Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900.Zweites Buch. Die gesellschaftliche Verfassung der Volkswirtschaft. gebenden ihn nicht mit anderen vergleichen können; je dichter die Siedlung sei, jemehr auch die höher Stehenden gleiche neben sich haben, desto geringer sei ihre Über- legenheit: das platte Land fühlt aristokratisch, die Stadt demokratisch. Man kann ein- werfen, daß in den deutschen Marschen und den Alpen die bäuerliche Demokratie bei loser Siedlung sich erhalten hat, daß der Pöbel der antiken Großstädte sich zuerst der kaiserlichen Tyrannis gefügt, ja sie hervorgerufen hat, daß die kaufmännischen Aristo- kratien von Genua und Venedig, wie heute die von London, New York oder Hamburg durch mindestens gleichen Abstand von den untersten Klassen getrennt sind wie der Tagelöhner vom Rittergutsbesitzer. Es handelt sich eben bei allen Folgen des zer- streuten und dichten Wohnens nur um Möglichkeiten, die sich je nach den mitwirkenden geistig-sittlichen Faktoren aus der häufigeren Berührung und Reibung der Menschen ergeben. Das aber ist klar und hat sich zu allen Zeiten doch überwiegend gezeigt: die In den Jahren 1845--70 hat die Statistik mit dem raschen Wachsen der Groß- In dieser Litteratur ist Wahres mit Falschem gemischt. Konservativ-agrarische Zweites Buch. Die geſellſchaftliche Verfaſſung der Volkswirtſchaft. gebenden ihn nicht mit anderen vergleichen können; je dichter die Siedlung ſei, jemehr auch die höher Stehenden gleiche neben ſich haben, deſto geringer ſei ihre Über- legenheit: das platte Land fühlt ariſtokratiſch, die Stadt demokratiſch. Man kann ein- werfen, daß in den deutſchen Marſchen und den Alpen die bäuerliche Demokratie bei loſer Siedlung ſich erhalten hat, daß der Pöbel der antiken Großſtädte ſich zuerſt der kaiſerlichen Tyrannis gefügt, ja ſie hervorgerufen hat, daß die kaufmänniſchen Ariſto- kratien von Genua und Venedig, wie heute die von London, New York oder Hamburg durch mindeſtens gleichen Abſtand von den unterſten Klaſſen getrennt ſind wie der Tagelöhner vom Rittergutsbeſitzer. Es handelt ſich eben bei allen Folgen des zer- ſtreuten und dichten Wohnens nur um Möglichkeiten, die ſich je nach den mitwirkenden geiſtig-ſittlichen Faktoren aus der häufigeren Berührung und Reibung der Menſchen ergeben. Das aber iſt klar und hat ſich zu allen Zeiten doch überwiegend gezeigt: die In den Jahren 1845—70 hat die Statiſtik mit dem raſchen Wachſen der Groß- In dieſer Litteratur iſt Wahres mit Falſchem gemiſcht. Konſervativ-agrariſche <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0292" n="276"/><fw place="top" type="header">Zweites Buch. Die geſellſchaftliche Verfaſſung der Volkswirtſchaft.</fw><lb/> gebenden ihn nicht mit anderen vergleichen können; je dichter die Siedlung ſei, je<lb/> mehr auch die höher Stehenden gleiche neben ſich haben, deſto geringer ſei ihre Über-<lb/> legenheit: das platte Land fühlt ariſtokratiſch, die Stadt demokratiſch. Man kann ein-<lb/> werfen, daß in den deutſchen Marſchen und den Alpen die bäuerliche Demokratie bei<lb/> loſer Siedlung ſich erhalten hat, daß der Pöbel der antiken Großſtädte ſich zuerſt der<lb/> kaiſerlichen Tyrannis gefügt, ja ſie hervorgerufen hat, daß die kaufmänniſchen Ariſto-<lb/> kratien von Genua und Venedig, wie heute die von London, New York oder Hamburg<lb/> durch mindeſtens gleichen Abſtand von den unterſten Klaſſen getrennt ſind wie der<lb/> Tagelöhner vom Rittergutsbeſitzer. 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Das Leben in der Stadt macht rühriger, klüger, dem Fort-<lb/> ſchritte zugänglicher; es bildet mehr die Nerven als die Muskeln aus; die Menſchen<lb/> ſind aber auch genußſüchtiger; die moraliſchen Einflüſſe ſind geringer, die Zerſtreuung<lb/> größer, die Sitte ſchwächer, das Leben iſt ungebundener; die Menſchen reiben ſich mehr<lb/> auf. Der Städter iſt liberal, fortſchrittlich, ſocialdemokratiſch.