der Gruppen, der Staaten innerhalb des Rechtes und giebt so dem Egoismus und der Gemeinheit, der Korruption und Entartung in Zeiten sinkender Moral und Sitte freieren Spielraum.
Dem Recht gegenüber bleibt alle Sitte formlos und schwankend, sie ist unter Umständen leicht im Fluß begriffen, oft aber auch äußerst zähe und konservativ; sie ist leicht an jedem Orte, in jedem Stande wieder eine andere; unaufgezeichnet hat sie keinen strengen Exekutor hinter sich, wie das Recht. Die älteren Pressionsmittel der Sitte, censorische, kirchliche und sociale Ächtungen kommen eher ab, werden teilweise verboten. Die Sitte verliert so an Kraft und Erzwingbarkeit in eben dem Maße, als das Recht diese Eigenschaften immer mehr gewinnt. Aber dafür greift sie in alle Gebiete ein, wo das Recht mit seinem schwerfälligen Apparate nicht hindringen kann. Sitte und Recht sind beide Regeln für das äußere Leben; sie stehen beide als ein Äußerliches der Moral und der Sittlichkeit als einem Inneren gegenüber. Aber beide haben, wie jene, ihre letzten Wurzeln im sittlichen Urteil und bezwecken beide, wie jene, die gute, die normale Ordnung der Gesellschaft. Sie können aber beide mit der Moral und unter sich in Widerspruch kommen, weil sie noch am Alten kleben, während das feinere sittliche Urteil schon ein anderes geworden, weil sie je mit eigenen Organen verschieden rasch, verschieden konsequent sich ausbilden. Daher kann die Sitte und das Recht mit den sittlichen Gefühlen und Urteilen einzelner Kreise, ja der Besten eines Volkes zeitweise in Wider- spruch kommen.
Im Verhältnis zum Recht bleibt die Sitte der Untergrund, auf dem jenes erwächst; oft will die kühnste Reformgesetzgebung nur erzwingen, was in den Kreisen einer Elite schon Sitte geworden. Die deutschen Genossenschaften waren längst durch Übung und Sitte eingelebt, als ein Gesetz ihnen den Stempel des Rechtes aufdrückte. Aber aus den angeführten formellen Gründen kann doch entfernt nicht alle Sitte in Recht umgewandelt werden. Daher ist das Gebiet der Sitte ein unendlich viel umfangreicheres als das des Rechtes. Auf die meisten Gebiete materiellen Handelns erstreckt sich sowohl Sitte als Recht: Ehe, Familienleben, Geschäftsverkehr, Wirtschaftsorganisation, Geselligkeit, politisches Leben haben ihre Sitten und ihr Recht. Aber das Recht ordnet dabei nur das Wichtigste, das für Staat und Gesellschaft Unentbehrliche, die Sitte erfaßt das Ganze aber in loserer Weise. Die Sitte ordnet z. B. alle unsere Kleidung, die des Richters, des Geistlichen, des Offiziers ist durch rechtliche Vorschriften bestimmt. Die Sitte beherrscht alles Familienleben, aber das Recht bestimmt, daß der Vater seine Kinder zur Schule schicke, daß die Frau ihm gehorche, daß die Kinder unter bestimmten Bedingungen die alten Eltern ernähren müssen. Die Sitte entsteht überall von selbst, wo eine Regel Bedürfnis ist, das Recht nur da, wo häufige Streitigkeiten und das schwierigere Zusammenwirken vieler zu höheren socialen und staatlichen Zwecken eine festere, klare Regel fordern, wo es lohnt, seinen viel schwerfälligeren Apparat anzuwenden und es ist daher natürlich, daß alle kleineren, unerheblicheren Vorkommnisse des indivi- duellen Alltagslebens, des gesellschaftlichen Verkehrs, die meisten Teile des gewöhnlichen wirtschaftlichen Lebens nur von der Sitte geregelt sind.
