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Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900.

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Zweites Buch. Die gesellschaftliche Verfassung der Volkswirtschaft.
sind, in der ewigen Dauer der Anstalten, in der ganz selbständigen Organisation, in
der Fähigkeit, die größten Talente zu gewinnen, die neueste und beste Technik anzuwenden,
in der Belebung des Unternehmungsgeistes, in der Teilung des Risikos, in der Heran-
ziehung des kleinen Kapitals zu den Gewinnen des großen. Die Aktiengesellschaften
haben ein neues, gewissermaßen höheres Element in das Getriebe der Volkswirtschaft
eingeführt; die große Unternehmung in der Hand von Vertrauensmännern und Beamten
nähert sich der Gemeinde- und Staatsverwaltung; sie erhält den Charakter einer öffent-
lichen Anstalt, ihre Leiter werden sich allgemeiner Pflichten gegen die Gesamtheit mehr
und mehr bewußt, sie behandeln häufig ihre Arbeiter besser als Privatunternehmer,
erheben die tüchtigsten zu Beamten. Und wenn die Form zunächst am besten paßte auf
Geschäfte mit mechanisch gleichmäßigem Betrieb, an die sich schon allgemeine Interessen
knüpften, so zeigt doch die neueste Entwickelung ihre Ausdehnung auf alle möglichen
Handels-, Verkehrs- und Industriegeschäfte. Wo Staat und Kommune einen Teil des
Kapitals besitzen oder die Ernennung der wichtigsten Direktoren und Beamten sich
vorbehalten oder indirekt beherrschen, da werden die Aktiengesellschaften vollends ein
Mittelding zwischen öffentlicher, gemeinnütziger Verwaltung und Privatgeschäft.
Bei Staatsbanken, Eisenbahnen und sonst hat sich diese gemischte Organisationsform
ausgezeichnet bewährt.

Eine gute, vollständige Statistik der Aktiengesellschaften giebt es nicht; aber doch
so zuverlässige Nachrichten, daß wir ihre allgemeine Zunahme und ebenso den großen
jährlichen Wechsel in ihrer Gründung, das rasche Verschwinden zahlreicher Neugründungen
übersehen können.

In Großbritannien und Irland zählte man Neugründungen: 1844 119, 1845
1520, 1848 123, 1852 464, 1865 1001, 1868 443, 1873 1207, 1878 836, 1886
1809; von 31951 in den Jahren 1844--86 gegründeten Gesellschaften bestanden 1886
noch 9471. Im Jahre 1884 zählte man 8692 mit 475, 1895 19430 mit 1062 Mill. L
Kapital. Im Jahre 1885 hatte R. Giffen das ganze Volksvermögen auf 10037 Mill. L
geschätzt; eine Annahme von 1887 geht dahin, ein Drittel des in der Industrie
angelegten Kapitals gehöre schon der Aktienform an. In Frankreich wurden 1840--65
jährlich nicht über 1 -- 3 Dutzend Aktiengesellschaften errichtet, seither schwanken die
Zahlen zwischen 300 und 1000.

Im preußischen Staate entstanden je in dem ganzen Zeitraume 1801--25 16,
1826--50 102, 1851--70 295, 1870--74 857, 1876--83 1620; die Zahl der für
Deutschland im "Ökonomist" nachgewiesenen Aktiengesellschaften war im Gründerjahre
1872 479, ging 1876--79 auf 42--45 zurück, stieg dann wieder bis 1883 auf 192, war
1885 wieder bloß 70, 1889 360, 1894 92 und stieg seither wieder dauernd; die Schwan-
kungen entsprechen den Konjunkturen; das jährlich neu aufgelegte Aktienkapital schwankte
in den letzten 20 Jahren zwischen 56 und 800--1000 Mill. Mark. Für das Jahr 1883
schätzt der "Ökonomist" die bestehenden deutschen Gesellschaften auf 1311 mit fast
4 Milliarden Kapital, für 1890 auf fast 3000 mit 5,6 Milliarden; heute dürften es 4 bis
5000 mit 8--10 Milliarden sein. Wenn das deutsche Volksvermögen 175--200 Milliarden
Mark beträgt, so wären das etwa 5 %; es wären 10 %, die doppelte Zahl, wenn die
sämtlichen Eisenbahnen in Aktienhänden wären. Die österreichischen Gesellschaften giebt
Juraschek für 1866 auf 137 mit 689 Mill. fl., für 1893 auf 465 mit 1597 Mill. fl.
an. Die deutsche Gewerbestatistik zählt 1895 über 6000 einzelne Betriebe (nicht Unter-
nehmungen) von Aktien-, Aktienkommanditgesellschaften und Gesellschaften mit beschränkter
Haftung (darunter 4749 Aktienbetriebe) mit 0,9 Mill. Personen, also auf einen Betrieb
150 Personen. Über je 200 Personen beschäftigten nur 3331 deutsche Gewerbebetriebe
überhaupt. Es ist sehr wahrscheinlich, daß diese großen Betriebe mit über 200 Personen
überwiegend einer dieser drei verwandten Rechtsformen angehörten, in erster Linie
Aktiengesellschaften waren.

