Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900.Zweites Buch. Die gesellschaftliche Verfassung der Volkswirtschaft. Klassen. Die Specialisierung des Berufs in der aufstrebenden Zeit ist ein Element desFortschritts, während sie später für sich und im Zusammenhang mit anderen Ursachen der Degeneration eine Mitursache des Verfalles sein kann. Daß die freie Berufswahl in unserer Zeit ein ungeheurer Fortschritt sei, habe ich ebenso betont. Ich komme darauf zurück. Daß durch die eigentümlichen Einflüsse der Variabilität aus allen Klassen einer Der Einwurf, daß die Erziehung sehr mächtig in die sociale Klassenbildung ein- Ich muß daher bei dem allgemeinen Satze bleiben, daß neben dem Rassentypus Das Wesentliche des Zusammenhangs ist wohl so zu formulieren: jedes einzelne Zweites Buch. Die geſellſchaftliche Verfaſſung der Volkswirtſchaft. Klaſſen. Die Specialiſierung des Berufs in der aufſtrebenden Zeit iſt ein Element desFortſchritts, während ſie ſpäter für ſich und im Zuſammenhang mit anderen Urſachen der Degeneration eine Miturſache des Verfalles ſein kann. Daß die freie Berufswahl in unſerer Zeit ein ungeheurer Fortſchritt ſei, habe ich ebenſo betont. Ich komme darauf zurück. Daß durch die eigentümlichen Einflüſſe der Variabilität aus allen Klaſſen einer Der Einwurf, daß die Erziehung ſehr mächtig in die ſociale Klaſſenbildung ein- Ich muß daher bei dem allgemeinen Satze bleiben, daß neben dem Raſſentypus Das Weſentliche des Zuſammenhangs iſt wohl ſo zu formulieren: jedes einzelne <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0414" n="398"/><fw place="top" type="header">Zweites Buch. Die geſellſchaftliche Verfaſſung der Volkswirtſchaft.</fw><lb/> Klaſſen. Die Specialiſierung des Berufs in der aufſtrebenden Zeit iſt ein Element des<lb/> Fortſchritts, während ſie ſpäter für ſich und im Zuſammenhang mit anderen Urſachen<lb/> der Degeneration eine Miturſache des Verfalles ſein kann. Daß die freie Berufswahl<lb/> in unſerer Zeit ein ungeheurer Fortſchritt ſei, habe ich ebenſo betont. Ich komme<lb/> darauf zurück.</p><lb/> <p>Daß durch die eigentümlichen Einflüſſe der Variabilität aus allen Klaſſen einer<lb/> im ganzen hochſtehenden Geſellſchaft Talente und große Männer hervorgehen, iſt ſo<lb/> ſelbſtverſtändlich, wie daß die Atmoſphäre des Mittelſtandes oft große Charaktere erzeugt.<lb/> Ebenſo iſt mir wohl bewußt, daß es in allen Klaſſen aufſteigende Individuen und<lb/> Familien und in den oberen entartete giebt, daß ganze Klaſſen der Ariſtokratie durch<lb/> Inzucht, falſches und thörichtes Leben, durch übermäßige Genüſſe, durch Verzicht auf<lb/> Arbeit und Initiative mit der Zeit zu Grunde gehen. Das beweiſt aber nicht, daß<lb/> ihre Vorfahren nicht durch das Gegenteil, durch beſondere Vorzüge und Leiſtungen<lb/> emporſtiegen, daß nicht im Durchſchnitt aller Zeiten und Völker die höheren Klaſſen ſich<lb/> durch beſondere Fähigkeiten auszeichneten, auch die Mittelklaſſen über den unteren ſtehen.<lb/> Nach Galtons Unterſuchungen über England ſtände etwa die Hälfte aller bedeutenden<lb/> Männer dieſes Staates in verwandtſchaftlichen Beziehungen zu ebenſo bedeutenden<lb/> aus den höheren Ständen; das beweiſt doch wohl, daß ſie aus der kleinen Gruppe<lb/> der höher ſtehenden Kreiſe hervorgingen, während das ganze übrigen Volk die andere<lb/> Hälfte der großen Männer ſtellte, alſo prozentual viel weniger an ſolchen hervorbrachte.<lb/> Zu ähnlichen Reſultaten iſt bekanntlich ein Schüler Comtes gekommen.