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Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900.

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Die patriarchalische Verfassung des Großbetriebes, ihr Zurückweichen, ihr Ersatz.
alles so bleiben kann, wie es ist, daß eine neue Art der Verfassung kommen müsse, wenn
auch die bisherige Gestaltung ihm begreiflich erscheint.

Die Unternehmer der ersten Generation, welche die Großbetriebe unter unsäglichen
Schwierigkeiten, im heftigen Konkurrenzkampf gründeten, auf dem gesetzlichen Boden einer
einseitigen Freiheitslehre die bisher ungeschulten Massen als Arbeiter in die Fabrik
zogen und für die dortigen Aufgaben disciplinierten, konnten dies Ziel nur erreichen,
die neue Technik und die neuen Absatzwege nur organisieren durch die außerordentliche
Übermacht, welche ihnen Intelligenz, kaufmännische Gewandtheit und großer Besitz gaben,
durch die weitgehende herrschaftliche Autorität, welche sie über die unorganisierten,
besitzlosen Arbeiter durch die Fabrikdisciplin und das beliebige Entlassungsrecht übten.
Man könnte sagen, die rücksichtslose Geschäftsenergie habe so einen geschäftlichen Neubau
der Volkswirtschaft vollzogen, technisch und kaufmännisch dabei das Höchste geleistet,
aber auch durch Überspannung der Konkurrenz und Gewinnsucht viel Unheil gestiftet
und durch die Nichtrücksichtnahme auf Leben und Gesundheit, Bildung und Familien-
interessen der Arbeiter, durch die übermäßige Ausdehnung der Arbeitszeit, durch über-
mäßige Frauen- und Kinderarbeit, durch Lohndruck und Ausbeutung der unteren Klassen
in die moderne, private, rein auf den Gewinn arbeitende Unternehmung Keime der
Reibung und des Kampfes gelegt, die nach und nach zu einer Umgestaltung und Reform
führen müssen.

Die Reform hat in erster Linie davon auszugehen, daß die großen Betriebe nicht
mehr unter demselben Recht stehen können wie die Hauswirtschaft, daß sie mehr und
mehr der Gegenstand des öffentlichen Interesses sind. Von ihrer Verfassung und Ein-
richtung hängt das wirtschaftliche und moralische Wohl des Ortes, der Gegend, der
Gesellschaft ab. Sie gleichen Gemeinden, ja teilweise kleinen Staaten eher als Familien;
wo 1000--40000 Personen in einem Großbetrieb arbeiten, handelt es sich direkt um
die Existenz von 5000--200000 Menschen, indirekt um noch viel mehr. Sie sind,
auch in privaten Händen, dauernde Anstalten mit halb öffentlichem Charakter; sie
beherrschen das Leben, das Gedeihen, die Existenz ganzer Gegenden und Provinzen, sie
beeinflussen oft sogar die Staatsgewalt. Ihre Organisation hat durch die neue Form des
Genossenschafts- und Gesellschaftsrechts, wovon wir gleich eingehender reden, durch die
ganze staatliche Fabrik-, Bergwerks-, Arbeiterschutzgesetzgebung und die daran sich knüpfende
staatliche Aufsicht, durch die Fortbildung des Arbeitsvertrags, durch die feinere Aus-
bildung der Lohnzahlungsformen einen gemeindeartigen Charakter erhalten. Die
Entstehung von Arbeiterausschüssen und Ältestenkollegien in den Großbetrieben zum
Zweck der Verhandlung mit den Unternehmern über die Arbeitsordnung, die Lohnform,
die Hülfskassen und anderes, zur Verwaltung von Wohlfahrtseinrichtungen, zur Be-
aufsichtigung und Erziehung der jungen Arbeiter, hat bescheiden die Anfänge einer Arbeiter-
vertretung in den Großbetrieben geschaffen. Die Entstehung der Gewerk- und Fach-
vereine hat natürlich zunächst vielfach die socialen Kämpfe gesteigert und wird bis heute
von den Vertretern des patriarchalischen Systems nur als eine Hinderung der Autorität
angesehen. Sie kann es gewiß sein. Aber bei richtiger Leitung der Vereine und richtiger
Verhandlung mit ihnen können sie, wie die daran sich knüpfenden Einigungsämter und
Schiedsgerichte, eine Stärkung der Ordnung und Autorität und das beste Hülfsmittel
werden, den Frieden wieder herzustellen.