145. Die neueren wirtschaftlichen Genossenschaften. Während die
Handelsgesellschaften die Formen darstellen, in welchen sich die höheren handel- und
gewerbetreibenden Klassen das mit gemeinsamen Besitz verbundene Zusammenwirken

Zweites Buch. Die geſellſchaftliche Verfaſſung der Volkswirtſchaft.
ſind, in der ewigen Dauer der Anſtalten, in der ganz ſelbſtändigen Organiſation, in
der Fähigkeit, die größten Talente zu gewinnen, die neueſte und beſte Technik anzuwenden,
in der Belebung des Unternehmungsgeiſtes, in der Teilung des Riſikos, in der Heran-
ziehung des kleinen Kapitals zu den Gewinnen des großen. Die Aktiengeſellſchaften
haben ein neues, gewiſſermaßen höheres Element in das Getriebe der Volkswirtſchaft
eingeführt; die große Unternehmung in der Hand von Vertrauensmännern und Beamten
nähert ſich der Gemeinde- und Staatsverwaltung; ſie erhält den Charakter einer öffent-
lichen Anſtalt, ihre Leiter werden ſich allgemeiner Pflichten gegen die Geſamtheit mehr
und mehr bewußt, ſie behandeln häufig ihre Arbeiter beſſer als Privatunternehmer,
erheben die tüchtigſten zu Beamten. Und wenn die Form zunächſt am beſten paßte auf
Geſchäfte mit mechaniſch gleichmäßigem Betrieb, an die ſich ſchon allgemeine Intereſſen
knüpften, ſo zeigt doch die neueſte Entwickelung ihre Ausdehnung auf alle möglichen
Handels-, Verkehrs- und Induſtriegeſchäfte. Wo Staat und Kommune einen Teil des
Kapitals beſitzen oder die Ernennung der wichtigſten Direktoren und Beamten ſich
vorbehalten oder indirekt beherrſchen, da werden die Aktiengeſellſchaften vollends ein
Mittelding zwiſchen öffentlicher, gemeinnütziger Verwaltung und Privatgeſchäft.
Bei Staatsbanken, Eiſenbahnen und ſonſt hat ſich dieſe gemiſchte Organiſationsform
ausgezeichnet bewährt.

Eine gute, vollſtändige Statiſtik der Aktiengeſellſchaften giebt es nicht; aber doch
ſo zuverläſſige Nachrichten, daß wir ihre allgemeine Zunahme und ebenſo den großen
jährlichen Wechſel in ihrer Gründung, das raſche Verſchwinden zahlreicher Neugründungen
überſehen können.

In Großbritannien und Irland zählte man Neugründungen: 1844 119, 1845
1520, 1848 123, 1852 464, 1865 1001, 1868 443, 1873 1207, 1878 836, 1886
1809; von 31951 in den Jahren 1844—86 gegründeten Geſellſchaften beſtanden 1886
noch 9471. Im Jahre 1884 zählte man 8692 mit 475, 1895 19430 mit 1062 Mill. ₤
Kapital. Im Jahre 1885 hatte R. Giffen das ganze Volksvermögen auf 10037 Mill. ₤
geſchätzt; eine Annahme von 1887 geht dahin, ein Drittel des in der Induſtrie
angelegten Kapitals gehöre ſchon der Aktienform an. In Frankreich wurden 1840—65
jährlich nicht über 1 — 3 Dutzend Aktiengeſellſchaften errichtet, ſeither ſchwanken die
Zahlen zwiſchen 300 und 1000.

