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Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900.

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Großbetriebe in Kollektivhänden. Das Beamtentum des Großbetriebes.
falsch das auch für die Aktiengesellschaften ist. Aber ein Korn Wahrheit, und zwar
ein erhebliches steckt darin. Das Gedeihen größerer Geschäfte hängt heute wesentlich
an diesem Beamtentum. Einer der genialsten, klügsten und ehrenhaftesten deutschen
Leiter riesenhafter Aktiengesellschaften und Kartelle sagte mir einst, die ganze Arbeit
seines Lebens stecke in den Bemühungen, ein kaufmännisch-technisches Beamtentum zu
erziehen, das fähig sei, fremdes Kapital pflichttreu und gewinnbringend zu verwalten.
Der gewöhnliche Erwerbstrieb lenkt diese Menschen nicht in erster Linie, auch wenn sie
Tantiemen erhalten. Andere Motive müssen das Beste thun: das Interesse am Geschäft,
Ehrlichkeit, gute, aufsteigende Gehälter, Versorgung im Alter, Verträge auf Jahre oder
Lebenszeit. Zugleich ist klar, daß der Unterschied der großen Geschäfte, welche eine
erhebliche Zahl solcher Angestellten beschäftigen, von Gemeinde- und Staatsbetrieben
zwar nicht ganz verschwindet, aber sehr abnimmt. Der Schlendrian, die Neigung, bei
festem Gehalt sich nicht mehr zu sehr anzustrengen, auch die großen Mißstände wie
Unterschlagungen, Untreue aller Art, müssen mit diesem System ebenso zunehmen, wie
eine komplizierte Überwachung und Kontrolle. Die Kosten für Kontrolle (z. B. durch
ein kompliziertes Buchungssystem, das jede Unregelmäßigkeit rasch zu Tage bringt)
sind außerordentlich groß. Der Leiter einer unserer größten Aktienbanken sagte mir,
ohne diese Kontrollen könnte seine Bank fast mit der Hälfte des Personals auskommen.
Auch darf nicht unterschätzt werden, welche Summe von Intriguen, Reibungen, Kon-
flikten, Patronage unfähiger Verwandter in jedes große Geschäft durch die steigende
Schwerfälligkeit des Beamtenapparates kommt, wie viel schwerer es hier ist als im
Staate mit seinen Prüfungen und seiner alten Tradition, gerecht, unparteiisch, sachgemäß
die Beförderungen und Stellenbesetzungen vorzunehmen.

Die großen technischen und geschäftlichen Vorteile des Großbetriebes stehen so einer
erheblichen Summe von Kosten und Schwierigkeiten gegenüber; sie werden in gut geleiteten
Geschäften die Vorteile nicht erreichen, sonst rentierten diese nicht, sonst nähme der
Großbetrieb nicht zu. Aber sie sind ein wichtiges Element der Entwickelung, sie können
an bestimmten Punkten immer den Großbetrieb unmöglich machen.

ad 3. Die Frage der Arbeiterbehandlung im Großbetrieb können wir hier nicht
erschöpfen wollen. Auf die wichtigsten Einzelheiten des Arbeitsrechts und der socialen
Reform kommen wir ohnedies im folgenden Buche. Aber die eine große principielle
Frage haben wir hier kurz zu erledigen: warum ist die patriarchalische Verfassung der
Großindustrie zunächst entstanden, warum und wo wird sie verschwinden und durch eine
andere ersetzt werden?

