Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900.Einleitung. Begriff. Psychologische und sittliche Grundlage. Litteratur und Methode. Ursache, als historische Entwickelungsreiche, als Ergebnisse unseres geistig-sittlichen Lebenszu begreifen. Die Bedürfnisse sind ein Resultat des Aufeinanderwirkens der vorhandenen Nerven- Der ursprüngliche Grundstock der menschlichen wirtschaftlichen Bedürfnisse ist nun Bleibt man beim Äußerlichen stehen, so wird man sagen können, die Bedürfnisse Die innere Erklärung der zunehmenden, höheren, feineren, der sämtlichen Kultur- Einleitung. Begriff. Pſychologiſche und ſittliche Grundlage. Litteratur und Methode. Urſache, als hiſtoriſche Entwickelungsreiche, als Ergebniſſe unſeres geiſtig-ſittlichen Lebenszu begreifen. Die Bedürfniſſe ſind ein Reſultat des Aufeinanderwirkens der vorhandenen Nerven- Der urſprüngliche Grundſtock der menſchlichen wirtſchaftlichen Bedürfniſſe iſt nun Bleibt man beim Äußerlichen ſtehen, ſo wird man ſagen können, die Bedürfniſſe Die innere Erklärung der zunehmenden, höheren, feineren, der ſämtlichen Kultur- <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0040" n="24"/><fw place="top" type="header">Einleitung. Begriff. Pſychologiſche und ſittliche Grundlage. Litteratur und Methode.</fw><lb/> Urſache, als hiſtoriſche Entwickelungsreiche, als Ergebniſſe unſeres geiſtig-ſittlichen Lebens<lb/> zu begreifen.</p><lb/> <p>Die Bedürfniſſe ſind ein Reſultat des Aufeinanderwirkens der vorhandenen Nerven-<lb/> gewohnheiten und ſeeliſchen Eigenſchaften einerſeits, der natürlichen und geſellſchaftlichen<lb/> Umgebung des Menſchen andererſeits. Sie ſind bei jedem Individuum das Reſultat<lb/> ſeiner Raſſe, ſeiner Erziehung, ſeiner Lebensſchickſale. Sie zeigen bei höherer Kultur<lb/> nach Individuum, Klaſſe und Einkommen an jedem Orte und in jedem Volke erhebliche<lb/> Abweichungen; auch beruht der Ausbreitungsprozeß der höheren Bedürfniſſe natürlich<lb/> darauf, daß die an einem Punkte von einzelnen gemachten Fortſchritte langſam von<lb/> Perſon zu Perſon, von Klaſſe zu Klaſſe, von Land zu Land übergehen. Aber wir<lb/> können davon zunächſt hier abſehen; für alle geſellſchaftliche und volkswirtſchaftliche<lb/> Betrachtung können wir hier zunächſt davon ausgehen, daß kleine oder größere geſell-<lb/> ſchaftliche Kreiſe, die unter ähnlichen Lebensbedingungen ſtehen, durchſchnittlich ähnliche<lb/> Bedürfniſſe haben; wir können daran erinnern, daß nirgends ſo ſehr als bei den<lb/> Bedürfniſſen der Menſch als Herdentier ſich zeigt und vom Nachahmungstrieb be-<lb/> herrſcht wird.</p><lb/> <p>Der urſprüngliche Grundſtock der menſchlichen wirtſchaftlichen Bedürfniſſe iſt nun<lb/> durch die tieriſche Natur des Menſchen gegeben: ein gewiſſes Maß von Nahrung, Wärme,<lb/> Schutz gegen Feinde muß auch der roheſte Menſch ſich verſchaffen. Man hat häufig dieſes<lb/> Maß das Naturbedürfnis genannt. Aber es iſt heute nirgends zu finden. Selbſt die<lb/> wildeſten Stämme ſind darüber hinaus. Und die Frage, wie, warum der Menſch über<lb/> dieſe roheſten Naturbedürfniſſe hinausgekommen ſei, iſt eben das hier zu erklärende<lb/> Problem.