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Schmoller, Gustav: Die Volkswirtschaft, die Volkswirtschaftslehre und ihre Methode. Frankfurt (Main), 1893.

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Nach den vorstehenden Ausführungen werden wir auch zu der Kontro-
verse Stellung nehmen können, ob alle volkswirtschaftlichen Unter-
suchungen vom Individuum oder von den Kollektiverscheinungen aus-
zugehen haben. Ersteres war die Losung der älteren englischen Na-
tionalökonomie und ist neuerdings z. B. von John mit Nachdruck be-
hauptet worden, mit dem Argumente, daß nur der "Einzelfall" der
Beobachtung zugänglich sei. Letzteres haben die Begründer der histo-
rischen Schule häufig verlangt. Aber die Fragestellung ist falsch, wenn
sie ein entweder -- oder behauptet. So wenig es eine allgemeine Regel
darüber gibt, ob alle Untersuchung von der Ursache oder von der Wir-
kung auszugehen habe, so wenig darf in unserer Wissenschaft be-
hauptet werden, es sei stets vom Individuum oder stets von den Kol-
lektiverscheinungen auszugehen. Wir müssen stets vom Bekannten zum
Unbekannten fortschreiten und oft sind die psychischen Eigenschaften
und die Handlungen der Individuen, oft die bestimmter Menschen-
gruppen, oft sind Preiserscheinungen, Änderungen der wirtschaftlichen
Zustände, der Verfassung, oft andere gesellschaftliche Massenerschei-
nungen das zuerst sicher Beobachtete, von dem man dann wieder
rückwärts zu den Ursachen, vorwärts zu den weiteren Wirkungen geht.
Selbst wenn wir zugeben, daß zunächst stets der Einzelfall zu be-
obachten sei, wäre zu bestreiten, daß menschliche Individuen stets dies
seien; auch der Mensch ist ein zusammengesetztes Ganzes und Grup-
pen von Menschen, die in Übereinstimmung handeln, stellen sich auf
dem Schlachtfelde, auf dem Markte, in den sozialen und politischen
Kämpfen als "Einzelfälle" dar. Alles einzelne ist ja bei näherer Be-
trachtung unendlich zusammengesetzt und ein Einzelfall ist stets das,
was unsere aussondernde Beobachtung durch unseren Denkprozeß als
ein Ganzes betrachtet.

Zu der obigen Behauptung von dem regelmäßigen Zusammenwirken so
vieler Ursachen haben wir ferner folgende Anmerkung beizufügen,
um nicht mißverstanden zu werden. So vorteilhaft es für den Forscher
ist, wenn er möglichst alle mitspielenden Ursachen kennt und über-
sieht, so wird doch nicht in jeder Einzeluntersuchung auf alle ein-
zugehen sein. Wir können bei vielen Spezialfragen volkswirtschaftlicher
Art ohne weiteres gewisse natürliche Komplexe von Ursachen, eine be-
stimmte Rechtsordnung und Klassenbildung, auch bestimmte psycho-
logische Typen voraussetzen und nun untersuchen, wie letztere unter
allen diesen Voraussetzungen in bestimmten Fällen und deren Modi-
fikationen handeln. Man kann z. B., wenn von Westeuropa und seinen
heutigen Großkaufleuten die Rede ist, ohne weiteres voraussetzen, diese
Leute handelten im Durchschnitt, als Klasse an der Börse und auf dem
Markte unter der Herrschaft eines Erwerbsbetriebes, wie er in einer
konkreten Schilderung definiert und beschrieben wurde. Damit wird

Nach den vorstehenden Ausführungen werden wir auch zu der Kontro-
verse Stellung nehmen können, ob alle volkswirtschaftlichen Unter-
suchungen vom Individuum oder von den Kollektiverscheinungen aus-
zugehen haben. Ersteres war die Losung der älteren englischen Na-
tionalökonomie und ist neuerdings z. B. von John mit Nachdruck be-
hauptet worden, mit dem Argumente, daß nur der „Einzelfall“ der
Beobachtung zugänglich sei. Letzteres haben die Begründer der histo-
rischen Schule häufig verlangt. Aber die Fragestellung ist falsch, wenn
sie ein entweder — oder behauptet. So wenig es eine allgemeine Regel
darüber gibt, ob alle Untersuchung von der Ursache oder von der Wir-
kung auszugehen habe, so wenig darf in unserer Wissenschaft be-
hauptet werden, es sei stets vom Individuum oder stets von den Kol-
lektiverscheinungen auszugehen. Wir müssen stets vom Bekannten zum
Unbekannten fortschreiten und oft sind die psychischen Eigenschaften
und die Handlungen der Individuen, oft die bestimmter Menschen-
gruppen, oft sind Preiserscheinungen, Änderungen der wirtschaftlichen
Zustände, der Verfassung, oft andere gesellschaftliche Massenerschei-
nungen das zuerst sicher Beobachtete, von dem man dann wieder
rückwärts zu den Ursachen, vorwärts zu den weiteren Wirkungen geht.
Selbst wenn wir zugeben, daß zunächst stets der Einzelfall zu be-
obachten sei, wäre zu bestreiten, daß menschliche Individuen stets dies
seien; auch der Mensch ist ein zusammengesetztes Ganzes und Grup-
pen von Menschen, die in Übereinstimmung handeln, stellen sich auf
dem Schlachtfelde, auf dem Markte, in den sozialen und politischen
Kämpfen als „Einzelfälle“ dar. Alles einzelne ist ja bei näherer Be-
trachtung unendlich zusammengesetzt und ein Einzelfall ist stets das,
was unsere aussondernde Beobachtung durch unseren Denkprozeß als
ein Ganzes betrachtet.

