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Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900.

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Einleitung. Begriff. Psychologische und sittliche Grundlage. Litteratur und Methode.
liches Familienleben, Erziehung der Kinder, die Übung der eigenen Kraft und Gewandtheit
gleichmäßigere und dauerndere Lust gewährt. So erwachsen das Kraft- und das Selbst-
gefühl, das Mitgefühl und die Liebe, die Verbands- und Gemeinschaftsgefühle aller
Art, zuletzt die moralischen und Pflichtgefühle nach und nach unter der Einwirkung der
Erfahrung, der Gesellschaft, der Ideenwelt. Erst eine psychologische Geschichte der Mensch-
heit, vor allem eine Geschichte der Entwickelung der Gefühle, wie sie andeutungsweise
Horwicz giebt, würde uns eine richtige Grundlage für alle Staats- und Gesellschafts-
wissenschaft bieten.

An alle die einzelnen, nach und nach sich ausbildenden Gebiete des Empfindungs-
lebens knüpfen sich nun Lust- und Schmerzgefühle, und dieselben wirken als Wegweiser
für den menschlichen Willen und das Handeln. Und wenn wir zweifeln, ob wir das
beglückende Gefühl des Heldentodes für das Vaterland mit dem gleichen Namen bezeichnen
sollen wie die Lust am Becher schäumenden Weines, so ist das Gleiche und Verbindende
ja nur die Naturseite des Zustandekommens eines Glücks- oder Lustgefühls. Wie auf
den wilden Stamm der Rose die verschiedensten Blütenarten gepfropft werden, so sind
unsere Nervenreize der physiologische Untergrund für das Verschiedenste, was Menschen-
seelen bewegt. Und alle höheren, reineren Freuden können voll nur aus unserem geistigen
und socialen Leben erklärt werden, wie die natürlichen aus unseren animalischen Prozessen.

Mit der Erfahrung, daß die verschiedenen Gefühle stärkere oder schwächere, einfache
oder mannigfache, vorübergehende oder dauernde, kurz nach den verschiedensten Seiten
dem Grad und der Art nach unterschiedene Freuden gewähren, verbindet sich die denkende
Ordnung, welche alle die verschiedenen Gefühle nach ihrer Bedeutung für das Leben
gliedert und in Reihen bringt. Es entsteht eine Skala der Lust- und Glücksgefühle.
Eine tiefere und edlere Lebensauffassung kommt zu dem Ergebnis, daß die Lustgefühle
um so höher stehen, einem je höheren geistigen Gebiete sie angehören, oder an je höhere
Verknüpfungen und Verhältnisse sie sich anheften (Fechner). Das Gefühl steht höher,
das nicht an einen einzelnen, sondern an mehrere Sinne sich anknüpft, das nicht den
Körper, sondern die Seele, nicht die Lage des Moments, sondern die dauernde des
Individuums, nicht das Individuum allein, sondern die Genossen, die Familie, die
Mitbürger betrifft oder mitbetrifft. Allen sittlichen Fortschritt kann man von diesem
Standpunkt aus betrachten als den zunehmenden Sieg der höheren über die niedrigen
Gefühle. Aller Fortschritt der Intelligenz und der Technik, der Mehrproduktion und
der komplizierteren Gesellschaftseinrichtungen führt nur dann die Völker sicher und dauernd
aufwärts, wenn die Gefühle, welche das Handeln bestimmen, sich in dieser Richtung
entwickelt haben.

Es ist klar, daß bei dem Sieg der höheren über die niedrigen Gefühle die letzteren
selbst etwas anderes werden. Auch die elementaren, natürlichen Lustgefühle verfeinern
und veredeln sich oder verknüpfen sich immer enger mit höheren Gefühlen. Die Lust
der Sättigung verknüpft sich beim Kulturmenschen mit den Freuden des Familien-
lebens und der angeregten Geselligkeit, mit gewissen ästhetischen Gefühlen. Aus dem
Behagen, in Höhle und Hütte sich gegen Kälte und Wetter zu schützen, wird mit der
besseren Wohnung die Freude am eigenen Herd, an seiner Ordnung und anmutenden
sauberen Gestaltung. So wird die Verknüpfung der verschiedenen Gefühle miteinander
zugleich zu ihrer richtigen Ordnung. Auch die sinnlichen verschwinden nicht, aber sie
werden an ihre rechte Stelle gesetzt und durch ihre Einkleidung in höhere gezügelt und
reguliert.