</p><lb/> <p>In den Jahren 1845—70 hat die Statiſtik mit dem raſchen Wachſen der Groß-<lb/> und Fabrikſtädte teilweiſe überraſchend ungünſtige Ergebniſſe der Sterblichkeit, der Ge-<lb/> bürtigkeit, der Vergehen, der Eheſcheidungen ꝛc. zu Tage gefördert; Wappäus, Schwabe,<lb/> Engel und andere beleuchteten daher die ſtädtiſche Wohnweiſe und ihre Folgen in<lb/> düſterer Weiſe, wie es allerdings ſchon von Süßmilch geſchehen war. Und bis in die<lb/> neuere Zeit ſetzte ſich dieſe peſſimiſtiſche Auffaſſung fort; ja ſie erhielt in dem geiſtvollen,<lb/> aber ſtark übertreibenden Buche von G. Hanſſen ihren ſtärkſten Ausdruck; er wollte<lb/> beweiſen, daß die Städte, in ſich lebensunfähig und ungeſund, in zwei Generationen<lb/> die ihnen vom Lande gelieferten Menſchen aufbrauchen.</p><lb/> <p>In dieſer Litteratur iſt Wahres mit Falſchem gemiſcht. Konſervativ-agrariſche<lb/> Vorurteile ſpielen in ihr, fortſchrittlich-induſtrielle in den Gegenſchriften eine Rolle.<lb/> Die Wahrheit iſt nicht ſo ſchwer zu finden. Zuerſt haben Rümelin und andere gezeigt,<lb/> daß die durch die Städtebevölkerungsſtatiſtik zu Tage geförderten Eigentümlichkeiten<lb/> weſentlich auf die Thatſache zurückgehen, daß in den Städten die Altersklaſſen vom<lb/> 15.—40. Jahre heute teilweiſe doppelt ſo ſtark beſetzt ſind als auf dem Lande, alſo<lb/> ſchon deshalb Todesfälle, Geburten, Verbrechen und alles Derartige im Durchſchnitte<lb/> ſich anders geſtalten müſſen. Neuerdings haben Brentano und ſeine Schüler eine Reihe<lb/> Studien veröffentlicht, die die Übertreibungen Hanfens mit Recht bekämpfen, die Gleich-<lb/> wertigkeit und Vorzüge der ſtädtiſchen Bevölkerung ins Licht geſetzt haben. Sie haben<lb/> dabei viel Richtiges geſagt, aber auch ihrerſeits teilweiſe übers Ziel hinaus geſchoſſen.<lb/> Das ländliche Leben, ſofern es mit guter Wohnung und guter Ernährung verbunden<lb/> iſt, hat mit ſeinem Aufenthalt und ſeiner Arbeit in freier Luft für alle körperlichen<lb/> Eigenſchaften doch unzweifelhafte Vorzüge. Longſtaff, der übrigens Brentano nahe ſteht,<lb/> meint: das Stadtkind bleibt blaſſer, ſchwachäugiger, mit ſchlechten Zähnen verſehen, auch<lb/> wenn die ſtädtiſche Hygiene ſein Leben verlängert. Gewiß haben manche Städte und<lb/> Gewerbe heute ſo viel oder faſt ſo viel militärtüchtige wie das Land; die Sterblichkeit<lb/> iſt in gut gebauten Städten teilweiſe eine ſo niedrige wie auf dem Lande; verkommene<lb/> Landdiſtrikte mit ſchlechter Ernährung haben teilweiſe ſchwächlichere Menſchen als Fabrik-<lb/> gegenden mit hochſtehender Arbeiterbevölkerung. Aber daß das Land einfachere, ſchlichtere,<lb/> beſcheidenere, kräftigere Menſchen, die Stadt klügere, beweglichere, geiſtig entwickeltere,<lb/></p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [276/0292]
Zweites Buch. Die geſellſchaftliche Verfaſſung der Volkswirtſchaft.
gebenden ihn nicht mit anderen vergleichen können; je dichter die Siedlung ſei, je
mehr auch die höher Stehenden gleiche neben ſich haben, deſto geringer ſei ihre Über-
legenheit: das platte Land fühlt ariſtokratiſch, die Stadt demokratiſch. Man kann ein-
werfen, daß in den deutſchen Marſchen und den Alpen die bäuerliche Demokratie bei
loſer Siedlung ſich erhalten hat, daß der Pöbel der antiken Großſtädte ſich zuerſt der
kaiſerlichen Tyrannis gefügt, ja ſie hervorgerufen hat, daß die kaufmänniſchen Ariſto-
kratien von Genua und Venedig, wie heute die von London, New York oder Hamburg
durch mindeſtens gleichen Abſtand von den unterſten Klaſſen getrennt ſind wie der
Tagelöhner vom Rittergutsbeſitzer. Es handelt ſich eben bei allen Folgen des zer-
ſtreuten und dichten Wohnens nur um Möglichkeiten, die ſich je nach den mitwirkenden
geiſtig-ſittlichen Faktoren aus der häufigeren Berührung und Reibung der Menſchen
ergeben.