Im preußiſchen Staate entſtanden je in dem ganzen Zeitraume 1801—25 16,
1826—50 102, 1851—70 295, 1870—74 857, 1876—83 1620; die Zahl der für
Deutſchland im „Ökonomiſt“ nachgewieſenen Aktiengeſellſchaften war im Gründerjahre
1872 479, ging 1876—79 auf 42—45 zurück, ſtieg dann wieder bis 1883 auf 192, war
1885 wieder bloß 70, 1889 360, 1894 92 und ſtieg ſeither wieder dauernd; die Schwan-
kungen entſprechen den Konjunkturen; das jährlich neu aufgelegte Aktienkapital ſchwankte
in den letzten 20 Jahren zwiſchen 56 und 800—1000 Mill. Mark. Für das Jahr 1883
ſchätzt der „Ökonomiſt“ die beſtehenden deutſchen Geſellſchaften auf 1311 mit faſt
4 Milliarden Kapital, für 1890 auf faſt 3000 mit 5,6 Milliarden; heute dürften es 4 bis
5000 mit 8—10 Milliarden ſein. Wenn das deutſche Volksvermögen 175—200 Milliarden
Mark beträgt, ſo wären das etwa 5 %; es wären 10 %, die doppelte Zahl, wenn die
ſämtlichen Eiſenbahnen in Aktienhänden wären. Die öſterreichiſchen Geſellſchaften giebt
Juraſchek für 1866 auf 137 mit 689 Mill. fl., für 1893 auf 465 mit 1597 Mill. fl.
an. Die deutſche Gewerbeſtatiſtik zählt 1895 über 6000 einzelne Betriebe (nicht Unter-
nehmungen) von Aktien-, Aktienkommanditgeſellſchaften und Geſellſchaften mit beſchränkter
Haftung (darunter 4749 Aktienbetriebe) mit 0,9 Mill. Perſonen, alſo auf einen Betrieb
150 Perſonen. Über je 200 Perſonen beſchäftigten nur 3331 deutſche Gewerbebetriebe
überhaupt. Es iſt ſehr wahrſcheinlich, daß dieſe großen Betriebe mit über 200 Perſonen
überwiegend einer dieſer drei verwandten Rechtsformen angehörten, in erſter Linie
Aktiengeſellſchaften waren.

145. Die neueren wirtſchaftlichen Genoſſenſchaften. Während die
Handelsgeſellſchaften die Formen darſtellen, in welchen ſich die höheren handel- und
gewerbetreibenden Klaſſen das mit gemeinſamen Beſitz verbundene Zuſammenwirken