Gewiß liegt der Hauptteil dieser großen Aufgaben noch in der Zukunft. Wir
stehen mitten inne in dem Ringen nach den neuen besseren, aber auch viel komplizierteren
Formen des Großbetriebes. Wir werden sie nur erhalten, wenn die leitenden und
die ausführenden Kräfte mehr und mehr auf einen höheren intellektuellen und moralischen
Standpunkt sich stellen, in ihren gesamten Eigenschaften sich heben, wenn sie fähig werden,
neben den Interessengegensätzen die gemeinsamen Ziele zu suchen und zu verfolgen.

Aber unmöglich ist hier nicht, was in der Gemeinde und im Staate möglich
war: eine friedliche konstitutionelle Verfassung, wobei jeder Teil in seiner Sphäre gewisse
Rechte ausübt und Pflichten erfüllt.

Die patriarchaliſche Verfaſſung des Großbetriebes, ihr Zurückweichen, ihr Erſatz.
alles ſo bleiben kann, wie es iſt, daß eine neue Art der Verfaſſung kommen müſſe, wenn
auch die bisherige Geſtaltung ihm begreiflich erſcheint.

Die Unternehmer der erſten Generation, welche die Großbetriebe unter unſäglichen
Schwierigkeiten, im heftigen Konkurrenzkampf gründeten, auf dem geſetzlichen Boden einer
einſeitigen Freiheitslehre die bisher ungeſchulten Maſſen als Arbeiter in die Fabrik
zogen und für die dortigen Aufgaben disciplinierten, konnten dies Ziel nur erreichen,
die neue Technik und die neuen Abſatzwege nur organiſieren durch die außerordentliche
Übermacht, welche ihnen Intelligenz, kaufmänniſche Gewandtheit und großer Beſitz gaben,
durch die weitgehende herrſchaftliche Autorität, welche ſie über die unorganiſierten,
beſitzloſen Arbeiter durch die Fabrikdisciplin und das beliebige Entlaſſungsrecht übten.
Man könnte ſagen, die rückſichtsloſe Geſchäftsenergie habe ſo einen geſchäftlichen Neubau
der Volkswirtſchaft vollzogen, techniſch und kaufmänniſch dabei das Höchſte geleiſtet,
aber auch durch Überſpannung der Konkurrenz und Gewinnſucht viel Unheil geſtiftet
und durch die Nichtrückſichtnahme auf Leben und Geſundheit, Bildung und Familien-
intereſſen der Arbeiter, durch die übermäßige Ausdehnung der Arbeitszeit, durch über-
mäßige Frauen- und Kinderarbeit, durch Lohndruck und Ausbeutung der unteren Klaſſen
in die moderne, private, rein auf den Gewinn arbeitende Unternehmung Keime der
Reibung und des Kampfes gelegt, die nach und nach zu einer Umgeſtaltung und Reform
führen müſſen.