Als in der Zeit von 1770--1850 sich der Großbetrieb in Westeuropa verbreitete,
sich in der Hauptsache dabei freier, besitzloser Arbeiter bediente und sie in freiem Arbeits-
vertrag den Geschäften angliederte, da konnte zunächst ein anderes Verhältnis als das
patriarchalische nicht leicht entstehen. Das heißt, die meisten Geschäfte entstanden in
Anlehnung an die Familienwirtschaft des Unternehmers; dieser kannte kein anderes
Herrschaftsverhältnis gegenüber helfenden und dienenden Kräften als dasjenige, wie es
der Hausvater gegen Gesinde, Lehrlinge, Gesellen und Knechte hatte. Die Arbeiter
hatten kein Selbstbewußtsein, in demütiger Unterordnung standen sie den Unternehmern
gegenüber. Auch die Gesetzgebung und Verwaltung kannte kein anderes Verhältnis.
Für die meisten Arbeiter jener Tage war eine gewisse Bevormundung und Leitung
durch die Unternehmer angezeigt; und so lange die Geschäfte klein, die Arbeiter aus
der Gegend, als Nachbarn und Gemeindegenossen dem Unternehmer bekannt waren,
entsprach eine patriarchalische Behandlung den Verhältnissen. Das wurde aber anders,
als die Geschäfte größer, Arbeiter von außen herangezogen wurden, als die Beschäftigung
von älteren, verheirateten Arbeitern zunahm, als die Wohnungen der Arbeiter sich
räumlich meist weiter von den Arbeitsstätten entfernten, die menschlichen und Nachbar-
beziehungen zwischen dem Arbeitgeber und seiner Familie einerseits, den Arbeitern und
deren Familien andererseits seltener und loser wurden. Der bewegliche Arbeitsmarkt,
die Freizügigkeit, bald auch die Lohnkämpfe, die Sitte, rücksichtslos überflüssige Arbeits-
kräfte zu entlassen, erzeugten in steigendem Maße die Auflösung der alten menschlichen

Großbetriebe in Kollektivhänden. Das Beamtentum des Großbetriebes.
falſch das auch für die Aktiengeſellſchaften iſt. Aber ein Korn Wahrheit, und zwar
ein erhebliches ſteckt darin. Das Gedeihen größerer Geſchäfte hängt heute weſentlich
an dieſem Beamtentum. Einer der genialſten, klügſten und ehrenhafteſten deutſchen
Leiter rieſenhafter Aktiengeſellſchaften und Kartelle ſagte mir einſt, die ganze Arbeit
ſeines Lebens ſtecke in den Bemühungen, ein kaufmänniſch-techniſches Beamtentum zu
erziehen, das fähig ſei, fremdes Kapital pflichttreu und gewinnbringend zu verwalten.
Der gewöhnliche Erwerbstrieb lenkt dieſe Menſchen nicht in erſter Linie, auch wenn ſie
Tantièmen erhalten. Andere Motive müſſen das Beſte thun: das Intereſſe am Geſchäft,
Ehrlichkeit, gute, aufſteigende Gehälter, Verſorgung im Alter, Verträge auf Jahre oder
Lebenszeit. Zugleich iſt klar, daß der Unterſchied der großen Geſchäfte, welche eine
erhebliche Zahl ſolcher Angeſtellten beſchäftigen, von Gemeinde- und Staatsbetrieben
zwar nicht ganz verſchwindet, aber ſehr abnimmt. Der Schlendrian, die Neigung, bei
feſtem Gehalt ſich nicht mehr zu ſehr anzuſtrengen, auch die großen Mißſtände wie
Unterſchlagungen, Untreue aller Art, müſſen mit dieſem Syſtem ebenſo zunehmen, wie
eine komplizierte Überwachung und Kontrolle. Die Koſten für Kontrolle (z. B. durch
ein kompliziertes Buchungsſyſtem, das jede Unregelmäßigkeit raſch zu Tage bringt)
ſind außerordentlich groß. Der Leiter einer unſerer größten Aktienbanken ſagte mir,
ohne dieſe Kontrollen könnte ſeine Bank faſt mit der Hälfte des Perſonals auskommen.
Auch darf nicht unterſchätzt werden, welche Summe von Intriguen, Reibungen, Kon-
flikten, Patronage unfähiger Verwandter in jedes große Geſchäft durch die ſteigende
Schwerfälligkeit des Beamtenapparates kommt, wie viel ſchwerer es hier iſt als im
Staate mit ſeinen Prüfungen und ſeiner alten Tradition, gerecht, unparteiiſch, ſachgemäß
die Beförderungen und Stellenbeſetzungen vorzunehmen.

