe chaldäiſchen und ägyptiſchen Errungenſchaften dem Weſten.
Haben zuerſt nur die Könige und die Prieſter auf Stein und Erz geſchrieben, ſo
hat man ſpäter Leder und Pergament, Papyrusrollen und Wachstafeln auch in weiteren
Kreiſen benutzt. Das Rechtſprechen und Verwalten, Befehlen und Berichten wurde
damit ebenſo ſehr ein anderes als das Kaufen, Tauſchen und Geſchäfte-Abſchließen.
Die Benutzung der Schrift durch die einzelnen in Brief- und anderer Form hat dem
geſamten individuellen Leben einen anderen höheren Inhalt gegeben. Neben dem Schrift-
tum der Prieſter, Richter, Geſetzgeber und Beamten entſtanden die Aufzeichnungen der
Denker und Dichter, der Gelehrten und Journaliſten, der Kaufleute und Unternehmer.
Aus dem mythiſchen Heldengeſang und den Rhapſodien der fahrenden Sänger entſtand
die Litteratur mit all’ ihren Gattungen und tiefgreifenden Wirkungen.
Herder hat Recht, wenn er ſagt: „Die Sprache iſt das unweſenhafteſte, flüchtigſte
Gewebe, womit der Schöpfer unſer Geſchlecht verknüpfen wollte. Die Tradition der
Schrift iſt als die dauerhafteſte, ſtillſte, wirkſamſte Gottesanſtalt anzuſehen, dadurch
Nationen auf Nationen, Jahrhunderte auf Jahrhunderte wirken, und ſich das ganze
Menſchengeſchlecht mit der Zeit an einer Kette brüderlicher Tradition zuſammenfindet.“
Das Schrifttum iſt das große Behältnis alles geiſtigen Lebens der Menſchheit, ein
Schatz, der, ſo lange die Kultur ſteigt, nur zu- nicht abnehmen kann.
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