Die Reform hat in erſter Linie davon auszugehen, daß die großen Betriebe nicht
mehr unter demſelben Recht ſtehen können wie die Hauswirtſchaft, daß ſie mehr und
mehr der Gegenſtand des öffentlichen Intereſſes ſind. Von ihrer Verfaſſung und Ein-
richtung hängt das wirtſchaftliche und moraliſche Wohl des Ortes, der Gegend, der
Geſellſchaft ab. Sie gleichen Gemeinden, ja teilweiſe kleinen Staaten eher als Familien;
wo 1000—40000 Perſonen in einem Großbetrieb arbeiten, handelt es ſich direkt um
die Exiſtenz von 5000—200000 Menſchen, indirekt um noch viel mehr. Sie ſind,
auch in privaten Händen, dauernde Anſtalten mit halb öffentlichem Charakter; ſie
beherrſchen das Leben, das Gedeihen, die Exiſtenz ganzer Gegenden und Provinzen, ſie
beeinfluſſen oft ſogar die Staatsgewalt. Ihre Organiſation hat durch die neue Form des
Genoſſenſchafts- und Geſellſchaftsrechts, wovon wir gleich eingehender reden, durch die
ganze ſtaatliche Fabrik-, Bergwerks-, Arbeiterſchutzgeſetzgebung und die daran ſich knüpfende
ſtaatliche Aufſicht, durch die Fortbildung des Arbeitsvertrags, durch die feinere Aus-
bildung der Lohnzahlungsformen einen gemeindeartigen Charakter erhalten. Die
Entſtehung von Arbeiterausſchüſſen und Älteſtenkollegien in den Großbetrieben zum
Zweck der Verhandlung mit den Unternehmern über die Arbeitsordnung, die Lohnform,
die Hülfskaſſen und anderes, zur Verwaltung von Wohlfahrtseinrichtungen, zur Be-
aufſichtigung und Erziehung der jungen Arbeiter, hat beſcheiden die Anfänge einer Arbeiter-
vertretung in den Großbetrieben geſchaffen. Die Entſtehung der Gewerk- und Fach-
vereine hat natürlich zunächſt vielfach die ſocialen Kämpfe geſteigert und wird bis heute
von den Vertretern des patriarchaliſchen Syſtems nur als eine Hinderung der Autorität
angeſehen. Sie kann es gewiß ſein. Aber bei richtiger Leitung der Vereine und richtiger
Verhandlung mit ihnen können ſie, wie die daran ſich knüpfenden Einigungsämter und
Schiedsgerichte, eine Stärkung der Ordnung und Autorität und das beſte Hülfsmittel
werden, den Frieden wieder herzuſtellen.

Gewiß liegt der Hauptteil dieſer großen Aufgaben noch in der Zukunft. Wir
ſtehen mitten inne in dem Ringen nach den neuen beſſeren, aber auch viel komplizierteren
Formen des Großbetriebes. Wir werden ſie nur erhalten, wenn die leitenden und
die ausführenden Kräfte mehr und mehr auf einen höheren intellektuellen und moraliſchen
Standpunkt ſich ſtellen, in ihren geſamten Eigenſchaften ſich heben, wenn ſie fähig werden,
neben den Intereſſengegenſätzen die gemeinſamen Ziele zu ſuchen und zu verfolgen.

Aber unmöglich iſt hier nicht, was in der Gemeinde und im Staate möglich
war: eine friedliche konſtitutionelle Verfaſſung, wobei jeder Teil in ſeiner Sphäre gewiſſe
Rechte ausübt und Pflichten erfüllt.

