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Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900.

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Einleitung. Begriff. Psychologische und sittliche Grundlage. Litteratur und Methode.
folgende Massen voraus; der Unterschied liegt nur in der verschiedenen Art der Be-
festigung und Stellung der Autoritäten, in der verschiedenen Krystallisierung und Organi-
sierung der Kräfte, in der loseren oder gebundeneren Wechselwirkung zwischen Spitze
und Peripherie.

10. Die einzelnen Bewußtseinskreise. Haben wir bisher die geistigen
Kollektivkräfte im allgemeinen kurz zu charakterisieren gesucht, so ist jetzt noch ein
Wort über ihre Erscheinung im einzelnen beizufügen. Es kann freilich dabei nicht
die Absicht sein, sie erschöpfend aufzählen oder darstellen zu wollen. Nur das Aller-
wichtigste kann berührt, einiges mit unserem Zwecke enger Zusammenhängende er-
wähnt werden.

Die Bewußtseinskreise, die auf täglicher oder häufiger persönlicher Berührung
und Aussprache beruhen, haben eine andere Farbe, erzeugen einen anderen Kitt des Zu-
sammenhangs, als die auf schriftlichem Gedankenaustausch, auf Vermittelung durch
zahlreiche persönliche Mittelglieder beruhenden. Wo aller Zusammenhang der Menschen
untereinander auf bloßem Sehen und Sprechen beruht, der schriftliche Verkehr und die
feste Überlieferung noch fehlt, da werden zwar nur kleine, oft auch wenig fest gefügte
Gemeinwesen entstehen können, aber es werden doch je nach den Menschen und ihren
Gefühlen zwischen den Nächststehenden innerhalb Stamm, Sippe und Familie um so
festere sympathische Bande sich schließen können. Wo das Stammesleben größere
Menschenzahlen umfaßt, sich stärker und fester entwickelt, müssen bestimmte Einrichtungen
das tägliche oder öftere Sehen herbeiführen, es müssen Versammlungen, Feste, Kriegs-
übungen einen immer sich erneuernden Kontakt schaffen. Die antiken Städtestaaten und
die mittelalterlichen Städte erzeugten so in sich einen Gemeingeist, den große Staaten
trotz Presse und Litteratur niemals haben können. Größere sociale Gebilde kommen
dann durch Stammesbündnisse oder Unterwerfung zustande, welche aber meist Sprach-
verwandtschaft oder Sprachverschmelzung und die Entstehung gemeinsamer Regierungen,
Heiligtümer und Gottesverehrung voraussetzen oder im Gefolge haben. Im übrigen
setzt die Entstehung größerer Bewußtseinskreise von zerstreut, in weiten Gebieten lebenden
Menschen und damit die Entstehung größerer Staaten stets den schriftlichen Verkehr
voraus. Derselbe kann freilich zunächst auf eine herrschende Klasse beschränkt sein, welche
in sich fest zusammenhängend weit zerstreut wohnt, überall mit den lokalen Kreisen
Fühlung hat, sie zu behandeln versteht. So hat die römische Aristokratie den orbis
terrarum,
später der katholische Klerus halb Europa mit der Lateinsprache umspannt
und regiert. So hat das moderne Beamtentum die meisten europäischen Staaten zu
einer Zeit einheitlich zu verwalten angefangen, ehe noch der Lokal- und Provinzial-
geist vom nationalen beherrscht war. Doch hat der letztere nach und nach sich zu
einem immer mächtigeren und stärkeren Bewußtseinskreis entwickelt; die großen euro-
päischen Nationalsprachen und -Litteraturen, das nationale Recht und die nationalen
Staatseinrichtungen, eine große gemeinsame Geschichte knüpften die Bande des Blutes
und der Heimat für Millionen so fest, daß das Volkstum als solches zum ersten Princip
gesellschaftlicher Gruppierung in der neueren Geschichte nach und nach werden konnte.
Und eben deshalb sprechen wir heute von einem Volksgeist und meinen damit die starken,
einheitlichen Gefühle, Vorstellungen und Willensimpulse, welche alle anderen im Volke
enthaltenen kleineren Kreise und Gegensätze, alle Mitglieder eines Volkes einschließen
und beherrschen. Wir sagen, ein Volk sei gesund, so lange diese centralen Kräfte stärker
seien als die trennenden Gefühle und Strebungen. Ein Volk in jenem stolzen Sinne,
in welchem Fichte seine Reden an die deutsche Nation hielt, ist nur ein solches, das
von der Erinnerung an eine große Vergangenheit beherrscht ist, in dem sehr starke ein-
heitliche Gefühle und Geistesströmungen vom letzten Bauer und Proletarier bis zur Spitze
hinaufreichen, in dem alle oder die Mehrzahl bereit ist, das Äußerste, selbst das Leben
für das Vaterland und seine Zukunft zu opfern.