</p><lb/> <p>Bleibt man beim Äußerlichen ſtehen, ſo wird man ſagen können, die Bedürfniſſe<lb/> hätten ſich verfeinert und vermehrt in dem Maße, wie der Menſch die Schätze der Natur<lb/> direkt oder durch den Handel kennen lernte, wie die fortſchreitende Technik, die Bau-,<lb/> die Kochkunſt, die Kunſt der Weberei und andere Fertigkeiten ihm immer kompliziertere,<lb/> ſchönere, beſſere Wohnungen, Werkzeuge, Kleider, Geräte, Schmuckmittel zur Verfügung<lb/> ſtellten. Die Zufälligkeiten der äußeren Kulturgeſchichte und die Geſchichte der Ent-<lb/> deckungen, des Handels, der Technik, die Berührungen der jüngeren mit den älteren<lb/> Völkern beſtimmten dieſen ganzen Entwickelungsprozeß, auf deſſen wichtigſten Teil wir<lb/> bei der Geſchichte der Technik zurückkommen. Natürlich erklären nun aber dieſe äußeren<lb/> Ereigniſſe entfernt nicht ihren inneren Zuſammenhang; ſie ſind ſelbſt das Produkt der<lb/> Raſſen- und pſychologiſchen, der geiſtig-moraliſchen, äſthetiſchen und geſellſchaftlichen<lb/> Entwickelung der Menſchheit, ſo ſehr die einzelnen erwähnten Ereigniſſe von Zufällen mit<lb/> beſtimmt ſind und ſo da und dort hin Bedürfniſſe bringen, für welche die Betreffenden<lb/> nicht reif ſind, die ihnen mehr ſchaden als nützen. Dies gilt vor allem von der Ein-<lb/> führung der verfeinerten Kulturbedürfniſſe in der Sphäre der Naturvölker.</p><lb/> <p>Die innere Erklärung der zunehmenden, höheren, feineren, der ſämtlichen Kultur-<lb/> bedürfniſſe liegt in der zuſammenhängenden Kette der Ausbildung der Gefühle, des<lb/> Intellekts, der Moral, der Geſellſchaft. Indem neben die ſinnlichen die höheren Gefühle<lb/> des Auges, des Ohres, des Intellekts, die Sympathie traten, entſtand das Bedürfnis<lb/> des Schmuckes, der Kleidung, der Wohnung, entſtanden die ſchönen Formen, die ver-<lb/> beſſerten Hülfsmittel, die Werkzeuge, entſtanden die Hallen und Kirchen, die Wege und<lb/> die Schiffe, die Muſik und die Schrift, entſtand jener große, ſtets wachſende äußere<lb/> wirtſchaftliche Apparat, der ſchon vor Jahrtauſenden dem Kulturmenſchen unentbehrlich<lb/> wurde, heute für die Mehrzahl aller Menſchen Lebensbedürfnis iſt. Das Unnötige, ſagt<lb/> der Dichter, wurde der beſte Teil der menſchlichen Freude. Eine Welt der Formen, der<lb/> Konvention, des ſchönen Scheins umgab alle urſprünglich einfachen Naturbedürfniſſe.<lb/> Nicht die Stillung des Hungers zu jeder beliebigen Zeit, in jeder Form, an jedem<lb/> Orte, der Sicherheit vor Raub und Neid gewährte, genügte dem Menſchen mehr; er<lb/> wollte in Geſellſchaft, zu beſtimmter Stunde, mit beſtimmten Gefäßen und Ceremonien,<lb/> mit einer gewiſſen Abwechslung und unter Zuſammenſtellung verſchiedener Speiſen eſſen und<lb/> ſo durch dieſe Ordnung das einzelne Bedürfnis einfügen in den rechten Zuſammenhang<lb/></p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [24/0040]
Einleitung. Begriff. Pſychologiſche und ſittliche Grundlage. Litteratur und Methode.
Urſache, als hiſtoriſche Entwickelungsreiche, als Ergebniſſe unſeres geiſtig-ſittlichen Lebens
zu begreifen.
Die Bedürfniſſe ſind ein Reſultat des Aufeinanderwirkens der vorhandenen Nerven-
gewohnheiten und ſeeliſchen Eigenſchaften einerſeits, der natürlichen und geſellſchaftlichen
Umgebung des Menſchen andererſeits. Sie ſind bei jedem Individuum das Reſultat
ſeiner Raſſe, ſeiner Erziehung, ſeiner Lebensſchickſale. Sie zeigen bei höherer Kultur
nach Individuum, Klaſſe und Einkommen an jedem Orte und in jedem Volke erhebliche
Abweichungen; auch beruht der Ausbreitungsprozeß der höheren Bedürfniſſe natürlich
darauf, daß die an einem Punkte von einzelnen gemachten Fortſchritte langſam von
Perſon zu Perſon, von Klaſſe zu Klaſſe, von Land zu Land übergehen. Aber wir
können davon zunächſt hier abſehen; für alle geſellſchaftliche und volkswirtſchaftliche
Betrachtung können wir hier zunächſt davon ausgehen, daß kleine oder größere geſell-
ſchaftliche Kreiſe, die unter ähnlichen Lebensbedingungen ſtehen, durchſchnittlich ähnliche
Bedürfniſſe haben; wir können daran erinnern, daß nirgends ſo ſehr als bei den
Bedürfniſſen der Menſch als Herdentier ſich zeigt und vom Nachahmungstrieb be-
herrſcht wird.