Das aber iſt klar und hat ſich zu allen Zeiten doch überwiegend gezeigt: die
verſchiedene Wohnweiſe differenziert die Menſchen und ihre körperlichen und geiſtigen,
techniſchen und wirtſchaftlichen Eigenſchaften, und als wichtigſtes Ergebnis dieſes Pro-
zeſſes wird man ſagen können: das einfachere Leben auf dem Lande iſt für die mora-
liſchen und Charaktereigenſchaften günſtiger; die Lebensziele ſind da klarer, die Lebens-
wege kontrollierter, die Sitte ſtärker; das Leben auf dem Lande iſt meiſt der Geſundheit,
der Muskelausbildung zuträglicher; der Landmann iſt politiſch konſervativ, techniſch
hängt er mehr am Alten. Das Leben in der Stadt macht rühriger, klüger, dem Fort-
ſchritte zugänglicher; es bildet mehr die Nerven als die Muskeln aus; die Menſchen
ſind aber auch genußſüchtiger; die moraliſchen Einflüſſe ſind geringer, die Zerſtreuung
größer, die Sitte ſchwächer, das Leben iſt ungebundener; die Menſchen reiben ſich mehr
auf. Der Städter iſt liberal, fortſchrittlich, ſocialdemokratiſch.
In den Jahren 1845—70 hat die Statiſtik mit dem raſchen Wachſen der Groß-
und Fabrikſtädte teilweiſe überraſchend ungünſtige Ergebniſſe der Sterblichkeit, der Ge-
bürtigkeit, der Vergehen, der Eheſcheidungen ꝛc. zu Tage gefördert; Wappäus, Schwabe,
Engel und andere beleuchteten daher die ſtädtiſche Wohnweiſe und ihre Folgen in
düſterer Weiſe, wie es allerdings ſchon von Süßmilch geſchehen war. Und bis in die
neuere Zeit ſetzte ſich dieſe peſſimiſtiſche Auffaſſung fort; ja ſie erhielt in dem geiſtvollen,
aber ſtark übertreibenden Buche von G. Hanſſen ihren ſtärkſten Ausdruck; er wollte
beweiſen, daß die Städte, in ſich lebensunfähig und ungeſund, in zwei Generationen
die ihnen vom Lande gelieferten Menſchen aufbrauchen.
In dieſer Litteratur iſt Wahres mit Falſchem gemiſcht. Konſervativ-agrariſche
Vorurteile ſpielen in ihr, fortſchrittlich-induſtrielle in den Gegenſchriften eine Rolle.
Die Wahrheit iſt nicht ſo ſchwer zu finden. Zuerſt haben Rümelin und andere gezeigt,
daß die durch die Städtebevölkerungsſtatiſtik zu Tage geförderten Eigentümlichkeiten
weſentlich auf die Thatſache zurückgehen, daß in den Städten die Altersklaſſen vom
15.—40. Jahre heute teilweiſe doppelt ſo ſtark beſetzt ſind als auf dem Lande, alſo
ſchon deshalb Todesfälle, Geburten, Verbrechen und alles Derartige im Durchſchnitte
ſich anders geſtalten müſſen. Neuerdings haben Brentano und ſeine Schüler eine Reihe
Studien veröffentlicht, die die Übertreibungen Hanfens mit Recht bekämpfen, die Gleich-
wertigkeit und Vorzüge der ſtädtiſchen Bevölkerung ins Licht geſetzt haben. Sie haben
dabei viel Richtiges geſagt, aber auch ihrerſeits teilweiſe übers Ziel hinaus geſchoſſen.
Das ländliche Leben, ſofern es mit guter Wohnung und guter Ernährung verbunden
iſt, hat mit ſeinem Aufenthalt und ſeiner Arbeit in freier Luft für alle körperlichen
Eigenſchaften doch unzweifelhafte Vorzüge. Longſtaff, der übrigens Brentano nahe ſteht,
meint: das Stadtkind bleibt blaſſer, ſchwachäugiger, mit ſchlechten Zähnen verſehen, auch
wenn die ſtädtiſche Hygiene ſein Leben verlängert. Gewiß haben manche Städte und
Gewerbe heute ſo viel oder faſt ſo viel militärtüchtige wie das Land; die Sterblichkeit
iſt in gut gebauten Städten teilweiſe eine ſo niedrige wie auf dem Lande; verkommene
Landdiſtrikte mit ſchlechter Ernährung haben teilweiſe ſchwächlichere Menſchen als Fabrik-
gegenden mit hochſtehender Arbeiterbevölkerung. Aber daß das Land einfachere, ſchlichtere,
beſcheidenere, kräftigere Menſchen, die Stadt klügere, beweglichere, geiſtig entwickeltere,
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