Wenn das deutsche Wort "Volk" gerade in diesem Sinne mit Vorliebe gebraucht
wird, wenn auch in den Begriff der Volkswirtschaft davon etwas übergegangen ist, so
schließt das doch nicht aus, daß im Volke wie in jedem großen Bewußtseinskreise viele

Einleitung. Begriff. Pſychologiſche und ſittliche Grundlage. Litteratur und Methode.
folgende Maſſen voraus; der Unterſchied liegt nur in der verſchiedenen Art der Be-
feſtigung und Stellung der Autoritäten, in der verſchiedenen Kryſtalliſierung und Organi-
ſierung der Kräfte, in der loſeren oder gebundeneren Wechſelwirkung zwiſchen Spitze
und Peripherie.

10. Die einzelnen Bewußtſeinskreiſe. Haben wir bisher die geiſtigen
Kollektivkräfte im allgemeinen kurz zu charakteriſieren geſucht, ſo iſt jetzt noch ein
Wort über ihre Erſcheinung im einzelnen beizufügen. Es kann freilich dabei nicht
die Abſicht ſein, ſie erſchöpfend aufzählen oder darſtellen zu wollen. Nur das Aller-
wichtigſte kann berührt, einiges mit unſerem Zwecke enger Zuſammenhängende er-
wähnt werden.

