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Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900.

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Die socialen Klassen im Staate der Rechtsgleichheit. Das Vereinswesen.
aber auch ihre Wünsche, mehr zu erhalten, ihr starker Drang emporzusteigen, die Un-
möglichkeit, in stumpfer Resignation und demütiger Bescheidenheit zu verharren wie
früher. Ihr Klassenbewußtsein ist erwacht und bethätigt sich nun in einem unwider-
stehlichen Zuge nach Vereinigung, nach Zusammenschluß. Und da ihre individualistischen
und egoistischen Gefühle weniger ausgebildet sind als bei den oberen Klassen, da sie
durch Mangel an Besitz und Familienverbindung etc. ein stärkeres Bedürfnis der gesell-
schaftlichen Anlehnung haben, in starken Gemütsimpulsen sich noch naiv und ungebrochen
ihrem Klassenbewußtsein hingeben, so ist in ihren Kreisen ein Vereinsleben, eine Klassen-
organisation entstanden, wie sie einst die oberen Klassen hatten, wie sie heute ihnen
aber nicht mehr so leicht und so allgemein gelingt.

Brentano sagt, das Princip des Zusammenschlusses sei stets das Princip der
Schwachen gewesen, um sich gegen die Starken zu schützen. Ich glaube, die Geschichte
zeigt uns, daß in der ältesten Zeit sich fast nur der Adel, die Priester, die Krieger,
die Kaufleute klassenmäßig organisierten; viel später erst (im Mittelalter) gelang es den
Handwerkern und Bauern, erst neuerdings den unteren Klassen. Diese wichtigste That-
sache aus der Geschichte der socialen Entwickelung der Menschheit, welche für mich einen
der Stützpunkte einer Hoffnung auf fortschreitend gerechtere sociale Entwickelung der
Menschheit bildet, ist psychologisch und gesellschaftlich nicht schwer zu erklären. Jede
Organisation der Klasse setzt eine gewisse geistig-moralische Entwickelung, aber auch noch
das Vorhandensein sehr starker Gemeinschaftsgefühle, den Mangel eines intensiven Indivi-
dualismus und die Abwesenheit starker Hemmnisse der Organisation durch den Staat
oder die anderen Klassen voraus. Die oberen Klassen organisierten sich, ehe es eine feste
Staatsgewalt gab, und nahmen sie in die Hand; der Mittelstand konnte sich erst organi-
sieren, als eine gewisse Selbständigkeit der Staatsgewalt neben und über der Aristokratie
entstanden war. Für den Arbeiterstand und sein Aufsteigen ist heute eine Organisation
möglich geworden, weil er emporstieg und doch noch nicht so stark individualistisch fühlt
wie die oberen Klassen. Ob sie ihm gelingt, wie sie sich gestaltet, wie sie wirkt, das
hängt von den Arbeiterführern, dem Gegendruck der übrigen Klassen, denen das unbequem
ist, und der Staatsgewalt sowie ihrer Gesetzgebung ab.

So steht heute das Problem der Organisation der Arbeiter, in zweiter Linie
auch der übrigen Klassen der Gesellschaft im Vordergrunde der Socialpolitik; die theo-
retische Betrachtung unserer heutigen Klassenordnung und die praktische Erörterung ihrer
Fortbildung hängt an diesem Punkte, also wesentlich an dem Vereinsrecht.

Der Liberalismus dachte zunächst über das politische und das wirtschaft-
liche
Vereinswesen ziemlich verschieden. So sehr er die Freiheit des ersteren als selbst-
verständlich forderte, so wenig war ihm das zweite sympathisch. Da er in der Politik eine
gut geordnete Staatsgewalt und ideale Menschen voraussetzte, so sah er keinen Schaden,
den die weitgehendste Vereins- und Versammlungsfreiheit haben könne. In der Wirt-
schaftstheorie aber war er noch ganz in den Anschauungen des aufgeklärten Despotismus
befangen, dessen Aufgabe der Kampf gegen alle Korporationen und Ständebildungen
war. Wie man alles Zunftwesen bekämpft hatte, so blieb man bis 1860--75 in den
Anschauungen befangen, jede Vereinigung von Unternehmern und Arbeitern sei ein
unberechtigtes Mittel, künstlich Angebot und Nachfrage in ihrer Wirkung zu beschränken.
Man war also mit den entsprechenden gesetzlichen Verboten der Vereine einverstanden.
Nur für das politische Leben hatte der Liberalismus die Vereinsfreiheit seit 1789
gefordert; da vergaß er, daß weder der römische Rechtsstaat, noch der Absolutismus von
1600--1800 sie gekannt, daß der letztere den Ständestaat nur durch die Unterdrückung
aller Vereine und Korporationen überwunden hatte.