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[444/0460] Zweites Buch. Die geſellſchaftliche Verfaſſung der Volkswirtſchaft. ſind, in der ewigen Dauer der Anſtalten, in der ganz ſelbſtändigen Organiſation, in der Fähigkeit, die größten Talente zu gewinnen, die neueſte und beſte Technik anzuwenden, in der Belebung des Unternehmungsgeiſtes, in der Teilung des Riſikos, in der Heran- ziehung des kleinen Kapitals zu den Gewinnen des großen. Die Aktiengeſellſchaften haben ein neues, gewiſſermaßen höheres Element in das Getriebe der Volkswirtſchaft eingeführt; die große Unternehmung in der Hand von Vertrauensmännern und Beamten nähert ſich der Gemeinde- und Staatsverwaltung; ſie erhält den Charakter einer öffent- lichen Anſtalt, ihre Leiter werden ſich allgemeiner Pflichten gegen die Geſamtheit mehr und mehr bewußt, ſie behandeln häufig ihre Arbeiter beſſer als Privatunternehmer, erheben die tüchtigſten zu Beamten. Und wenn die Form zunächſt am beſten paßte auf Geſchäfte mit mechaniſch gleichmäßigem Betrieb, an die ſich ſchon allgemeine Intereſſen knüpften, ſo zeigt doch die neueſte Entwickelung ihre Ausdehnung auf alle möglichen Handels-, Verkehrs- und Induſtriegeſchäfte. Wo Staat und Kommune einen Teil des Kapitals beſitzen oder die Ernennung der wichtigſten Direktoren und Beamten ſich vorbehalten oder indirekt beherrſchen, da werden die Aktiengeſellſchaften vollends ein Mittelding zwiſchen öffentlicher, gemeinnütziger Verwaltung und Privatgeſchäft. Bei Staatsbanken, Eiſenbahnen und ſonſt hat ſich dieſe gemiſchte Organiſationsform ausgezeichnet bewährt. Eine gute, vollſtändige Statiſtik der Aktiengeſellſchaften giebt es nicht; aber doch ſo zuverläſſige Nachrichten, daß wir ihre allgemeine Zunahme und ebenſo den großen jährlichen Wechſel in ihrer Gründung, das raſche Verſchwinden zahlreicher Neugründungen überſehen können. In Großbritannien und Irland zählte man Neugründungen: 1844 119, 1845 1520, 1848 123, 1852 464, 1865 1001, 1868 443, 1873 1207, 1878 836, 1886 1809; von 31951 in den Jahren 1844—86 gegründeten Geſellſchaften beſtanden 1886 noch 9471. Im Jahre 1884 zählte man 8692 mit 475, 1895 19430 mit 1062 Mill. ₤ Kapital. Im Jahre 1885 hatte R. Giffen das ganze Volksvermögen auf 10037 Mill. ₤ geſchätzt; eine Annahme von 1887 geht dahin, ein Drittel des in der Induſtrie angelegten Kapitals gehöre ſchon der Aktienform an. In Frankreich wurden 1840—65 jährlich nicht über 1 — 3 Dutzend Aktiengeſellſchaften errichtet, ſeither ſchwanken die Zahlen zwiſchen 300 und 1000. Im preußiſchen Staate entſtanden je in dem ganzen Zeitraume 1801—25 16, 1826—50 102, 1851—70 295, 1870—74 857, 1876—83 1620; die Zahl der für Deutſchland im „Ökonomiſt“ nachgewieſenen Aktiengeſellſchaften war im Gründerjahre 1872 479, ging 1876—79 auf 42—45 zurück, ſtieg dann wieder bis 1883 auf 192, war 1885 wieder bloß 70, 1889 360, 1894 92 und ſtieg ſeither wieder dauernd; die Schwan- kungen entſprechen den Konjunkturen; das jährlich neu aufgelegte Aktienkapital ſchwankte in den letzten 20 Jahren zwiſchen 56 und 800—1000 Mill. Mark. Für das Jahr 1883 ſchätzt der „Ökonomiſt“ die beſtehenden deutſchen Geſellſchaften auf 1311 mit faſt 4 Milliarden Kapital, für 1890 auf faſt 3000 mit 5,6 Milliarden; heute dürften es 4 bis 5000 mit 8—10 Milliarden ſein. Wenn das deutſche Volksvermögen 175—200 Milliarden Mark beträgt, ſo wären das etwa 5 %; es wären 10 %, die doppelte Zahl, wenn die ſämtlichen Eiſenbahnen in Aktienhänden wären. Die öſterreichiſchen Geſellſchaften giebt Juraſchek für 1866 auf 137 mit 689 Mill. fl., für 1893 auf 465 mit 1597 Mill. fl. an. Die deutſche Gewerbeſtatiſtik zählt 1895 über 6000 einzelne Betriebe (nicht Unter- nehmungen) von Aktien-, Aktienkommanditgeſellſchaften und Geſellſchaften mit beſchränkter Haftung (darunter 4749 Aktienbetriebe) mit 0,9 Mill. Perſonen, alſo auf einen Betrieb 150 Perſonen. Über je 200 Perſonen beſchäftigten nur 3331 deutſche Gewerbebetriebe überhaupt. Es iſt ſehr wahrſcheinlich, daß dieſe großen Betriebe mit über 200 Perſonen überwiegend einer dieſer drei verwandten Rechtsformen angehörten, in erſter Linie Aktiengeſellſchaften waren. 145. Die neueren wirtſchaftlichen Genoſſenſchaften. Während die Handelsgeſellſchaften die Formen darſtellen, in welchen ſich die höheren handel- und gewerbetreibenden Klaſſen das mit gemeinſamen Beſitz verbundene Zuſammenwirken

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Zitationshilfe: Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900, S. 444. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schmoller_grundriss01_1900/460>, abgerufen am 22.11.2024.