Die Bewußtſeinskreiſe, die auf täglicher oder häufiger perſönlicher Berührung
und Ausſprache beruhen, haben eine andere Farbe, erzeugen einen anderen Kitt des Zu-
ſammenhangs, als die auf ſchriftlichem Gedankenaustauſch, auf Vermittelung durch
zahlreiche perſönliche Mittelglieder beruhenden. Wo aller Zuſammenhang der Menſchen
untereinander auf bloßem Sehen und Sprechen beruht, der ſchriftliche Verkehr und die
feſte Überlieferung noch fehlt, da werden zwar nur kleine, oft auch wenig feſt gefügte
Gemeinweſen entſtehen können, aber es werden doch je nach den Menſchen und ihren
Gefühlen zwiſchen den Nächſtſtehenden innerhalb Stamm, Sippe und Familie um ſo
feſtere ſympathiſche Bande ſich ſchließen können. Wo das Stammesleben größere
Menſchenzahlen umfaßt, ſich ſtärker und feſter entwickelt, müſſen beſtimmte Einrichtungen
das tägliche oder öftere Sehen herbeiführen, es müſſen Verſammlungen, Feſte, Kriegs-
übungen einen immer ſich erneuernden Kontakt ſchaffen. Die antiken Städteſtaaten und
die mittelalterlichen Städte erzeugten ſo in ſich einen Gemeingeiſt, den große Staaten
trotz Preſſe und Litteratur niemals haben können. Größere ſociale Gebilde kommen
dann durch Stammesbündniſſe oder Unterwerfung zuſtande, welche aber meiſt Sprach-
verwandtſchaft oder Sprachverſchmelzung und die Entſtehung gemeinſamer Regierungen,
Heiligtümer und Gottesverehrung vorausſetzen oder im Gefolge haben. Im übrigen
ſetzt die Entſtehung größerer Bewußtſeinskreiſe von zerſtreut, in weiten Gebieten lebenden
Menſchen und damit die Entſtehung größerer Staaten ſtets den ſchriftlichen Verkehr
voraus. Derſelbe kann freilich zunächſt auf eine herrſchende Klaſſe beſchränkt ſein, welche
in ſich feſt zuſammenhängend weit zerſtreut wohnt, überall mit den lokalen Kreiſen
Fühlung hat, ſie zu behandeln verſteht. So hat die römiſche Ariſtokratie den orbis
terrarum,
ſpäter der katholiſche Klerus halb Europa mit der Lateinſprache umſpannt
und regiert. So hat das moderne Beamtentum die meiſten europäiſchen Staaten zu
einer Zeit einheitlich zu verwalten angefangen, ehe noch der Lokal- und Provinzial-
geiſt vom nationalen beherrſcht war. Doch hat der letztere nach und nach ſich zu
einem immer mächtigeren und ſtärkeren Bewußtſeinskreis entwickelt; die großen euro-
päiſchen Nationalſprachen und -Litteraturen, das nationale Recht und die nationalen
Staatseinrichtungen, eine große gemeinſame Geſchichte knüpften die Bande des Blutes
und der Heimat für Millionen ſo feſt, daß das Volkstum als ſolches zum erſten Princip
geſellſchaftlicher Gruppierung in der neueren Geſchichte nach und nach werden konnte.
Und eben deshalb ſprechen wir heute von einem Volksgeiſt und meinen damit die ſtarken,
einheitlichen Gefühle, Vorſtellungen und Willensimpulſe, welche alle anderen im Volke
enthaltenen kleineren Kreiſe und Gegenſätze, alle Mitglieder eines Volkes einſchließen
und beherrſchen. Wir ſagen, ein Volk ſei geſund, ſo lange dieſe centralen Kräfte ſtärker
ſeien als die trennenden Gefühle und Strebungen. Ein Volk in jenem ſtolzen Sinne,
in welchem Fichte ſeine Reden an die deutſche Nation hielt, iſt nur ein ſolches, das
von der Erinnerung an eine große Vergangenheit beherrſcht iſt, in dem ſehr ſtarke ein-
heitliche Gefühle und Geiſtesſtrömungen vom letzten Bauer und Proletarier bis zur Spitze
hinaufreichen, in dem alle oder die Mehrzahl bereit iſt, das Äußerſte, ſelbſt das Leben
für das Vaterland und ſeine Zukunft zu opfern.

Wenn das deutſche Wort „Volk“ gerade in dieſem Sinne mit Vorliebe gebraucht
wird, wenn auch in den Begriff der Volkswirtſchaft davon etwas übergegangen iſt, ſo
ſchließt das doch nicht aus, daß im Volke wie in jedem großen Bewußtſeinskreiſe viele