Je vollendeter Sitte und Recht sind, desto mehr stimmen sie mit den sittlichen Idealen überein, desto mehr machen sie die Forderungen der Gerechtigkeit wahr. Aber nie ist zu vergessen, daß seiner Natur nach das positive Recht sich diesem Ziele nur langsam nähern, daß es auch entartet, veraltet, gefälscht sein kann. Dann gilt das Wort des heiligen Augustin: quid civitates remota justitia quam magna latrocinia.
28. Die Entstehung der Moral neben und über Sitte und Recht. Indem man begann, die in Spruch und Lied, in gereimter und ungereimter Form überlieferten socialen Normen zu sammeln, zu vergleichen, zu interpretieren, ergab sich das Bedürfnis, sie gewissen obersten Vorstellungen von der Welt, von den Göttern, vom Menschenschicksal unterzuordnen; die Regeln erschienen nun als Gebote der Gottheit, verbunden durch kosmogonische Vorstellungen, die man erklärte, ausdeutete. Es ergaben sich so einheitliche religiöse Lehrsysteme, die die ersten Versuche rationaler Erklärung alles Seienden ebenso enthalten, wie sie die Lenkung alles Handelns zum Guten bezwecken;
Die formale Natur des Rechtes und ſeine Grenzen.
der Gruppen, der Staaten innerhalb des Rechtes und giebt ſo dem Egoismus und der Gemeinheit, der Korruption und Entartung in Zeiten ſinkender Moral und Sitte freieren Spielraum.
Dem Recht gegenüber bleibt alle Sitte formlos und ſchwankend, ſie iſt unter Umſtänden leicht im Fluß begriffen, oft aber auch äußerſt zähe und konſervativ; ſie iſt leicht an jedem Orte, in jedem Stande wieder eine andere; unaufgezeichnet hat ſie keinen ſtrengen Exekutor hinter ſich, wie das Recht. Die älteren Preſſionsmittel der Sitte, cenſoriſche, kirchliche und ſociale Ächtungen kommen eher ab, werden teilweiſe verboten. Die Sitte verliert ſo an Kraft und Erzwingbarkeit in eben dem Maße, als das Recht dieſe Eigenſchaften immer mehr gewinnt. Aber dafür greift ſie in alle Gebiete ein, wo das Recht mit ſeinem ſchwerfälligen Apparate nicht hindringen kann. Sitte und Recht ſind beide Regeln für das äußere Leben; ſie ſtehen beide als ein Äußerliches der Moral und der Sittlichkeit als einem Inneren gegenüber. Aber beide haben, wie jene, ihre letzten Wurzeln im ſittlichen Urteil und bezwecken beide, wie jene, die gute, die normale Ordnung der Geſellſchaft. Sie können aber beide mit der Moral und unter ſich in Widerſpruch kommen, weil ſie noch am Alten kleben, während das feinere ſittliche Urteil ſchon ein anderes geworden, weil ſie je mit eigenen Organen verſchieden raſch, verſchieden konſequent ſich ausbilden. Daher kann die Sitte und das Recht mit den ſittlichen Gefühlen und Urteilen einzelner Kreiſe, ja der Beſten eines Volkes zeitweiſe in Wider- ſpruch kommen.
