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Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900.

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Zweites Buch. Die gesellschaftliche Verfassung der Volkswirtschaft.
eine gewisse feste Ordnung erlangt haben, da werden die einzelnen Menschen und Fa-
milien eine steigende Rolle in dem Prozesse spielen, und das hat die bedeutsame Folge,
daß sie, von Erwerbs- und Spekulationsabsichten geleitet, mehr ihre Sonderinteressen
und nur die nächsten Jahre im Auge, nicht immer das für die Zukunft und die
Gesamtinteressen Beste anstreben. Aber es wäre bei der Kompliziertheit der heutigen
Verhältnisse und dem notwendigen großen Spielraum für individuelle Bethätigung gar
nicht möglich, alle Siedlung und alles Wohnwesen einheitlich von oben her zu leiten.
Und doch entstehen dadurch Interessenkonflikte und falsche Bewegungen.

So lange man im Anschluß an A. Smith und in naivem Optimismus annahm,
stets fördere der Egoismus der einzelnen das Gesamtinteresse am besten, und stets
griffen die Obrigkeiten in ihren Maßnahmen fehl, beurteilte man besonders die hier
einschlägigen historischen und praktischen Fragen oftmals falsch. A. Smiths Ausführungen
über das ältere Städtewesen gehören zum Schwächsten, was er geschrieben hat; alle
Städtebildung erscheint ihm fast nur als Folge der mittelalterlichen Barbarei: die
Grundherren und ihre Brutalität haben den gesunden Landbau gehindert; übermäßig
viel Menschen flüchteten sich hinter die Stadtmauern, die viel natürlicher ihr Kapital
im Landbau angelegt hätten. Auch die oft erörterte Schulfrage, ob die Städte von
selbst "natürlich" gewachsen oder absichtlich "künstlich" gegründet und geschaffen worden
seien, beantwortete man mit Vorliebe früher in ersterem Sinne. Man wird nach unserer
heutigen Kenntniß sagen müssen: viele Städte seien überwiegend "von selbst" entstanden,
viele auch absichtlich gegründet worden. Aber letztere gediehen auch nur, wenn die
wirtschaftlichen Bedingungen ihres Wachstums vorhanden, die rechten Stellen, die rechte
Zeit gewählt, die rechten Mittel ergriffen waren. Und die ersteren, die von selbst
erwachsenen Städte, konnten nur vorankommen, wenn sie die rechte Ordnung fanden
oder erhielten (durch Privilegien, Übertragung eines Stadtrechtes, durch Vorhandensein
guter Gemeindegesetze), wenn ausgezeichnete Personen mit weitem Blicke, mit Patriotis-
mus und genossenschaftlichem Geiste an der Spitze standen, die rechten Einrichtungen
und lokalen Statuten schufen. Jede Stadt ist ein komplizierter Organismus, der nur
gedeihen kann, wenn die für die Zukunft und die Gesamtinteressen notwendigen
Schranken und Ordnungen dem Egoismus der einzelnen die erlaubten Wege weisen und
die Grenzen setzen.

Das gilt auch für alle früheren und alle heutigen Kämpfe in der sonstigen Um-
bildung bestehender Siedlungsverhältnisse. Stets haben dabei die Obrigkeiten und die
Individuen zusammen gewirkt, oft gemeinsam nach demselben Ziele, oft auch nach ent-
gegengesetzten getrachtet. Machthaber, die den Fortschritt vertraten, haben einstmals
versucht, die am Alten Klebenden zu anderer Wohnweise zu zwingen; Gesetze und
Magistrate werden heute noch versuchen, in dieser oder jener Weise eine veränderte
Siedlungsart zu begünstigen. Ob dabei die Individuen und ihre Anschauungen, ob
die Organe der Gesamtheit die größere Berechtigung für sich haben, das Richtige treffen,
hängt von ihrer Bildung, von der Tüchtigkeit der Spitzen des Staates und der Ge-
meinden ab. Der Zwang zu städtischer Siedlung oder die große Privilegierung der-
selben war zeitweise früher so berechtigt, wie unter anderen Verhältnissen einmal eine
Hinderung ungesunder Massenansammlung, die Förderung des zerstreuten Wohnens, des
Ausbaues und des Höfesystems sein kann. Konventionelle Einrichtungen, wie das amerika-
nische Landvermessungssystem, Wegebauten, Kanalbauten und Derartiges können indirekt
einen ebenso wirksamen Zwang ausüben wie Niederlassungs- und Gemeindegesetze.