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[439/0455] Die patriarchaliſche Verfaſſung des Großbetriebes, ihr Zurückweichen, ihr Erſatz. alles ſo bleiben kann, wie es iſt, daß eine neue Art der Verfaſſung kommen müſſe, wenn auch die bisherige Geſtaltung ihm begreiflich erſcheint. Die Unternehmer der erſten Generation, welche die Großbetriebe unter unſäglichen Schwierigkeiten, im heftigen Konkurrenzkampf gründeten, auf dem geſetzlichen Boden einer einſeitigen Freiheitslehre die bisher ungeſchulten Maſſen als Arbeiter in die Fabrik zogen und für die dortigen Aufgaben disciplinierten, konnten dies Ziel nur erreichen, die neue Technik und die neuen Abſatzwege nur organiſieren durch die außerordentliche Übermacht, welche ihnen Intelligenz, kaufmänniſche Gewandtheit und großer Beſitz gaben, durch die weitgehende herrſchaftliche Autorität, welche ſie über die unorganiſierten, beſitzloſen Arbeiter durch die Fabrikdisciplin und das beliebige Entlaſſungsrecht übten. Man könnte ſagen, die rückſichtsloſe Geſchäftsenergie habe ſo einen geſchäftlichen Neubau der Volkswirtſchaft vollzogen, techniſch und kaufmänniſch dabei das Höchſte geleiſtet, aber auch durch Überſpannung der Konkurrenz und Gewinnſucht viel Unheil geſtiftet und durch die Nichtrückſichtnahme auf Leben und Geſundheit, Bildung und Familien- intereſſen der Arbeiter, durch die übermäßige Ausdehnung der Arbeitszeit, durch über- mäßige Frauen- und Kinderarbeit, durch Lohndruck und Ausbeutung der unteren Klaſſen in die moderne, private, rein auf den Gewinn arbeitende Unternehmung Keime der Reibung und des Kampfes gelegt, die nach und nach zu einer Umgeſtaltung und Reform führen müſſen. Die Reform hat in erſter Linie davon auszugehen, daß die großen Betriebe nicht mehr unter demſelben Recht ſtehen können wie die Hauswirtſchaft, daß ſie mehr und mehr der Gegenſtand des öffentlichen Intereſſes ſind. Von ihrer Verfaſſung und Ein- richtung hängt das wirtſchaftliche und moraliſche Wohl des Ortes, der Gegend, der Geſellſchaft ab. Sie gleichen Gemeinden, ja teilweiſe kleinen Staaten eher als Familien; wo 1000—40000 Perſonen in einem Großbetrieb arbeiten, handelt es ſich direkt um die Exiſtenz von 5000—200000 Menſchen, indirekt um noch viel mehr. Sie ſind, auch in privaten Händen, dauernde Anſtalten mit halb öffentlichem Charakter; ſie beherrſchen das Leben, das Gedeihen, die Exiſtenz ganzer Gegenden und Provinzen, ſie beeinfluſſen oft ſogar die Staatsgewalt. Ihre Organiſation hat durch die neue Form des Genoſſenſchafts- und Geſellſchaftsrechts, wovon wir gleich eingehender reden, durch die ganze ſtaatliche Fabrik-, Bergwerks-, Arbeiterſchutzgeſetzgebung und die daran ſich knüpfende ſtaatliche Aufſicht, durch die Fortbildung des Arbeitsvertrags, durch die feinere Aus- bildung der Lohnzahlungsformen einen gemeindeartigen Charakter erhalten. Die Entſtehung von Arbeiterausſchüſſen und Älteſtenkollegien in den Großbetrieben zum Zweck der Verhandlung mit den Unternehmern über die Arbeitsordnung, die Lohnform, die Hülfskaſſen und anderes, zur Verwaltung von Wohlfahrtseinrichtungen, zur Be- aufſichtigung und Erziehung der jungen Arbeiter, hat beſcheiden die Anfänge einer Arbeiter- vertretung in den Großbetrieben geſchaffen. Die Entſtehung der Gewerk- und Fach- vereine hat natürlich zunächſt vielfach die ſocialen Kämpfe geſteigert und wird bis heute von den Vertretern des patriarchaliſchen Syſtems nur als eine Hinderung der Autorität angeſehen. Sie kann es gewiß ſein. Aber bei richtiger Leitung der Vereine und richtiger Verhandlung mit ihnen können ſie, wie die daran ſich knüpfenden Einigungsämter und Schiedsgerichte, eine Stärkung der Ordnung und Autorität und das beſte Hülfsmittel werden, den Frieden wieder herzuſtellen. Gewiß liegt der Hauptteil dieſer großen Aufgaben noch in der Zukunft. Wir ſtehen mitten inne in dem Ringen nach den neuen beſſeren, aber auch viel komplizierteren Formen des Großbetriebes. Wir werden ſie nur erhalten, wenn die leitenden und die ausführenden Kräfte mehr und mehr auf einen höheren intellektuellen und moraliſchen Standpunkt ſich ſtellen, in ihren geſamten Eigenſchaften ſich heben, wenn ſie fähig werden, neben den Intereſſengegenſätzen die gemeinſamen Ziele zu ſuchen und zu verfolgen. Aber unmöglich iſt hier nicht, was in der Gemeinde und im Staate möglich war: eine friedliche konſtitutionelle Verfaſſung, wobei jeder Teil in ſeiner Sphäre gewiſſe Rechte ausübt und Pflichten erfüllt.

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Zitationshilfe: Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900, S. 439. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schmoller_grundriss01_1900/455>, abgerufen am 22.11.2024.