Die wesentlichen habituellen Gefühle erscheinen in ihrer Beziehung zur Außenwelt
als Bedürfnisse, in ihrer aktiven auf bestimmtes Wollen und Handeln hinzielenden Rolle
als Triebe.

12. Die Bedürfnisse. Die Lust- und Unlustgefühle weisen den Menschen über sich
hinaus; sie nötigen ihn, tastend, suchend, überlegend das aufzusuchen, zu benutzen, sich zu
assimilieren, was ihn von Schmerz befreit, was ihm Befriedigung, Lust und Glück verschafft.
Die ihn umgebende Außenwelt mit ihren Schätzen, die sie nach Klima und Boden, nach
Flora und Fauna bietet, die eigene Arbeit und die der Mitmenschen, die ganzen gesell-

Einleitung. Begriff. Pſychologiſche und ſittliche Grundlage. Litteratur und Methode.
liches Familienleben, Erziehung der Kinder, die Übung der eigenen Kraft und Gewandtheit
gleichmäßigere und dauerndere Luſt gewährt. So erwachſen das Kraft- und das Selbſt-
gefühl, das Mitgefühl und die Liebe, die Verbands- und Gemeinſchaftsgefühle aller
Art, zuletzt die moraliſchen und Pflichtgefühle nach und nach unter der Einwirkung der
Erfahrung, der Geſellſchaft, der Ideenwelt. Erſt eine pſychologiſche Geſchichte der Menſch-
heit, vor allem eine Geſchichte der Entwickelung der Gefühle, wie ſie andeutungsweiſe
Horwicz giebt, würde uns eine richtige Grundlage für alle Staats- und Geſellſchafts-
wiſſenſchaft bieten.

An alle die einzelnen, nach und nach ſich ausbildenden Gebiete des Empfindungs-
lebens knüpfen ſich nun Luſt- und Schmerzgefühle, und dieſelben wirken als Wegweiſer
für den menſchlichen Willen und das Handeln. Und wenn wir zweifeln, ob wir das
beglückende Gefühl des Heldentodes für das Vaterland mit dem gleichen Namen bezeichnen
ſollen wie die Luſt am Becher ſchäumenden Weines, ſo iſt das Gleiche und Verbindende
ja nur die Naturſeite des Zuſtandekommens eines Glücks- oder Luſtgefühls. Wie auf
den wilden Stamm der Roſe die verſchiedenſten Blütenarten gepfropft werden, ſo ſind
unſere Nervenreize der phyſiologiſche Untergrund für das Verſchiedenſte, was Menſchen-
ſeelen bewegt. Und alle höheren, reineren Freuden können voll nur aus unſerem geiſtigen
und ſocialen Leben erklärt werden, wie die natürlichen aus unſeren animaliſchen Prozeſſen.

Mit der Erfahrung, daß die verſchiedenen Gefühle ſtärkere oder ſchwächere, einfache
oder mannigfache, vorübergehende oder dauernde, kurz nach den verſchiedenſten Seiten
dem Grad und der Art nach unterſchiedene Freuden gewähren, verbindet ſich die denkende
Ordnung, welche alle die verſchiedenen Gefühle nach ihrer Bedeutung für das Leben
gliedert und in Reihen bringt. Es entſteht eine Skala der Luſt- und Glücksgefühle.
Eine tiefere und edlere Lebensauffaſſung kommt zu dem Ergebnis, daß die Luſtgefühle
um ſo höher ſtehen, einem je höheren geiſtigen Gebiete ſie angehören, oder an je höhere
Verknüpfungen und Verhältniſſe ſie ſich anheften (Fechner). Das Gefühl ſteht höher,
das nicht an einen einzelnen, ſondern an mehrere Sinne ſich anknüpft, das nicht den
Körper, ſondern die Seele, nicht die Lage des Moments, ſondern die dauernde des
Individuums, nicht das Individuum allein, ſondern die Genoſſen, die Familie, die
Mitbürger betrifft oder mitbetrifft. Allen ſittlichen Fortſchritt kann man von dieſem
Standpunkt aus betrachten als den zunehmenden Sieg der höheren über die niedrigen
Gefühle. Aller Fortſchritt der Intelligenz und der Technik, der Mehrproduktion und
der komplizierteren Geſellſchaftseinrichtungen führt nur dann die Völker ſicher und dauernd
aufwärts, wenn die Gefühle, welche das Handeln beſtimmen, ſich in dieſer Richtung
entwickelt haben.