Im Laufe des 19. Jahrhunderts wurde das Verlangen nach politischer, socialer und
wirtschaftlicher Vereinsfreiheit aber immer dringlicher. Wo die Gewerbefreiheit gesiegt
hatte, zeigten sich bald die Anfänge neuer Vereinsbildungen aller Art; die Arbeiter
sahen sich ohne Vereinsfreiheit nach allen Seiten gehemmt. Der Socialismus hatte die
Forderung der Vereinsfreiheit vom Liberalismus als selbstverständliches Urrecht jedes

Die ſocialen Klaſſen im Staate der Rechtsgleichheit. Das Vereinsweſen.
aber auch ihre Wünſche, mehr zu erhalten, ihr ſtarker Drang emporzuſteigen, die Un-
möglichkeit, in ſtumpfer Reſignation und demütiger Beſcheidenheit zu verharren wie
früher. Ihr Klaſſenbewußtſein iſt erwacht und bethätigt ſich nun in einem unwider-
ſtehlichen Zuge nach Vereinigung, nach Zuſammenſchluß. Und da ihre individualiſtiſchen
und egoiſtiſchen Gefühle weniger ausgebildet ſind als bei den oberen Klaſſen, da ſie
durch Mangel an Beſitz und Familienverbindung ꝛc. ein ſtärkeres Bedürfnis der geſell-
ſchaftlichen Anlehnung haben, in ſtarken Gemütsimpulſen ſich noch naiv und ungebrochen
ihrem Klaſſenbewußtſein hingeben, ſo iſt in ihren Kreiſen ein Vereinsleben, eine Klaſſen-
organiſation entſtanden, wie ſie einſt die oberen Klaſſen hatten, wie ſie heute ihnen
aber nicht mehr ſo leicht und ſo allgemein gelingt.

Brentano ſagt, das Princip des Zuſammenſchluſſes ſei ſtets das Princip der
Schwachen geweſen, um ſich gegen die Starken zu ſchützen. Ich glaube, die Geſchichte
zeigt uns, daß in der älteſten Zeit ſich faſt nur der Adel, die Prieſter, die Krieger,
die Kaufleute klaſſenmäßig organiſierten; viel ſpäter erſt (im Mittelalter) gelang es den
Handwerkern und Bauern, erſt neuerdings den unteren Klaſſen. Dieſe wichtigſte That-
ſache aus der Geſchichte der ſocialen Entwickelung der Menſchheit, welche für mich einen
der Stützpunkte einer Hoffnung auf fortſchreitend gerechtere ſociale Entwickelung der
Menſchheit bildet, iſt pſychologiſch und geſellſchaftlich nicht ſchwer zu erklären. Jede
Organiſation der Klaſſe ſetzt eine gewiſſe geiſtig-moraliſche Entwickelung, aber auch noch
das Vorhandenſein ſehr ſtarker Gemeinſchaftsgefühle, den Mangel eines intenſiven Indivi-
dualismus und die Abweſenheit ſtarker Hemmniſſe der Organiſation durch den Staat
oder die anderen Klaſſen voraus. Die oberen Klaſſen organiſierten ſich, ehe es eine feſte
Staatsgewalt gab, und nahmen ſie in die Hand; der Mittelſtand konnte ſich erſt organi-
ſieren, als eine gewiſſe Selbſtändigkeit der Staatsgewalt neben und über der Ariſtokratie
entſtanden war. Für den Arbeiterſtand und ſein Aufſteigen iſt heute eine Organiſation
möglich geworden, weil er emporſtieg und doch noch nicht ſo ſtark individualiſtiſch fühlt
wie die oberen Klaſſen. Ob ſie ihm gelingt, wie ſie ſich geſtaltet, wie ſie wirkt, das
hängt von den Arbeiterführern, dem Gegendruck der übrigen Klaſſen, denen das unbequem
iſt, und der Staatsgewalt ſowie ihrer Geſetzgebung ab.

