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Schmoller, Gustav: Die Volkswirtschaft, die Volkswirtschaftslehre und ihre Methode. Frankfurt (Main), 1893.

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100 geborenen Menschen regelmäßig bestimmte Teile in dem und dem
Alter sterben. Aus der Beobachtung der zunehmenden heutigen Staats-
ausgaben abstrahierte A. Wagner "das Gesetz der wachsenden Ausdeh-
nung der Staatstätigkeit", und die utopischen Schilderungen einer
sozialistischen Zukunft mit zinslosem Kredit für jedermann nannte
Hertzka "die Gesetze der sozialen Entwicklung".

Es ist klar, was man mit diesem etwas lockeren Sprachgebrauche be-
zweckte, man wollte nachdrücklich damit die Notwendigkeit des Ein-
tretens und der Wiederholung gewisser Ereignisse und Folgen betonen;
teilweise schob sich daneben, wie z. B. bei Roscher und Knies, die Vor-
stellung unter, es handle sich um vom menschlichen Willen unab-
hängige Vorgänge, also um Naturgesetze im engeren Sinne im Gegen-
satze zur psychischen Kausalität oder zur Willensfreiheit; teilweise
waltete offenbar auch die Anschauung vor, man müsse speziell die-
jenigen durch Ursachen erklärbaren Regelmäßigkeiten als Ge[s]etze
bezeichnen, bei welchen es sich im Resultate um meßbare und zählbare
Quantitäten handle. Jedenfalls war der Mehrzahl derer, die von "un-
zähligen Gesetzen der Volkswirtschaft" sprachen, der strengere Sprach-
gebrauch, wie er sich in der Logik ausgebildet hatte, nicht bekannt;
man freute sich, dutzendweise die Gesetze auf dem Wege auflesen
zu können, bedachte nicht, daß auch in den heute vollendetsten Wis-
senschaften nur wenige wirkliche Gesetze bis jetzt entdeckt wurden,
daß jede solche Entdeckung als eine seltene epochemachende Tat ge-
feiert wurde.

Freilich ist es in gewissem Sinne nur eine Sache der Konvention, ob
man die Konstatierung von Eigenschaften und Merkmalen, die Wie-
derholung bestimmter Regelmäßigkeiten und Formen ein Ge[s]etz nen-
nen will, ob man jeden vermuteten oder nachgewiesenen Kausalzu-
sammennhang so heißt, oder nur den, dessen kausale Kräfte eine
zahlenmäßige Messung ihrer Wirksamkeit gestatten. Aber sowohl im
Interesse eines festen Sprachgebrauches und des Anschlusses an die
heutige Logik und Wissenschaftslehre überhaupt, als im Interesse kla-
rer Vorstellungen über das Wesen volkswirtschaftlicher Kausalität und
Notwendigkeit ist es doch besser, diesen lockeren und verschwimmen-
den Sprachgebrauch aufzugeben. Man hängt durch das Mäntelchen des
"Gesetzes" Behauptungen einen Schein der Notwendigkeit um, den
sie nicht besitzen, oder gibt niedriger stehenden Wahrheiten den Rang
höherer und täuscht dadurch denjenigen, der sie weiter anwendet14.

Allerdings ist nun die heutige Wissenschaftslehre auch nicht ganz
einig über die Frage, was ein Gesetz im strengen Sinne des Wortes
sei. Aber über vieles ist sie sich doch klar, was bislang in unserer
Wissenschaft häufig übersehen wurde. Wir wissen heute, daß ur-
sprünglich bei den Griechen der Begriff des Gesetzes dem mensch-

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100 geborenen Menschen regelmäßig bestimmte Teile in dem und dem
Alter sterben. Aus der Beobachtung der zunehmenden heutigen Staats-
ausgaben abstrahierte A. Wagner „das Gesétz der wachsenden Ausdeh-
nung der Staatstätigkeit“, und die utopischen Schilderungen einer
sozialistischen Zukunft mit zinslosem Kredit für jedermann nannte
Hertzka „die Gesetze der sozialen Entwicklung“.

Es ist klar, was man mit diesem etwas lockeren Sprachgebrauche be-
zweckte, man wollte nachdrücklich damit die Notwendigkeit des Ein-
tretens und der Wiederholung gewisser Ereignisse und Folgen betonen;
teilweise schob sich daneben, wie z. B. bei Roscher und Knies, die Vor-
stellung unter, es handle sich um vom menschlichen Willen unab-
hängige Vorgänge, also um Naturgesetze im engeren Sinne im Gegen-
satze zur psychischen Kausalität oder zur Willensfreiheit; teilweise
waltete offenbar auch die Anschauung vor, man müsse speziell die-
jenigen durch Ursachen erklärbaren Regelmäßigkeiten als Ge[s]etze
bezeichnen, bei welchen es sich im Resultate um meßbare und zählbare
Quantitäten handle. Jedenfalls war der Mehrzahl derer, die von „un-
zähligen Gesetzen der Volkswirtschaft“ sprachen, der strengere Sprach-
gebrauch, wie er sich in der Logik ausgebildet hatte, nicht bekannt;
man freute sich, dutzendweise die Gesetze auf dem Wege auflesen
zu können, bedachte nicht, daß auch in den heute vollendetsten Wis-
senschaften nur wenige wirkliche Gesetze bis jetzt entdeckt wurden,
daß jede solche Entdeckung als eine seltene epochemachende Tat ge-
feiert wurde.

Freilich ist es in gewissem Sinne nur eine Sache der Konvention, ob
man die Konstatierung von Eigenschaften und Merkmalen, die Wie-
derholung bestimmter Regelmäßigkeiten und Formen ein Ge[s]etz nen-
nen will, ob man jeden vermuteten oder nachgewiesenen Kausalzu-
sammennhang so heißt, oder nur den, dessen kausale Kräfte eine
zahlenmäßige Messung ihrer Wirksamkeit gestatten. Aber sowohl im
Interesse eines festen Sprachgebrauches und des Anschlusses an die
heutige Logik und Wissenschaftslehre überhaupt, als im Interesse kla-
rer Vorstellungen über das Wesen volkswirtschaftlicher Kausalität und
Notwendigkeit ist es doch besser, diesen lockeren und verschwimmen-
den Sprachgebrauch aufzugeben. Man hängt durch das Mäntelchen des
„Gesetzes“ Behauptungen einen Schein der Notwendigkeit um, den
sie nicht besitzen, oder gibt niedriger stehenden Wahrheiten den Rang
höherer und täuscht dadurch denjenigen, der sie weiter anwendet14.

Allerdings ist nun die heutige Wissenschaftslehre auch nicht ganz
einig über die Frage, was ein Gesetz im strengen Sinne des Wortes
sei. Aber über vieles ist sie sich doch klar, was bislang in unserer
Wissenschaft häufig übersehen wurde. Wir wissen heute, daß ur-
sprünglich bei den Griechen der Begriff des Gesetzes dem mensch-

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Zitationshilfe: Schmoller, Gustav: Die Volkswirtschaft, die Volkswirtschaftslehre und ihre Methode. Frankfurt (Main), 1893, S. 67. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schmoller_volkswirtschaftslehre_1893/71>, abgerufen am 26.11.2024.