Im Verhältnis zum Recht bleibt die Sitte der Untergrund, auf dem jenes erwächſt; oft will die kühnſte Reformgeſetzgebung nur erzwingen, was in den Kreiſen einer Elite ſchon Sitte geworden. Die deutſchen Genoſſenſchaften waren längſt durch Übung und Sitte eingelebt, als ein Geſetz ihnen den Stempel des Rechtes aufdrückte. Aber aus den angeführten formellen Gründen kann doch entfernt nicht alle Sitte in Recht umgewandelt werden. Daher iſt das Gebiet der Sitte ein unendlich viel umfangreicheres als das des Rechtes. Auf die meiſten Gebiete materiellen Handelns erſtreckt ſich ſowohl Sitte als Recht: Ehe, Familienleben, Geſchäftsverkehr, Wirtſchaftsorganiſation, Geſelligkeit, politiſches Leben haben ihre Sitten und ihr Recht. Aber das Recht ordnet dabei nur das Wichtigſte, das für Staat und Geſellſchaft Unentbehrliche, die Sitte erfaßt das Ganze aber in loſerer Weiſe. Die Sitte ordnet z. B. alle unſere Kleidung, die des Richters, des Geiſtlichen, des Offiziers iſt durch rechtliche Vorſchriften beſtimmt. Die Sitte beherrſcht alles Familienleben, aber das Recht beſtimmt, daß der Vater ſeine Kinder zur Schule ſchicke, daß die Frau ihm gehorche, daß die Kinder unter beſtimmten Bedingungen die alten Eltern ernähren müſſen. Die Sitte entſteht überall von ſelbſt, wo eine Regel Bedürfnis iſt, das Recht nur da, wo häufige Streitigkeiten und das ſchwierigere Zuſammenwirken vieler zu höheren ſocialen und ſtaatlichen Zwecken eine feſtere, klare Regel fordern, wo es lohnt, ſeinen viel ſchwerfälligeren Apparat anzuwenden und es iſt daher natürlich, daß alle kleineren, unerheblicheren Vorkommniſſe des indivi- duellen Alltagslebens, des geſellſchaftlichen Verkehrs, die meiſten Teile des gewöhnlichen wirtſchaftlichen Lebens nur von der Sitte geregelt ſind.
Je vollendeter Sitte und Recht ſind, deſto mehr ſtimmen ſie mit den ſittlichen Idealen überein, deſto mehr machen ſie die Forderungen der Gerechtigkeit wahr. Aber nie iſt zu vergeſſen, daß ſeiner Natur nach das poſitive Recht ſich dieſem Ziele nur langſam nähern, daß es auch entartet, veraltet, gefälſcht ſein kann. Dann gilt das Wort des heiligen Auguſtin: quid civitates remota justitia quam magna latrocinia.
28. Die Entſtehung der Moral neben und über Sitte und Recht. Indem man begann, die in Spruch und Lied, in gereimter und ungereimter Form überlieferten ſocialen Normen zu ſammeln, zu vergleichen, zu interpretieren, ergab ſich das Bedürfnis, ſie gewiſſen oberſten Vorſtellungen von der Welt, von den Göttern, vom Menſchenſchickſal unterzuordnen; die Regeln erſchienen nun als Gebote der Gottheit, verbunden durch kosmogoniſche Vorſtellungen, die man erklärte, ausdeutete. Es ergaben ſich ſo einheitliche religiöſe Lehrſyſteme, die die erſten Verſuche rationaler Erklärung alles Seienden ebenſo enthalten, wie ſie die Lenkung alles Handelns zum Guten bezwecken;
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[55/0071]
Die formale Natur des Rechtes und ſeine Grenzen.
der Gruppen, der Staaten innerhalb des Rechtes und giebt ſo dem Egoismus und der
Gemeinheit, der Korruption und Entartung in Zeiten ſinkender Moral und Sitte
freieren Spielraum.
Dem Recht gegenüber bleibt alle Sitte formlos und ſchwankend, ſie iſt unter
Umſtänden leicht im Fluß begriffen, oft aber auch äußerſt zähe und konſervativ; ſie
iſt leicht an jedem Orte, in jedem Stande wieder eine andere; unaufgezeichnet hat ſie
keinen ſtrengen Exekutor hinter ſich, wie das Recht. Die älteren Preſſionsmittel der Sitte,
cenſoriſche, kirchliche und ſociale Ächtungen kommen eher ab, werden teilweiſe verboten.
Die Sitte verliert ſo an Kraft und Erzwingbarkeit in eben dem Maße, als das Recht
dieſe Eigenſchaften immer mehr gewinnt. Aber dafür greift ſie in alle Gebiete ein, wo
das Recht mit ſeinem ſchwerfälligen Apparate nicht hindringen kann. Sitte und Recht
ſind beide Regeln für das äußere Leben; ſie ſtehen beide als ein Äußerliches der Moral
und der Sittlichkeit als einem Inneren gegenüber. Aber beide haben, wie jene, ihre
letzten Wurzeln im ſittlichen Urteil und bezwecken beide, wie jene, die gute, die normale
Ordnung der Geſellſchaft. Sie können aber beide mit der Moral und unter ſich in
Widerſpruch kommen, weil ſie noch am Alten kleben, während das feinere ſittliche Urteil
ſchon ein anderes geworden, weil ſie je mit eigenen Organen verſchieden raſch, verſchieden
konſequent ſich ausbilden. Daher kann die Sitte und das Recht mit den ſittlichen
Gefühlen und Urteilen einzelner Kreiſe, ja der Beſten eines Volkes zeitweiſe in Wider-
ſpruch kommen.