So ſteht heute das Problem der Organiſation der Arbeiter, in zweiter Linie
auch der übrigen Klaſſen der Geſellſchaft im Vordergrunde der Socialpolitik; die theo-
retiſche Betrachtung unſerer heutigen Klaſſenordnung und die praktiſche Erörterung ihrer
Fortbildung hängt an dieſem Punkte, alſo weſentlich an dem Vereinsrecht.

Der Liberalismus dachte zunächſt über das politiſche und das wirtſchaft-
liche
Vereinsweſen ziemlich verſchieden. So ſehr er die Freiheit des erſteren als ſelbſt-
verſtändlich forderte, ſo wenig war ihm das zweite ſympathiſch. Da er in der Politik eine
gut geordnete Staatsgewalt und ideale Menſchen vorausſetzte, ſo ſah er keinen Schaden,
den die weitgehendſte Vereins- und Verſammlungsfreiheit haben könne. In der Wirt-
ſchaftstheorie aber war er noch ganz in den Anſchauungen des aufgeklärten Despotismus
befangen, deſſen Aufgabe der Kampf gegen alle Korporationen und Ständebildungen
war. Wie man alles Zunftweſen bekämpft hatte, ſo blieb man bis 1860—75 in den
Anſchauungen befangen, jede Vereinigung von Unternehmern und Arbeitern ſei ein
unberechtigtes Mittel, künſtlich Angebot und Nachfrage in ihrer Wirkung zu beſchränken.
Man war alſo mit den entſprechenden geſetzlichen Verboten der Vereine einverſtanden.
Nur für das politiſche Leben hatte der Liberalismus die Vereinsfreiheit ſeit 1789
gefordert; da vergaß er, daß weder der römiſche Rechtsſtaat, noch der Abſolutismus von
1600—1800 ſie gekannt, daß der letztere den Ständeſtaat nur durch die Unterdrückung
aller Vereine und Korporationen überwunden hatte.

Im Laufe des 19. Jahrhunderts wurde das Verlangen nach politiſcher, ſocialer und
wirtſchaftlicher Vereinsfreiheit aber immer dringlicher. Wo die Gewerbefreiheit geſiegt
hatte, zeigten ſich bald die Anfänge neuer Vereinsbildungen aller Art; die Arbeiter
ſahen ſich ohne Vereinsfreiheit nach allen Seiten gehemmt. Der Socialismus hatte die
Forderung der Vereinsfreiheit vom Liberalismus als ſelbſtverſtändliches Urrecht jedes