Es iſt klar, daß bei dem Sieg der höheren über die niedrigen Gefühle die letzteren
ſelbſt etwas anderes werden. Auch die elementaren, natürlichen Luſtgefühle verfeinern
und veredeln ſich oder verknüpfen ſich immer enger mit höheren Gefühlen. Die Luſt
der Sättigung verknüpft ſich beim Kulturmenſchen mit den Freuden des Familien-
lebens und der angeregten Geſelligkeit, mit gewiſſen äſthetiſchen Gefühlen. Aus dem
Behagen, in Höhle und Hütte ſich gegen Kälte und Wetter zu ſchützen, wird mit der
beſſeren Wohnung die Freude am eigenen Herd, an ſeiner Ordnung und anmutenden
ſauberen Geſtaltung. So wird die Verknüpfung der verſchiedenen Gefühle miteinander
zugleich zu ihrer richtigen Ordnung. Auch die ſinnlichen verſchwinden nicht, aber ſie
werden an ihre rechte Stelle geſetzt und durch ihre Einkleidung in höhere gezügelt und
reguliert.

Die weſentlichen habituellen Gefühle erſcheinen in ihrer Beziehung zur Außenwelt
als Bedürfniſſe, in ihrer aktiven auf beſtimmtes Wollen und Handeln hinzielenden Rolle
als Triebe.

12. Die Bedürfniſſe. Die Luſt- und Unluſtgefühle weiſen den Menſchen über ſich
hinaus; ſie nötigen ihn, taſtend, ſuchend, überlegend das aufzuſuchen, zu benutzen, ſich zu
aſſimilieren, was ihn von Schmerz befreit, was ihm Befriedigung, Luſt und Glück verſchafft.
Die ihn umgebende Außenwelt mit ihren Schätzen, die ſie nach Klima und Boden, nach
Flora und Fauna bietet, die eigene Arbeit und die der Mitmenſchen, die ganzen geſell-