Die großen techniſchen und geſchäftlichen Vorteile des Großbetriebes ſtehen ſo einer
erheblichen Summe von Koſten und Schwierigkeiten gegenüber; ſie werden in gut geleiteten
Geſchäften die Vorteile nicht erreichen, ſonſt rentierten dieſe nicht, ſonſt nähme der
Großbetrieb nicht zu. Aber ſie ſind ein wichtiges Element der Entwickelung, ſie können
an beſtimmten Punkten immer den Großbetrieb unmöglich machen.

ad 3. Die Frage der Arbeiterbehandlung im Großbetrieb können wir hier nicht
erſchöpfen wollen. Auf die wichtigſten Einzelheiten des Arbeitsrechts und der ſocialen
Reform kommen wir ohnedies im folgenden Buche. Aber die eine große principielle
Frage haben wir hier kurz zu erledigen: warum iſt die patriarchaliſche Verfaſſung der
Großinduſtrie zunächſt entſtanden, warum und wo wird ſie verſchwinden und durch eine
andere erſetzt werden?

Als in der Zeit von 1770—1850 ſich der Großbetrieb in Weſteuropa verbreitete,
ſich in der Hauptſache dabei freier, beſitzloſer Arbeiter bediente und ſie in freiem Arbeits-
vertrag den Geſchäften angliederte, da konnte zunächſt ein anderes Verhältnis als das
patriarchaliſche nicht leicht entſtehen. Das heißt, die meiſten Geſchäfte entſtanden in
Anlehnung an die Familienwirtſchaft des Unternehmers; dieſer kannte kein anderes
Herrſchaftsverhältnis gegenüber helfenden und dienenden Kräften als dasjenige, wie es
der Hausvater gegen Geſinde, Lehrlinge, Geſellen und Knechte hatte. Die Arbeiter
hatten kein Selbſtbewußtſein, in demütiger Unterordnung ſtanden ſie den Unternehmern
gegenüber. Auch die Geſetzgebung und Verwaltung kannte kein anderes Verhältnis.
Für die meiſten Arbeiter jener Tage war eine gewiſſe Bevormundung und Leitung
durch die Unternehmer angezeigt; und ſo lange die Geſchäfte klein, die Arbeiter aus
der Gegend, als Nachbarn und Gemeindegenoſſen dem Unternehmer bekannt waren,
entſprach eine patriarchaliſche Behandlung den Verhältniſſen. Das wurde aber anders,
als die Geſchäfte größer, Arbeiter von außen herangezogen wurden, als die Beſchäftigung
von älteren, verheirateten Arbeitern zunahm, als die Wohnungen der Arbeiter ſich
räumlich meiſt weiter von den Arbeitsſtätten entfernten, die menſchlichen und Nachbar-
beziehungen zwiſchen dem Arbeitgeber und ſeiner Familie einerſeits, den Arbeitern und
deren Familien andererſeits ſeltener und loſer wurden. Der bewegliche Arbeitsmarkt,
die Freizügigkeit, bald auch die Lohnkämpfe, die Sitte, rückſichtslos überflüſſige Arbeits-
kräfte zu entlaſſen, erzeugten in ſteigendem Maße die Auflöſung der alten menſchlichen