</p><lb/> <p>Der Einwurf, daß die Erziehung ſehr mächtig in die ſociale Klaſſenbildung ein-<lb/> greife beziehungsweiſe eingreifen könne, trifft mich nicht; ich habe das mit Energie<lb/> betont, komme darauf zurück. Ich leugne nur, daß das Beiſpiel eines einzelnen un-<lb/> gewöhnlich begabten Tagelöhner- oder Kleinbauernſohnes, der, in andere Umgebung verſetzt,<lb/> auf höheren Schulen erzogen, ein großer Maler, Gelehrter, Staatsmann wurde, gegen<lb/> die Vererbung von Klaſſeneigenſchaften ſpreche. Man müßte die Zahl ſolcher gelungenen<lb/> Beiſpiele vergleichen mit der Zahl der nicht gelungenen, um wiſſenſchaftlich damit zu<lb/> operieren.</p><lb/> <p>Ich muß daher bei dem allgemeinen Satze bleiben, daß neben dem Raſſentypus<lb/> die großen hiſtoriſchen Scheidungen des Berufs und der Arbeit den weſentlichſten Anſtoß<lb/> zur ſocialen Klaſſenbildung gaben. Ich glaube auch trotz der gewiß beachtenswerten<lb/> Einwendungen Büchers gegen mich über den Einfluß der Beſitzverteilung, daß die Berufs-<lb/> ſcheidung häufig und beſonders in früheren Zeiten dem verſchiedenen Beſitz vorausging,<lb/> daß die Verſchiedenheit des Beſitzes auch heute noch vielfach Folge, nicht Urſache der ver-<lb/> ſchiedenen klaſſenmäßigen und individuellen Eigenſchaften iſt. Daß daneben „die Beſitzgrößen<lb/> und -arten klaſſenbildend wirken, daß ſie eines der wichtigſten Mittel ſind, die Klaſſen-<lb/> macht zu ſtärken, daß ſie als Miturſachen in beſtimmten Kreiſen körperliche, geiſtige und<lb/> moraliſche Eigenſchaften erzeugen und verſtärken“, gab ich ſchon 1889 zu. Ich kann<lb/> heute Bücher einräumen, daß er in manchem einzelnen recht hat, beſonders in ſeiner<lb/> Betonung des Umſtandes, daß die Erziehung — nicht überall, aber vielfach — vom<lb/> Einkommen und Beſitz der Eltern abhänge. Aber die meiſten der hiſtoriſchen Beiſpiele<lb/> Büchers halte ich nicht für überzeugend; doch würde es zu weit führen, darauf einzugehen.<lb/> Teilweiſe werden ſie auch durch die beiden vorausgegangenen Kapitel widerlegt; teilweiſe<lb/> wird der Beſitzeinfluß, ſo weit ich ihn für richtig halte, daſelbſt dargethan.</p><lb/> <p>Das Weſentliche des Zuſammenhangs iſt wohl ſo zu formulieren: jedes einzelne<lb/> Emporſteigen des einzelnen und einer Klaſſe hat häufig gleich ein etwas größeres Ein-<lb/> kommen, unter Umſtänden auch größeren Beſitz zur Folge, und deshalb verbinden ſich<lb/> nun in der weiteren Entwickelung die beiden Einflüſſe der Berufsthätigkeit und des<lb/> Einkommens; die Mittel- und höheren Klaſſen ſind ohne größeres Einkommen nicht,<lb/> wohl aber ein Teil derſelben ohne großen Beſitz zu denken. Jedenfalls aber iſt ihre<lb/> Klaſſenſtellung mit dem Beſitz allein nicht erklärt. Es iſt nicht unrichtig, die heutigen<lb/> Fabrikanten mit den Kaufleuten des 16.—18. Jahrhunderts in Verbindung zu bringen;<lb/> aber es giebt einen gänzlich falſchen Sinn zu ſagen, aus den ſtädtiſchen Rentnern ſeien ſie<lb/></p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [398/0414]
Zweites Buch. Die geſellſchaftliche Verfaſſung der Volkswirtſchaft.
Klaſſen. Die Specialiſierung des Berufs in der aufſtrebenden Zeit iſt ein Element des
Fortſchritts, während ſie ſpäter für ſich und im Zuſammenhang mit anderen Urſachen
der Degeneration eine Miturſache des Verfalles ſein kann. Daß die freie Berufswahl
in unſerer Zeit ein ungeheurer Fortſchritt ſei, habe ich ebenſo betont. Ich komme
darauf zurück.
Daß durch die eigentümlichen Einflüſſe der Variabilität aus allen Klaſſen einer
im ganzen hochſtehenden Geſellſchaft Talente und große Männer hervorgehen, iſt ſo
ſelbſtverſtändlich, wie daß die Atmoſphäre des Mittelſtandes oft große Charaktere erzeugt.
