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Schmoller, Gustav: Zur Geschichte der deutschen Kleingewerbe im 19. Jahrhundert. Halle (Saale), 1870.

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Die Umbildung einzelner Gewerbszweige.
Noch weniger als früher waren die Leute fähig zu irgend
welchem Fortschritt, zu neuen Methoden, Mustern und
Verbesserungen. Die Verschuldung stieg. Manche griffen
wieder zum Spinnen und Stricken, weil sie in der
Noth den Webstuhl verkauft hatten. Viele zahlten eine
jährliche Miethe bis zu 4 Thaler für einen Stuhl,
welcher höchstens 6 Thaler werth war.1

Wer alles gewerbliche Leben immer nur sich selbst
überlassen will, wird über diese Zustände Niemand einen
Vorwurf machen dürfen. Wer aber auf dem humanen
Standpunkt steht, die Besitzenden und Gebildeten einer
Gegend einerseits, die Lehrer, Geistlichen und Beamten
andererseits stets mit für verantwortlich zu halten für
die Bildung, für die Lage ihrer Nachbarn, ihrer Ge-
meindegenossen, ihrer Arbeiter, der wird allerdings die
Regierung2 und die größern Industriellen, die Kauf-

1 Vergl. oben die Schilderung der bairischen Weber-
distrikte S. 128--131.
2 Die Klagen bei Schneer konzentriren sich auf die Hand-
habung der ländlichen Polizei, auf die Unthätigkeit unfähiger
Landräthe und auf den ganzen Standpunkt der Regierung.
Nach seiner Ansicht hätte die Regierung, wenn sie die Weberei
halten wollte, die Reglements streng wiederherstellen, die Ver-
mittlung des Absatzes in großartiger Weise durch die See-
handlung und konsularische Thätigkeit übernehmen müssen; statt
dem wurde sehr viel Geld ausgegeben, hauptsächlich in der Form
von zinslosen Darlehen (je bis zu Posten von 8000 Thalern) an
einzelne Leinwandkaufleute, damit sie die Weber beschäftigten;
viel besser, meint Schneer, wäre dieses Geld zur Gründung
von Weberkompagnien (Assoziationen) verwendet worden, deren
erste Leitung man natürlich hätte in der Hand behalten müssen.

Die Umbildung einzelner Gewerbszweige.
Noch weniger als früher waren die Leute fähig zu irgend
welchem Fortſchritt, zu neuen Methoden, Muſtern und
Verbeſſerungen. Die Verſchuldung ſtieg. Manche griffen
wieder zum Spinnen und Stricken, weil ſie in der
Noth den Webſtuhl verkauft hatten. Viele zahlten eine
jährliche Miethe bis zu 4 Thaler für einen Stuhl,
welcher höchſtens 6 Thaler werth war.1

Wer alles gewerbliche Leben immer nur ſich ſelbſt
überlaſſen will, wird über dieſe Zuſtände Niemand einen
Vorwurf machen dürfen. Wer aber auf dem humanen
Standpunkt ſteht, die Beſitzenden und Gebildeten einer
Gegend einerſeits, die Lehrer, Geiſtlichen und Beamten
andererſeits ſtets mit für verantwortlich zu halten für
die Bildung, für die Lage ihrer Nachbarn, ihrer Ge-
meindegenoſſen, ihrer Arbeiter, der wird allerdings die
Regierung2 und die größern Induſtriellen, die Kauf-

1 Vergl. oben die Schilderung der bairiſchen Weber-
diſtrikte S. 128—131.
2 Die Klagen bei Schneer konzentriren ſich auf die Hand-
habung der ländlichen Polizei, auf die Unthätigkeit unfähiger
Landräthe und auf den ganzen Standpunkt der Regierung.
Nach ſeiner Anſicht hätte die Regierung, wenn ſie die Weberei
halten wollte, die Reglements ſtreng wiederherſtellen, die Ver-
mittlung des Abſatzes in großartiger Weiſe durch die See-
handlung und konſulariſche Thätigkeit übernehmen müſſen; ſtatt
dem wurde ſehr viel Geld ausgegeben, hauptſächlich in der Form
von zinsloſen Darlehen (je bis zu Poſten von 8000 Thalern) an
einzelne Leinwandkaufleute, damit ſie die Weber beſchäftigten;
viel beſſer, meint Schneer, wäre dieſes Geld zur Gründung
von Weberkompagnien (Aſſoziationen) verwendet worden, deren
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[552/0574] Die Umbildung einzelner Gewerbszweige. Noch weniger als früher waren die Leute fähig zu irgend welchem Fortſchritt, zu neuen Methoden, Muſtern und Verbeſſerungen. Die Verſchuldung ſtieg. Manche griffen wieder zum Spinnen und Stricken, weil ſie in der Noth den Webſtuhl verkauft hatten. Viele zahlten eine jährliche Miethe bis zu 4 Thaler für einen Stuhl, welcher höchſtens 6 Thaler werth war. 1 Wer alles gewerbliche Leben immer nur ſich ſelbſt überlaſſen will, wird über dieſe Zuſtände Niemand einen Vorwurf machen dürfen. Wer aber auf dem humanen Standpunkt ſteht, die Beſitzenden und Gebildeten einer Gegend einerſeits, die Lehrer, Geiſtlichen und Beamten andererſeits ſtets mit für verantwortlich zu halten für die Bildung, für die Lage ihrer Nachbarn, ihrer Ge- meindegenoſſen, ihrer Arbeiter, der wird allerdings die Regierung 2 und die größern Induſtriellen, die Kauf- 1 Vergl. oben die Schilderung der bairiſchen Weber- diſtrikte S. 128—131. 2 Die Klagen bei Schneer konzentriren ſich auf die Hand- habung der ländlichen Polizei, auf die Unthätigkeit unfähiger Landräthe und auf den ganzen Standpunkt der Regierung. Nach ſeiner Anſicht hätte die Regierung, wenn ſie die Weberei halten wollte, die Reglements ſtreng wiederherſtellen, die Ver- mittlung des Abſatzes in großartiger Weiſe durch die See- handlung und konſulariſche Thätigkeit übernehmen müſſen; ſtatt dem wurde ſehr viel Geld ausgegeben, hauptſächlich in der Form von zinsloſen Darlehen (je bis zu Poſten von 8000 Thalern) an einzelne Leinwandkaufleute, damit ſie die Weber beſchäftigten; viel beſſer, meint Schneer, wäre dieſes Geld zur Gründung von Weberkompagnien (Aſſoziationen) verwendet worden, deren erſte Leitung man natürlich hätte in der Hand behalten müſſen.

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Zitationshilfe: Schmoller, Gustav: Zur Geschichte der deutschen Kleingewerbe im 19. Jahrhundert. Halle (Saale), 1870, S. 552. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schmoller_kleingewerbe_1870/574>, abgerufen am 22.11.2024.