Wenn in älteren und großen Kulturstaaten mit der Ausbildung eines einheitlichen
Staatsbürgertums und unbegrenzter Freizügigkeit ein Hauptteil der Weiterbildung und
Veränderung der Siedlungs-, Standorts- und Wohnungsverhältnisse den Individuen
und ihrer wirtschaftlichen Überlegung anheimgegeben ist, wenn das praktisch sich aus-
drückt im freien Konkurrenzkampfe der Grundstücksverkäufer und -Vermieter mit denen,
welche der Plätze, Wohnungen und Grundstücke bedürfen, so ist das eine Form der
Raumverteilung an die Familien und Unternehmungen, welche mit ihrer Beweglichkeit
und Flüssigkeit, mit dem starken Reize der möglichen Gewinne rasch veraltete Zustände

Zweites Buch. Die geſellſchaftliche Verfaſſung der Volkswirtſchaft.
eine gewiſſe feſte Ordnung erlangt haben, da werden die einzelnen Menſchen und Fa-
milien eine ſteigende Rolle in dem Prozeſſe ſpielen, und das hat die bedeutſame Folge,
daß ſie, von Erwerbs- und Spekulationsabſichten geleitet, mehr ihre Sonderintereſſen
und nur die nächſten Jahre im Auge, nicht immer das für die Zukunft und die
Geſamtintereſſen Beſte anſtreben. Aber es wäre bei der Kompliziertheit der heutigen
Verhältniſſe und dem notwendigen großen Spielraum für individuelle Bethätigung gar
nicht möglich, alle Siedlung und alles Wohnweſen einheitlich von oben her zu leiten.
Und doch entſtehen dadurch Intereſſenkonflikte und falſche Bewegungen.

So lange man im Anſchluß an A. Smith und in naivem Optimismus annahm,
ſtets fördere der Egoismus der einzelnen das Geſamtintereſſe am beſten, und ſtets
griffen die Obrigkeiten in ihren Maßnahmen fehl, beurteilte man beſonders die hier
einſchlägigen hiſtoriſchen und praktiſchen Fragen oftmals falſch. A. Smiths Ausführungen
über das ältere Städteweſen gehören zum Schwächſten, was er geſchrieben hat; alle
Städtebildung erſcheint ihm faſt nur als Folge der mittelalterlichen Barbarei: die
Grundherren und ihre Brutalität haben den geſunden Landbau gehindert; übermäßig
viel Menſchen flüchteten ſich hinter die Stadtmauern, die viel natürlicher ihr Kapital
im Landbau angelegt hätten. Auch die oft erörterte Schulfrage, ob die Städte von
ſelbſt „natürlich“ gewachſen oder abſichtlich „künſtlich“ gegründet und geſchaffen worden
ſeien, beantwortete man mit Vorliebe früher in erſterem Sinne. Man wird nach unſerer
heutigen Kenntniß ſagen müſſen: viele Städte ſeien überwiegend „von ſelbſt“ entſtanden,
viele auch abſichtlich gegründet worden. Aber letztere gediehen auch nur, wenn die
wirtſchaftlichen Bedingungen ihres Wachstums vorhanden, die rechten Stellen, die rechte
Zeit gewählt, die rechten Mittel ergriffen waren. Und die erſteren, die von ſelbſt
erwachſenen Städte, konnten nur vorankommen, wenn ſie die rechte Ordnung fanden
oder erhielten (durch Privilegien, Übertragung eines Stadtrechtes, durch Vorhandenſein
guter Gemeindegeſetze), wenn ausgezeichnete Perſonen mit weitem Blicke, mit Patriotis-
mus und genoſſenſchaftlichem Geiſte an der Spitze ſtanden, die rechten Einrichtungen
und lokalen Statuten ſchufen. Jede Stadt iſt ein komplizierter Organismus, der nur
gedeihen kann, wenn die für die Zukunft und die Geſamtintereſſen notwendigen
Schranken und Ordnungen dem Egoismus der einzelnen die erlaubten Wege weiſen und
die Grenzen ſetzen.