Im Verhältnis zum Recht bleibt die Sitte der Untergrund, auf dem jenes erwächſt;
oft will die kühnſte Reformgeſetzgebung nur erzwingen, was in den Kreiſen einer Elite
ſchon Sitte geworden. Die deutſchen Genoſſenſchaften waren längſt durch Übung und
Sitte eingelebt, als ein Geſetz ihnen den Stempel des Rechtes aufdrückte. Aber aus den
angeführten formellen Gründen kann doch entfernt nicht alle Sitte in Recht umgewandelt
werden. Daher iſt das Gebiet der Sitte ein unendlich viel umfangreicheres als das
des Rechtes. Auf die meiſten Gebiete materiellen Handelns erſtreckt ſich ſowohl Sitte
als Recht: Ehe, Familienleben, Geſchäftsverkehr, Wirtſchaftsorganiſation, Geſelligkeit,
politiſches Leben haben ihre Sitten und ihr Recht. Aber das Recht ordnet dabei nur
das Wichtigſte, das für Staat und Geſellſchaft Unentbehrliche, die Sitte erfaßt das
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Richters, des Geiſtlichen, des Offiziers iſt durch rechtliche Vorſchriften beſtimmt. Die
Sitte beherrſcht alles Familienleben, aber das Recht beſtimmt, daß der Vater ſeine
Kinder zur Schule ſchicke, daß die Frau ihm gehorche, daß die Kinder unter beſtimmten
Bedingungen die alten Eltern ernähren müſſen. Die Sitte entſteht überall von ſelbſt,
wo eine Regel Bedürfnis iſt, das Recht nur da, wo häufige Streitigkeiten und das
ſchwierigere Zuſammenwirken vieler zu höheren ſocialen und ſtaatlichen Zwecken eine
feſtere, klare Regel fordern, wo es lohnt, ſeinen viel ſchwerfälligeren Apparat anzuwenden
und es iſt daher natürlich, daß alle kleineren, unerheblicheren Vorkommniſſe des indivi-
duellen Alltagslebens, des geſellſchaftlichen Verkehrs, die meiſten Teile des gewöhnlichen
wirtſchaftlichen Lebens nur von der Sitte geregelt ſind.
Je vollendeter Sitte und Recht ſind, deſto mehr ſtimmen ſie mit den ſittlichen
Idealen überein, deſto mehr machen ſie die Forderungen der Gerechtigkeit wahr. Aber
nie iſt zu vergeſſen, daß ſeiner Natur nach das poſitive Recht ſich dieſem Ziele nur
langſam nähern, daß es auch entartet, veraltet, gefälſcht ſein kann. Dann gilt das
Wort des heiligen Auguſtin: quid civitates remota justitia quam magna latrocinia.
28. Die Entſtehung der Moral neben und über Sitte und Recht.
Indem man begann, die in Spruch und Lied, in gereimter und ungereimter Form
überlieferten ſocialen Normen zu ſammeln, zu vergleichen, zu interpretieren, ergab ſich
das Bedürfnis, ſie gewiſſen oberſten Vorſtellungen von der Welt, von den Göttern,
vom Menſchenſchickſal unterzuordnen; die Regeln erſchienen nun als Gebote der Gottheit,
verbunden durch kosmogoniſche Vorſtellungen, die man erklärte, ausdeutete. Es ergaben
ſich ſo einheitliche religiöſe Lehrſyſteme, die die erſten Verſuche rationaler Erklärung
alles Seienden ebenſo enthalten, wie ſie die Lenkung alles Handelns zum Guten bezwecken;
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Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900, S. 55. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schmoller_grundriss01_1900/71>, abgerufen am 16.02.2025.
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