Der urſprüngliche Grundſtock der menſchlichen wirtſchaftlichen Bedürfniſſe iſt nun
durch die tieriſche Natur des Menſchen gegeben: ein gewiſſes Maß von Nahrung, Wärme,
Schutz gegen Feinde muß auch der roheſte Menſch ſich verſchaffen. Man hat häufig dieſes
Maß das Naturbedürfnis genannt. Aber es iſt heute nirgends zu finden. Selbſt die
wildeſten Stämme ſind darüber hinaus. Und die Frage, wie, warum der Menſch über
dieſe roheſten Naturbedürfniſſe hinausgekommen ſei, iſt eben das hier zu erklärende
Problem.
Bleibt man beim Äußerlichen ſtehen, ſo wird man ſagen können, die Bedürfniſſe
hätten ſich verfeinert und vermehrt in dem Maße, wie der Menſch die Schätze der Natur
direkt oder durch den Handel kennen lernte, wie die fortſchreitende Technik, die Bau-,
die Kochkunſt, die Kunſt der Weberei und andere Fertigkeiten ihm immer kompliziertere,
ſchönere, beſſere Wohnungen, Werkzeuge, Kleider, Geräte, Schmuckmittel zur Verfügung
ſtellten. Die Zufälligkeiten der äußeren Kulturgeſchichte und die Geſchichte der Ent-
deckungen, des Handels, der Technik, die Berührungen der jüngeren mit den älteren
Völkern beſtimmten dieſen ganzen Entwickelungsprozeß, auf deſſen wichtigſten Teil wir
bei der Geſchichte der Technik zurückkommen. Natürlich erklären nun aber dieſe äußeren
Ereigniſſe entfernt nicht ihren inneren Zuſammenhang; ſie ſind ſelbſt das Produkt der
Raſſen- und pſychologiſchen, der geiſtig-moraliſchen, äſthetiſchen und geſellſchaftlichen
Entwickelung der Menſchheit, ſo ſehr die einzelnen erwähnten Ereigniſſe von Zufällen mit
beſtimmt ſind und ſo da und dort hin Bedürfniſſe bringen, für welche die Betreffenden
nicht reif ſind, die ihnen mehr ſchaden als nützen. Dies gilt vor allem von der Ein-
führung der verfeinerten Kulturbedürfniſſe in der Sphäre der Naturvölker.
Die innere Erklärung der zunehmenden, höheren, feineren, der ſämtlichen Kultur-
bedürfniſſe liegt in der zuſammenhängenden Kette der Ausbildung der Gefühle, des
Intellekts, der Moral, der Geſellſchaft. Indem neben die ſinnlichen die höheren Gefühle
des Auges, des Ohres, des Intellekts, die Sympathie traten, entſtand das Bedürfnis
des Schmuckes, der Kleidung, der Wohnung, entſtanden die ſchönen Formen, die ver-
beſſerten Hülfsmittel, die Werkzeuge, entſtanden die Hallen und Kirchen, die Wege und
die Schiffe, die Muſik und die Schrift, entſtand jener große, ſtets wachſende äußere
wirtſchaftliche Apparat, der ſchon vor Jahrtauſenden dem Kulturmenſchen unentbehrlich
wurde, heute für die Mehrzahl aller Menſchen Lebensbedürfnis iſt. Das Unnötige, ſagt
der Dichter, wurde der beſte Teil der menſchlichen Freude. Eine Welt der Formen, der
Konvention, des ſchönen Scheins umgab alle urſprünglich einfachen Naturbedürfniſſe.
Nicht die Stillung des Hungers zu jeder beliebigen Zeit, in jeder Form, an jedem
Orte, der Sicherheit vor Raub und Neid gewährte, genügte dem Menſchen mehr; er
wollte in Geſellſchaft, zu beſtimmter Stunde, mit beſtimmten Gefäßen und Ceremonien,
mit einer gewiſſen Abwechslung und unter Zuſammenſtellung verſchiedener Speiſen eſſen und
ſo durch dieſe Ordnung das einzelne Bedürfnis einfügen in den rechten Zuſammenhang
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