Das gilt auch für alle früheren und alle heutigen Kämpfe in der ſonſtigen Um-
bildung beſtehender Siedlungsverhältniſſe. Stets haben dabei die Obrigkeiten und die
Individuen zuſammen gewirkt, oft gemeinſam nach demſelben Ziele, oft auch nach ent-
gegengeſetzten getrachtet. Machthaber, die den Fortſchritt vertraten, haben einſtmals
verſucht, die am Alten Klebenden zu anderer Wohnweiſe zu zwingen; Geſetze und
Magiſtrate werden heute noch verſuchen, in dieſer oder jener Weiſe eine veränderte
Siedlungsart zu begünſtigen. Ob dabei die Individuen und ihre Anſchauungen, ob
die Organe der Geſamtheit die größere Berechtigung für ſich haben, das Richtige treffen,
hängt von ihrer Bildung, von der Tüchtigkeit der Spitzen des Staates und der Ge-
meinden ab. Der Zwang zu ſtädtiſcher Siedlung oder die große Privilegierung der-
ſelben war zeitweiſe früher ſo berechtigt, wie unter anderen Verhältniſſen einmal eine
Hinderung ungeſunder Maſſenanſammlung, die Förderung des zerſtreuten Wohnens, des
Ausbaues und des Höfeſyſtems ſein kann. Konventionelle Einrichtungen, wie das amerika-
niſche Landvermeſſungsſyſtem, Wegebauten, Kanalbauten und Derartiges können indirekt
einen ebenſo wirkſamen Zwang ausüben wie Niederlaſſungs- und Gemeindegeſetze.