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[407/0423] Die ſocialen Klaſſen im Staate der Rechtsgleichheit. Das Vereinsweſen. aber auch ihre Wünſche, mehr zu erhalten, ihr ſtarker Drang emporzuſteigen, die Un- möglichkeit, in ſtumpfer Reſignation und demütiger Beſcheidenheit zu verharren wie früher. Ihr Klaſſenbewußtſein iſt erwacht und bethätigt ſich nun in einem unwider- ſtehlichen Zuge nach Vereinigung, nach Zuſammenſchluß. Und da ihre individualiſtiſchen und egoiſtiſchen Gefühle weniger ausgebildet ſind als bei den oberen Klaſſen, da ſie durch Mangel an Beſitz und Familienverbindung ꝛc. ein ſtärkeres Bedürfnis der geſell- ſchaftlichen Anlehnung haben, in ſtarken Gemütsimpulſen ſich noch naiv und ungebrochen ihrem Klaſſenbewußtſein hingeben, ſo iſt in ihren Kreiſen ein Vereinsleben, eine Klaſſen- organiſation entſtanden, wie ſie einſt die oberen Klaſſen hatten, wie ſie heute ihnen aber nicht mehr ſo leicht und ſo allgemein gelingt. Brentano ſagt, das Princip des Zuſammenſchluſſes ſei ſtets das Princip der Schwachen geweſen, um ſich gegen die Starken zu ſchützen. Ich glaube, die Geſchichte zeigt uns, daß in der älteſten Zeit ſich faſt nur der Adel, die Prieſter, die Krieger, die Kaufleute klaſſenmäßig organiſierten; viel ſpäter erſt (im Mittelalter) gelang es den Handwerkern und Bauern, erſt neuerdings den unteren Klaſſen. Dieſe wichtigſte That- ſache aus der Geſchichte der ſocialen Entwickelung der Menſchheit, welche für mich einen der Stützpunkte einer Hoffnung auf fortſchreitend gerechtere ſociale Entwickelung der Menſchheit bildet, iſt pſychologiſch und geſellſchaftlich nicht ſchwer zu erklären. Jede Organiſation der Klaſſe ſetzt eine gewiſſe geiſtig-moraliſche Entwickelung, aber auch noch das Vorhandenſein ſehr ſtarker Gemeinſchaftsgefühle, den Mangel eines intenſiven Indivi- dualismus und die Abweſenheit ſtarker Hemmniſſe der Organiſation durch den Staat oder die anderen Klaſſen voraus. Die oberen Klaſſen organiſierten ſich, ehe es eine feſte Staatsgewalt gab, und nahmen ſie in die Hand; der Mittelſtand konnte ſich erſt organi- ſieren, als eine gewiſſe Selbſtändigkeit der Staatsgewalt neben und über der Ariſtokratie entſtanden war. Für den Arbeiterſtand und ſein Aufſteigen iſt heute eine Organiſation möglich geworden, weil er emporſtieg und doch noch nicht ſo ſtark individualiſtiſch fühlt wie die oberen Klaſſen. Ob ſie ihm gelingt, wie ſie ſich geſtaltet, wie ſie wirkt, das hängt von den Arbeiterführern, dem Gegendruck der übrigen Klaſſen, denen das unbequem iſt, und der Staatsgewalt ſowie ihrer Geſetzgebung ab. So ſteht heute das Problem der Organiſation der Arbeiter, in zweiter Linie auch der übrigen Klaſſen der Geſellſchaft im Vordergrunde der Socialpolitik; die theo- retiſche Betrachtung unſerer heutigen Klaſſenordnung und die praktiſche Erörterung ihrer Fortbildung hängt an dieſem Punkte, alſo weſentlich an dem Vereinsrecht. Der Liberalismus dachte zunächſt über das politiſche und das wirtſchaft- liche Vereinsweſen ziemlich verſchieden. So ſehr er die Freiheit des erſteren als ſelbſt- verſtändlich forderte, ſo wenig war ihm das zweite ſympathiſch. Da er in der Politik eine gut geordnete Staatsgewalt und ideale Menſchen vorausſetzte, ſo ſah er keinen Schaden, den die weitgehendſte Vereins- und Verſammlungsfreiheit haben könne. In der Wirt- ſchaftstheorie aber war er noch ganz in den Anſchauungen des aufgeklärten Despotismus befangen, deſſen Aufgabe der Kampf gegen alle Korporationen und Ständebildungen war. Wie man alles Zunftweſen bekämpft hatte, ſo blieb man bis 1860—75 in den Anſchauungen befangen, jede Vereinigung von Unternehmern und Arbeitern ſei ein unberechtigtes Mittel, künſtlich Angebot und Nachfrage in ihrer Wirkung zu beſchränken. Man war alſo mit den entſprechenden geſetzlichen Verboten der Vereine einverſtanden. Nur für das politiſche Leben hatte der Liberalismus die Vereinsfreiheit ſeit 1789 gefordert; da vergaß er, daß weder der römiſche Rechtsſtaat, noch der Abſolutismus von 1600—1800 ſie gekannt, daß der letztere den Ständeſtaat nur durch die Unterdrückung aller Vereine und Korporationen überwunden hatte. Im Laufe des 19. Jahrhunderts wurde das Verlangen nach politiſcher, ſocialer und wirtſchaftlicher Vereinsfreiheit aber immer dringlicher. Wo die Gewerbefreiheit geſiegt hatte, zeigten ſich bald die Anfänge neuer Vereinsbildungen aller Art; die Arbeiter ſahen ſich ohne Vereinsfreiheit nach allen Seiten gehemmt. Der Socialismus hatte die Forderung der Vereinsfreiheit vom Liberalismus als ſelbſtverſtändliches Urrecht jedes

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Zitationshilfe: Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900, S. 407. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schmoller_grundriss01_1900/423>, abgerufen am 22.11.2024.