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[18/0034] Einleitung. Begriff. Pſychologiſche und ſittliche Grundlage. Litteratur und Methode. folgende Maſſen voraus; der Unterſchied liegt nur in der verſchiedenen Art der Be- feſtigung und Stellung der Autoritäten, in der verſchiedenen Kryſtalliſierung und Organi- ſierung der Kräfte, in der loſeren oder gebundeneren Wechſelwirkung zwiſchen Spitze und Peripherie. 10. Die einzelnen Bewußtſeinskreiſe. Haben wir bisher die geiſtigen Kollektivkräfte im allgemeinen kurz zu charakteriſieren geſucht, ſo iſt jetzt noch ein Wort über ihre Erſcheinung im einzelnen beizufügen. Es kann freilich dabei nicht die Abſicht ſein, ſie erſchöpfend aufzählen oder darſtellen zu wollen. Nur das Aller- wichtigſte kann berührt, einiges mit unſerem Zwecke enger Zuſammenhängende er- wähnt werden. Die Bewußtſeinskreiſe, die auf täglicher oder häufiger perſönlicher Berührung und Ausſprache beruhen, haben eine andere Farbe, erzeugen einen anderen Kitt des Zu- ſammenhangs, als die auf ſchriftlichem Gedankenaustauſch, auf Vermittelung durch zahlreiche perſönliche Mittelglieder beruhenden. Wo aller Zuſammenhang der Menſchen untereinander auf bloßem Sehen und Sprechen beruht, der ſchriftliche Verkehr und die feſte Überlieferung noch fehlt, da werden zwar nur kleine, oft auch wenig feſt gefügte Gemeinweſen entſtehen können, aber es werden doch je nach den Menſchen und ihren Gefühlen zwiſchen den Nächſtſtehenden innerhalb Stamm, Sippe und Familie um ſo feſtere ſympathiſche Bande ſich ſchließen können. Wo das Stammesleben größere Menſchenzahlen umfaßt, ſich ſtärker und feſter entwickelt, müſſen beſtimmte Einrichtungen das tägliche oder öftere Sehen herbeiführen, es müſſen Verſammlungen, Feſte, Kriegs- übungen einen immer ſich erneuernden Kontakt ſchaffen. Die antiken Städteſtaaten und die mittelalterlichen Städte erzeugten ſo in ſich einen Gemeingeiſt, den große Staaten trotz Preſſe und Litteratur niemals haben können. Größere ſociale Gebilde kommen dann durch Stammesbündniſſe oder Unterwerfung zuſtande, welche aber meiſt Sprach- verwandtſchaft oder Sprachverſchmelzung und die Entſtehung gemeinſamer Regierungen, Heiligtümer und Gottesverehrung vorausſetzen oder im Gefolge haben. Im übrigen ſetzt die Entſtehung größerer Bewußtſeinskreiſe von zerſtreut, in weiten Gebieten lebenden Menſchen und damit die Entſtehung größerer Staaten ſtets den ſchriftlichen Verkehr voraus. Derſelbe kann freilich zunächſt auf eine herrſchende Klaſſe beſchränkt ſein, welche in ſich feſt zuſammenhängend weit zerſtreut wohnt, überall mit den lokalen Kreiſen Fühlung hat, ſie zu behandeln verſteht. So hat die römiſche Ariſtokratie den orbis terrarum, ſpäter der katholiſche Klerus halb Europa mit der Lateinſprache umſpannt und regiert. So hat das moderne Beamtentum die meiſten europäiſchen Staaten zu einer Zeit einheitlich zu verwalten angefangen, ehe noch der Lokal- und Provinzial- geiſt vom nationalen beherrſcht war. Doch hat der letztere nach und nach ſich zu einem immer mächtigeren und ſtärkeren Bewußtſeinskreis entwickelt; die großen euro- päiſchen Nationalſprachen und -Litteraturen, das nationale Recht und die nationalen Staatseinrichtungen, eine große gemeinſame Geſchichte knüpften die Bande des Blutes und der Heimat für Millionen ſo feſt, daß das Volkstum als ſolches zum erſten Princip geſellſchaftlicher Gruppierung in der neueren Geſchichte nach und nach werden konnte. Und eben deshalb ſprechen wir heute von einem Volksgeiſt und meinen damit die ſtarken, einheitlichen Gefühle, Vorſtellungen und Willensimpulſe, welche alle anderen im Volke enthaltenen kleineren Kreiſe und Gegenſätze, alle Mitglieder eines Volkes einſchließen und beherrſchen. Wir ſagen, ein Volk ſei geſund, ſo lange dieſe centralen Kräfte ſtärker ſeien als die trennenden Gefühle und Strebungen. Ein Volk in jenem ſtolzen Sinne, in welchem Fichte ſeine Reden an die deutſche Nation hielt, iſt nur ein ſolches, das von der Erinnerung an eine große Vergangenheit beherrſcht iſt, in dem ſehr ſtarke ein- heitliche Gefühle und Geiſtesſtrömungen vom letzten Bauer und Proletarier bis zur Spitze hinaufreichen, in dem alle oder die Mehrzahl bereit iſt, das Äußerſte, ſelbſt das Leben für das Vaterland und ſeine Zukunft zu opfern. Wenn das deutſche Wort „Volk“ gerade in dieſem Sinne mit Vorliebe gebraucht wird, wenn auch in den Begriff der Volkswirtſchaft davon etwas übergegangen iſt, ſo ſchließt das doch nicht aus, daß im Volke wie in jedem großen Bewußtſeinskreiſe viele

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Zitationshilfe: Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900, S. 18. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schmoller_grundriss01_1900/34>, abgerufen am 21.11.2024.