Ebenſo iſt mir wohl bewußt, daß es in allen Klaſſen aufſteigende Individuen und
Familien und in den oberen entartete giebt, daß ganze Klaſſen der Ariſtokratie durch
Inzucht, falſches und thörichtes Leben, durch übermäßige Genüſſe, durch Verzicht auf
Arbeit und Initiative mit der Zeit zu Grunde gehen. Das beweiſt aber nicht, daß
ihre Vorfahren nicht durch das Gegenteil, durch beſondere Vorzüge und Leiſtungen
emporſtiegen, daß nicht im Durchſchnitt aller Zeiten und Völker die höheren Klaſſen ſich
durch beſondere Fähigkeiten auszeichneten, auch die Mittelklaſſen über den unteren ſtehen.
Nach Galtons Unterſuchungen über England ſtände etwa die Hälfte aller bedeutenden
Männer dieſes Staates in verwandtſchaftlichen Beziehungen zu ebenſo bedeutenden
aus den höheren Ständen; das beweiſt doch wohl, daß ſie aus der kleinen Gruppe
der höher ſtehenden Kreiſe hervorgingen, während das ganze übrigen Volk die andere
Hälfte der großen Männer ſtellte, alſo prozentual viel weniger an ſolchen hervorbrachte.
Zu ähnlichen Reſultaten iſt bekanntlich ein Schüler Comtes gekommen.
Der Einwurf, daß die Erziehung ſehr mächtig in die ſociale Klaſſenbildung ein-
greife beziehungsweiſe eingreifen könne, trifft mich nicht; ich habe das mit Energie
betont, komme darauf zurück. Ich leugne nur, daß das Beiſpiel eines einzelnen un-
gewöhnlich begabten Tagelöhner- oder Kleinbauernſohnes, der, in andere Umgebung verſetzt,
auf höheren Schulen erzogen, ein großer Maler, Gelehrter, Staatsmann wurde, gegen
die Vererbung von Klaſſeneigenſchaften ſpreche. Man müßte die Zahl ſolcher gelungenen
Beiſpiele vergleichen mit der Zahl der nicht gelungenen, um wiſſenſchaftlich damit zu
operieren.
Ich muß daher bei dem allgemeinen Satze bleiben, daß neben dem Raſſentypus
die großen hiſtoriſchen Scheidungen des Berufs und der Arbeit den weſentlichſten Anſtoß
zur ſocialen Klaſſenbildung gaben. Ich glaube auch trotz der gewiß beachtenswerten
Einwendungen Büchers gegen mich über den Einfluß der Beſitzverteilung, daß die Berufs-
ſcheidung häufig und beſonders in früheren Zeiten dem verſchiedenen Beſitz vorausging,
daß die Verſchiedenheit des Beſitzes auch heute noch vielfach Folge, nicht Urſache der ver-
ſchiedenen klaſſenmäßigen und individuellen Eigenſchaften iſt. Daß daneben „die Beſitzgrößen
und -arten klaſſenbildend wirken, daß ſie eines der wichtigſten Mittel ſind, die Klaſſen-
macht zu ſtärken, daß ſie als Miturſachen in beſtimmten Kreiſen körperliche, geiſtige und
moraliſche Eigenſchaften erzeugen und verſtärken“, gab ich ſchon 1889 zu. Ich kann
heute Bücher einräumen, daß er in manchem einzelnen recht hat, beſonders in ſeiner
Betonung des Umſtandes, daß die Erziehung — nicht überall, aber vielfach — vom
Einkommen und Beſitz der Eltern abhänge. Aber die meiſten der hiſtoriſchen Beiſpiele
Büchers halte ich nicht für überzeugend; doch würde es zu weit führen, darauf einzugehen.
Teilweiſe werden ſie auch durch die beiden vorausgegangenen Kapitel widerlegt; teilweiſe
wird der Beſitzeinfluß, ſo weit ich ihn für richtig halte, daſelbſt dargethan.
Das Weſentliche des Zuſammenhangs iſt wohl ſo zu formulieren: jedes einzelne
Emporſteigen des einzelnen und einer Klaſſe hat häufig gleich ein etwas größeres Ein-
kommen, unter Umſtänden auch größeren Beſitz zur Folge, und deshalb verbinden ſich
nun in der weiteren Entwickelung die beiden Einflüſſe der Berufsthätigkeit und des
Einkommens; die Mittel- und höheren Klaſſen ſind ohne größeres Einkommen nicht,
wohl aber ein Teil derſelben ohne großen Beſitz zu denken. Jedenfalls aber iſt ihre
Klaſſenſtellung mit dem Beſitz allein nicht erklärt. Es iſt nicht unrichtig, die heutigen
Fabrikanten mit den Kaufleuten des 16.—18. Jahrhunderts in Verbindung zu bringen;
aber es giebt einen gänzlich falſchen Sinn zu ſagen, aus den ſtädtiſchen Rentnern ſeien ſie
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