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[22/0038] Einleitung. Begriff. Pſychologiſche und ſittliche Grundlage. Litteratur und Methode. liches Familienleben, Erziehung der Kinder, die Übung der eigenen Kraft und Gewandtheit gleichmäßigere und dauerndere Luſt gewährt. So erwachſen das Kraft- und das Selbſt- gefühl, das Mitgefühl und die Liebe, die Verbands- und Gemeinſchaftsgefühle aller Art, zuletzt die moraliſchen und Pflichtgefühle nach und nach unter der Einwirkung der Erfahrung, der Geſellſchaft, der Ideenwelt. Erſt eine pſychologiſche Geſchichte der Menſch- heit, vor allem eine Geſchichte der Entwickelung der Gefühle, wie ſie andeutungsweiſe Horwicz giebt, würde uns eine richtige Grundlage für alle Staats- und Geſellſchafts- wiſſenſchaft bieten. An alle die einzelnen, nach und nach ſich ausbildenden Gebiete des Empfindungs- lebens knüpfen ſich nun Luſt- und Schmerzgefühle, und dieſelben wirken als Wegweiſer für den menſchlichen Willen und das Handeln. Und wenn wir zweifeln, ob wir das beglückende Gefühl des Heldentodes für das Vaterland mit dem gleichen Namen bezeichnen ſollen wie die Luſt am Becher ſchäumenden Weines, ſo iſt das Gleiche und Verbindende ja nur die Naturſeite des Zuſtandekommens eines Glücks- oder Luſtgefühls. Wie auf den wilden Stamm der Roſe die verſchiedenſten Blütenarten gepfropft werden, ſo ſind unſere Nervenreize der phyſiologiſche Untergrund für das Verſchiedenſte, was Menſchen- ſeelen bewegt. Und alle höheren, reineren Freuden können voll nur aus unſerem geiſtigen und ſocialen Leben erklärt werden, wie die natürlichen aus unſeren animaliſchen Prozeſſen. Mit der Erfahrung, daß die verſchiedenen Gefühle ſtärkere oder ſchwächere, einfache oder mannigfache, vorübergehende oder dauernde, kurz nach den verſchiedenſten Seiten dem Grad und der Art nach unterſchiedene Freuden gewähren, verbindet ſich die denkende Ordnung, welche alle die verſchiedenen Gefühle nach ihrer Bedeutung für das Leben gliedert und in Reihen bringt. Es entſteht eine Skala der Luſt- und Glücksgefühle. Eine tiefere und edlere Lebensauffaſſung kommt zu dem Ergebnis, daß die Luſtgefühle um ſo höher ſtehen, einem je höheren geiſtigen Gebiete ſie angehören, oder an je höhere Verknüpfungen und Verhältniſſe ſie ſich anheften (Fechner). Das Gefühl ſteht höher, das nicht an einen einzelnen, ſondern an mehrere Sinne ſich anknüpft, das nicht den Körper, ſondern die Seele, nicht die Lage des Moments, ſondern die dauernde des Individuums, nicht das Individuum allein, ſondern die Genoſſen, die Familie, die Mitbürger betrifft oder mitbetrifft. Allen ſittlichen Fortſchritt kann man von dieſem Standpunkt aus betrachten als den zunehmenden Sieg der höheren über die niedrigen Gefühle. Aller Fortſchritt der Intelligenz und der Technik, der Mehrproduktion und der komplizierteren Geſellſchaftseinrichtungen führt nur dann die Völker ſicher und dauernd aufwärts, wenn die Gefühle, welche das Handeln beſtimmen, ſich in dieſer Richtung entwickelt haben. Es iſt klar, daß bei dem Sieg der höheren über die niedrigen Gefühle die letzteren ſelbſt etwas anderes werden. Auch die elementaren, natürlichen Luſtgefühle verfeinern und veredeln ſich oder verknüpfen ſich immer enger mit höheren Gefühlen. Die Luſt der Sättigung verknüpft ſich beim Kulturmenſchen mit den Freuden des Familien- lebens und der angeregten Geſelligkeit, mit gewiſſen äſthetiſchen Gefühlen. Aus dem Behagen, in Höhle und Hütte ſich gegen Kälte und Wetter zu ſchützen, wird mit der beſſeren Wohnung die Freude am eigenen Herd, an ſeiner Ordnung und anmutenden ſauberen Geſtaltung. So wird die Verknüpfung der verſchiedenen Gefühle miteinander zugleich zu ihrer richtigen Ordnung. Auch die ſinnlichen verſchwinden nicht, aber ſie werden an ihre rechte Stelle geſetzt und durch ihre Einkleidung in höhere gezügelt und reguliert. Die weſentlichen habituellen Gefühle erſcheinen in ihrer Beziehung zur Außenwelt als Bedürfniſſe, in ihrer aktiven auf beſtimmtes Wollen und Handeln hinzielenden Rolle als Triebe. 12. Die Bedürfniſſe. Die Luſt- und Unluſtgefühle weiſen den Menſchen über ſich hinaus; ſie nötigen ihn, taſtend, ſuchend, überlegend das aufzuſuchen, zu benutzen, ſich zu aſſimilieren, was ihn von Schmerz befreit, was ihm Befriedigung, Luſt und Glück verſchafft. Die ihn umgebende Außenwelt mit ihren Schätzen, die ſie nach Klima und Boden, nach Flora und Fauna bietet, die eigene Arbeit und die der Mitmenſchen, die ganzen geſell-

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Zitationshilfe: Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900, S. 22. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schmoller_grundriss01_1900/38>, abgerufen am 03.12.2024.