Wenn in älteren und großen Kulturſtaaten mit der Ausbildung eines einheitlichen
Staatsbürgertums und unbegrenzter Freizügigkeit ein Hauptteil der Weiterbildung und
Veränderung der Siedlungs-, Standorts- und Wohnungsverhältniſſe den Individuen
und ihrer wirtſchaftlichen Überlegung anheimgegeben iſt, wenn das praktiſch ſich aus-
drückt im freien Konkurrenzkampfe der Grundſtücksverkäufer und -Vermieter mit denen,
welche der Plätze, Wohnungen und Grundſtücke bedürfen, ſo iſt das eine Form der
Raumverteilung an die Familien und Unternehmungen, welche mit ihrer Beweglichkeit
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[274/0290] Zweites Buch. Die geſellſchaftliche Verfaſſung der Volkswirtſchaft. eine gewiſſe feſte Ordnung erlangt haben, da werden die einzelnen Menſchen und Fa- milien eine ſteigende Rolle in dem Prozeſſe ſpielen, und das hat die bedeutſame Folge, daß ſie, von Erwerbs- und Spekulationsabſichten geleitet, mehr ihre Sonderintereſſen und nur die nächſten Jahre im Auge, nicht immer das für die Zukunft und die Geſamtintereſſen Beſte anſtreben. Aber es wäre bei der Kompliziertheit der heutigen Verhältniſſe und dem notwendigen großen Spielraum für individuelle Bethätigung gar nicht möglich, alle Siedlung und alles Wohnweſen einheitlich von oben her zu leiten. Und doch entſtehen dadurch Intereſſenkonflikte und falſche Bewegungen. So lange man im Anſchluß an A. Smith und in naivem Optimismus annahm, ſtets fördere der Egoismus der einzelnen das Geſamtintereſſe am beſten, und ſtets griffen die Obrigkeiten in ihren Maßnahmen fehl, beurteilte man beſonders die hier einſchlägigen hiſtoriſchen und praktiſchen Fragen oftmals falſch. A. Smiths Ausführungen über das ältere Städteweſen gehören zum Schwächſten, was er geſchrieben hat; alle Städtebildung erſcheint ihm faſt nur als Folge der mittelalterlichen Barbarei: die Grundherren und ihre Brutalität haben den geſunden Landbau gehindert; übermäßig viel Menſchen flüchteten ſich hinter die Stadtmauern, die viel natürlicher ihr Kapital im Landbau angelegt hätten. Auch die oft erörterte Schulfrage, ob die Städte von ſelbſt „natürlich“ gewachſen oder abſichtlich „künſtlich“ gegründet und geſchaffen worden ſeien, beantwortete man mit Vorliebe früher in erſterem Sinne. Man wird nach unſerer heutigen Kenntniß ſagen müſſen: viele Städte ſeien überwiegend „von ſelbſt“ entſtanden, viele auch abſichtlich gegründet worden. Aber letztere gediehen auch nur, wenn die wirtſchaftlichen Bedingungen ihres Wachstums vorhanden, die rechten Stellen, die rechte Zeit gewählt, die rechten Mittel ergriffen waren. Und die erſteren, die von ſelbſt erwachſenen Städte, konnten nur vorankommen, wenn ſie die rechte Ordnung fanden oder erhielten (durch Privilegien, Übertragung eines Stadtrechtes, durch Vorhandenſein guter Gemeindegeſetze), wenn ausgezeichnete Perſonen mit weitem Blicke, mit Patriotis- mus und genoſſenſchaftlichem Geiſte an der Spitze ſtanden, die rechten Einrichtungen und lokalen Statuten ſchufen. Jede Stadt iſt ein komplizierter Organismus, der nur gedeihen kann, wenn die für die Zukunft und die Geſamtintereſſen notwendigen Schranken und Ordnungen dem Egoismus der einzelnen die erlaubten Wege weiſen und die Grenzen ſetzen. Das gilt auch für alle früheren und alle heutigen Kämpfe in der ſonſtigen Um- bildung beſtehender Siedlungsverhältniſſe. Stets haben dabei die Obrigkeiten und die Individuen zuſammen gewirkt, oft gemeinſam nach demſelben Ziele, oft auch nach ent- gegengeſetzten getrachtet. Machthaber, die den Fortſchritt vertraten, haben einſtmals verſucht, die am Alten Klebenden zu anderer Wohnweiſe zu zwingen; Geſetze und Magiſtrate werden heute noch verſuchen, in dieſer oder jener Weiſe eine veränderte Siedlungsart zu begünſtigen. Ob dabei die Individuen und ihre Anſchauungen, ob die Organe der Geſamtheit die größere Berechtigung für ſich haben, das Richtige treffen, hängt von ihrer Bildung, von der Tüchtigkeit der Spitzen des Staates und der Ge- meinden ab. Der Zwang zu ſtädtiſcher Siedlung oder die große Privilegierung der- ſelben war zeitweiſe früher ſo berechtigt, wie unter anderen Verhältniſſen einmal eine Hinderung ungeſunder Maſſenanſammlung, die Förderung des zerſtreuten Wohnens, des Ausbaues und des Höfeſyſtems ſein kann. Konventionelle Einrichtungen, wie das amerika- niſche Landvermeſſungsſyſtem, Wegebauten, Kanalbauten und Derartiges können indirekt einen ebenſo wirkſamen Zwang ausüben wie Niederlaſſungs- und Gemeindegeſetze. Wenn in älteren und großen Kulturſtaaten mit der Ausbildung eines einheitlichen Staatsbürgertums und unbegrenzter Freizügigkeit ein Hauptteil der Weiterbildung und Veränderung der Siedlungs-, Standorts- und Wohnungsverhältniſſe den Individuen und ihrer wirtſchaftlichen Überlegung anheimgegeben iſt, wenn das praktiſch ſich aus- drückt im freien Konkurrenzkampfe der Grundſtücksverkäufer und -Vermieter mit denen, welche der Plätze, Wohnungen und Grundſtücke bedürfen, ſo iſt das eine Form der Raumverteilung an die Familien und Unternehmungen, welche mit ihrer Beweglichkeit und Flüſſigkeit, mit dem ſtarken Reize der möglichen Gewinne raſch veraltete Zuſtände

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Zitationshilfe: Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900, S. 274. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schmoller_grundriss01_1900/290>, abgerufen am 22.11.2024.