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[437/0453] Großbetriebe in Kollektivhänden. Das Beamtentum des Großbetriebes. falſch das auch für die Aktiengeſellſchaften iſt. Aber ein Korn Wahrheit, und zwar ein erhebliches ſteckt darin. Das Gedeihen größerer Geſchäfte hängt heute weſentlich an dieſem Beamtentum. Einer der genialſten, klügſten und ehrenhafteſten deutſchen Leiter rieſenhafter Aktiengeſellſchaften und Kartelle ſagte mir einſt, die ganze Arbeit ſeines Lebens ſtecke in den Bemühungen, ein kaufmänniſch-techniſches Beamtentum zu erziehen, das fähig ſei, fremdes Kapital pflichttreu und gewinnbringend zu verwalten. Der gewöhnliche Erwerbstrieb lenkt dieſe Menſchen nicht in erſter Linie, auch wenn ſie Tantièmen erhalten. Andere Motive müſſen das Beſte thun: das Intereſſe am Geſchäft, Ehrlichkeit, gute, aufſteigende Gehälter, Verſorgung im Alter, Verträge auf Jahre oder Lebenszeit. Zugleich iſt klar, daß der Unterſchied der großen Geſchäfte, welche eine erhebliche Zahl ſolcher Angeſtellten beſchäftigen, von Gemeinde- und Staatsbetrieben zwar nicht ganz verſchwindet, aber ſehr abnimmt. Der Schlendrian, die Neigung, bei feſtem Gehalt ſich nicht mehr zu ſehr anzuſtrengen, auch die großen Mißſtände wie Unterſchlagungen, Untreue aller Art, müſſen mit dieſem Syſtem ebenſo zunehmen, wie eine komplizierte Überwachung und Kontrolle. Die Koſten für Kontrolle (z. B. durch ein kompliziertes Buchungsſyſtem, das jede Unregelmäßigkeit raſch zu Tage bringt) ſind außerordentlich groß. Der Leiter einer unſerer größten Aktienbanken ſagte mir, ohne dieſe Kontrollen könnte ſeine Bank faſt mit der Hälfte des Perſonals auskommen. Auch darf nicht unterſchätzt werden, welche Summe von Intriguen, Reibungen, Kon- flikten, Patronage unfähiger Verwandter in jedes große Geſchäft durch die ſteigende Schwerfälligkeit des Beamtenapparates kommt, wie viel ſchwerer es hier iſt als im Staate mit ſeinen Prüfungen und ſeiner alten Tradition, gerecht, unparteiiſch, ſachgemäß die Beförderungen und Stellenbeſetzungen vorzunehmen. Die großen techniſchen und geſchäftlichen Vorteile des Großbetriebes ſtehen ſo einer erheblichen Summe von Koſten und Schwierigkeiten gegenüber; ſie werden in gut geleiteten Geſchäften die Vorteile nicht erreichen, ſonſt rentierten dieſe nicht, ſonſt nähme der Großbetrieb nicht zu. Aber ſie ſind ein wichtiges Element der Entwickelung, ſie können an beſtimmten Punkten immer den Großbetrieb unmöglich machen. ad 3. Die Frage der Arbeiterbehandlung im Großbetrieb können wir hier nicht erſchöpfen wollen. Auf die wichtigſten Einzelheiten des Arbeitsrechts und der ſocialen Reform kommen wir ohnedies im folgenden Buche. Aber die eine große principielle Frage haben wir hier kurz zu erledigen: warum iſt die patriarchaliſche Verfaſſung der Großinduſtrie zunächſt entſtanden, warum und wo wird ſie verſchwinden und durch eine andere erſetzt werden? Als in der Zeit von 1770—1850 ſich der Großbetrieb in Weſteuropa verbreitete, ſich in der Hauptſache dabei freier, beſitzloſer Arbeiter bediente und ſie in freiem Arbeits- vertrag den Geſchäften angliederte, da konnte zunächſt ein anderes Verhältnis als das patriarchaliſche nicht leicht entſtehen. Das heißt, die meiſten Geſchäfte entſtanden in Anlehnung an die Familienwirtſchaft des Unternehmers; dieſer kannte kein anderes Herrſchaftsverhältnis gegenüber helfenden und dienenden Kräften als dasjenige, wie es der Hausvater gegen Geſinde, Lehrlinge, Geſellen und Knechte hatte. Die Arbeiter hatten kein Selbſtbewußtſein, in demütiger Unterordnung ſtanden ſie den Unternehmern gegenüber. Auch die Geſetzgebung und Verwaltung kannte kein anderes Verhältnis. Für die meiſten Arbeiter jener Tage war eine gewiſſe Bevormundung und Leitung durch die Unternehmer angezeigt; und ſo lange die Geſchäfte klein, die Arbeiter aus der Gegend, als Nachbarn und Gemeindegenoſſen dem Unternehmer bekannt waren, entſprach eine patriarchaliſche Behandlung den Verhältniſſen. Das wurde aber anders, als die Geſchäfte größer, Arbeiter von außen herangezogen wurden, als die Beſchäftigung von älteren, verheirateten Arbeitern zunahm, als die Wohnungen der Arbeiter ſich räumlich meiſt weiter von den Arbeitsſtätten entfernten, die menſchlichen und Nachbar- beziehungen zwiſchen dem Arbeitgeber und ſeiner Familie einerſeits, den Arbeitern und deren Familien andererſeits ſeltener und loſer wurden. Der bewegliche Arbeitsmarkt, die Freizügigkeit, bald auch die Lohnkämpfe, die Sitte, rückſichtslos überflüſſige Arbeits- kräfte zu entlaſſen, erzeugten in ſteigendem Maße die Auflöſung der alten menſchlichen

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Zitationshilfe: Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900, S. 437. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schmoller_grundriss01_1900/453>, abgerufen am 22.11.2024.