Zu der obigen Behauptung von dem regelmäßigen Zusammenwirken so
vieler Ursachen haben wir ferner folgende Anmerkung beizufügen,
um nicht mißverstanden zu werden. So vorteilhaft es für den Forscher
ist, wenn er möglichst alle mitspielenden Ursachen kennt und über-
sieht, so wird doch nicht in jeder Einzeluntersuchung auf alle ein-
zugehen sein. Wir können bei vielen Spezialfragen volkswirtschaftlicher
Art ohne weiteres gewisse natürliche Komplexe von Ursachen, eine be-
stimmte Rechtsordnung und Klassenbildung, auch bestimmte psycho-
logische Typen voraussetzen und nun untersuchen, wie letztere unter
allen diesen Voraussetzungen in bestimmten Fällen und deren Modi-
fikationen handeln. Man kann z. B., wenn von Westeuropa und seinen
heutigen Großkaufleuten die Rede ist, ohne weiteres voraussetzen, diese
Leute handelten im Durchschnitt, als Klasse an der Börse und auf dem
Markte unter der Herrschaft eines Erwerbsbetriebes, wie er in einer
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[55/0059] Nach den vorstehenden Ausführungen werden wir auch zu der Kontro- verse Stellung nehmen können, ob alle volkswirtschaftlichen Unter- suchungen vom Individuum oder von den Kollektiverscheinungen aus- zugehen haben. Ersteres war die Losung der älteren englischen Na- tionalökonomie und ist neuerdings z. B. von John mit Nachdruck be- hauptet worden, mit dem Argumente, daß nur der „Einzelfall“ der Beobachtung zugänglich sei. Letzteres haben die Begründer der histo- rischen Schule häufig verlangt. Aber die Fragestellung ist falsch, wenn sie ein entweder — oder behauptet. So wenig es eine allgemeine Regel darüber gibt, ob alle Untersuchung von der Ursache oder von der Wir- kung auszugehen habe, so wenig darf in unserer Wissenschaft be- hauptet werden, es sei stets vom Individuum oder stets von den Kol- lektiverscheinungen auszugehen. Wir müssen stets vom Bekannten zum Unbekannten fortschreiten und oft sind die psychischen Eigenschaften und die Handlungen der Individuen, oft die bestimmter Menschen- gruppen, oft sind Preiserscheinungen, Änderungen der wirtschaftlichen Zustände, der Verfassung, oft andere gesellschaftliche Massenerschei- nungen das zuerst sicher Beobachtete, von dem man dann wieder rückwärts zu den Ursachen, vorwärts zu den weiteren Wirkungen geht. Selbst wenn wir zugeben, daß zunächst stets der Einzelfall zu be- obachten sei, wäre zu bestreiten, daß menschliche Individuen stets dies seien; auch der Mensch ist ein zusammengesetztes Ganzes und Grup- pen von Menschen, die in Übereinstimmung handeln, stellen sich auf dem Schlachtfelde, auf dem Markte, in den sozialen und politischen Kämpfen als „Einzelfälle“ dar. Alles einzelne ist ja bei näherer Be- trachtung unendlich zusammengesetzt und ein Einzelfall ist stets das, was unsere aussondernde Beobachtung durch unseren Denkprozeß als ein Ganzes betrachtet. Zu der obigen Behauptung von dem regelmäßigen Zusammenwirken so vieler Ursachen haben wir ferner folgende Anmerkung beizufügen, um nicht mißverstanden zu werden. So vorteilhaft es für den Forscher ist, wenn er möglichst alle mitspielenden Ursachen kennt und über- sieht, so wird doch nicht in jeder Einzeluntersuchung auf alle ein- zugehen sein. Wir können bei vielen Spezialfragen volkswirtschaftlicher Art ohne weiteres gewisse natürliche Komplexe von Ursachen, eine be- stimmte Rechtsordnung und Klassenbildung, auch bestimmte psycho- logische Typen voraussetzen und nun untersuchen, wie letztere unter allen diesen Voraussetzungen in bestimmten Fällen und deren Modi- fikationen handeln. Man kann z. B., wenn von Westeuropa und seinen heutigen Großkaufleuten die Rede ist, ohne weiteres voraussetzen, diese Leute handelten im Durchschnitt, als Klasse an der Börse und auf dem Markte unter der Herrschaft eines Erwerbsbetriebes, wie er in einer konkreten Schilderung definiert und beschrieben wurde. Damit wird

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Zitationshilfe: Schmoller, Gustav: Die Volkswirtschaft, die Volkswirtschaftslehre und ihre Methode. Frankfurt (Main), 1893, S. 55. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schmoller_volkswirtschaftslehre_1893/59>, abgerufen am 25.11.2024.