Schmoller, Gustav: Die Volkswirtschaft, die Volkswirtschaftslehre und ihre Methode. Frankfurt (Main), 1893.gänge, die nicht unter der Rücksicht interessieren, in welchem Verhältnisse sie zu einem allgemeinen Begriffe oder einem Systeme von Begriffen stehen, son- dern die uns als anschauliche und individuelle Gestaltungen, als Wirklich- keiten von Bedeutung sind. Es sind die geschichtlichen Vorgänge; das Material der Geschichte können wir nie in ein System von allgemeinen Begriffen brin- gen. Das Individuelle, Persönliche ist irrational. "Die Einteilung der Wissen- schaften nach Natur und Geschichte ist unvollständig und erschöpfend, inso- fern, als die empirischen Wissenschaften nur entweder mit Rücksicht auf das Allgemeine oder mit Rücksicht auf das Besondere die Wirklichkeit betrach- ten können." Die Geschichte hat eine gänzlich andere Begriffsbildung wie die Naturwissenschaft, worauf wir unten § 15 zurückkommen. Die Idee des Individuellen, Unteilbaren, Einzigartigen beherrscht die Geschichte. Nur die Handlungen, die eine allgemeine Bedeutung haben, die Erscheinungen, welche auf allgemein anerkannte Kulturzwecke bezogen werden, interessieren sie. Ihre Begriffsbildung ist eine teleologische, gewisse bedeutsame Erscheinun- gen als Einheit auffassende. -- Rickert hat bei einer Anzahl jüngerer Sozio- logen, Philosophen, Nationalökonomen Beifall gefunden; aber doch mit gewis- sen Einschränkungen z. B. bei Simmel; fast leidenschaftlich ist ihm Max We- ber gefolgt, vor allem in der schroffen Betonung, daß alle Geisteswissen- schaft es nur mit Einzigartigem zu tun habe. Windelband und Rickert haben nun aber selbst schon viel Wasser in ihren Wein gegossen und sich so von ihrer ursprünglich schroffen Scheidung der Methoden wieder merklich entfernt. Windelband erklärte 1894, er habe mit dem Gegensatz nomothetischer und ideographischer Wissenschaften nur po- lare Richtpunkte bezeichnen wollen, zwischen denen sich die methodische Ar- beit zahlreicher Wissenschaften in der Mitte bewege. Rickert hält in seinem Werke über die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung, an dem er viele Jahre arbeitete, einerseits den obigen Standpunkt fest, gibt aber an- dererseits zu, daß man die Gesellschaft und ihre Entwicklungsformen unter allgemeine Begriffe, ihre kausale Entwickelung unter Gesetze bringen könne; er gibt zu, daß hier oft typische Massenbewegungen und gerade nicht Einzig- artiges den Ausschlag gebe; aber -- so entschuldigt er seinen eigenen Wider- spruch -- das sei dann eben nicht Geschichte im höheren, absoluten Sinne. Auch Weber macht einzelne solche Konzessionen. Damit ist zugestanden, daß die Einteilung in Natur- und Geistes- oder Kulturwissenschaft (resp. Ge- schichte) nicht zugleich eine Ausschließlichkeit der Methode bedinge, daß in der letzteren neben den mit anderen Methoden anzufassenden individuellen Er- scheinungen doch auch generelle vorhanden sind, die in ähnlicher Art, wie die Naturwissenschaften es tun, zu behandeln sind. Das ist es, was Dilthey immer sagte und neuestens wieder betonte. Die Volkswirtschaftslehre gehört jedenfalls zu den Wissenschaften, welche je am geeigneten Orte naturwissenschaftliche und geisteswissenschaftliche Me- thoden anwenden muß. Das Falsche war, wie der Amerikaner Patten sagt, daß die Physiokratie, die Ricardosche Schule, der neuere Materialismus sie zur reinen Naturwissenschaft machen wollten, der Fortschritt bestand nach ihm darin, daß A. Smith und die neuere deutsche Wissenschaft den Menschen und die Gesellschaft in den Mittelpunkt derselben stellten; aber sie schlossen da- mit naturwissenschaftliche Methoden, allgemeine Begriffe, Gesetzmäßigkeiten gänge, die nicht unter der Rücksicht interessieren, in welchem Verhältnisse sie zu einem allgemeinen Begriffe oder einem Systeme von Begriffen stehen, son- dern die uns als anschauliche und individuelle Gestaltungen, als Wirklich- keiten von Bedeutung sind. Es sind die geschichtlichen Vorgänge; das Material der Geschichte können wir nie in ein System von allgemeinen Begriffen brin- gen. Das Individuelle, Persönliche ist irrational. „Die Einteilung der Wissen- schaften nach Natur und Geschichte ist unvollständig und erschöpfend, inso- fern, als die empirischen Wissenschaften nur entweder mit Rücksicht auf das Allgemeine oder mit Rücksicht auf das Besondere die Wirklichkeit betrach- ten können.“ Die Geschichte hat eine gänzlich andere Begriffsbildung wie die Naturwissenschaft, worauf wir unten § 15 zurückkommen. Die Idee des Individuellen, Unteilbaren, Einzigartigen beherrscht die Geschichte. Nur die Handlungen, die eine allgemeine Bedeutung haben, die Erscheinungen, welche auf allgemein anerkannte Kulturzwecke bezogen werden, interessieren sie. Ihre Begriffsbildung ist eine teleologische, gewisse bedeutsame Erscheinun- gen als Einheit auffassende. — Rickert hat bei einer Anzahl jüngerer Sozio- logen, Philosophen, Nationalökonomen Beifall gefunden; aber doch mit gewis- sen Einschränkungen z. B. bei Simmel; fast leidenschaftlich ist ihm Max We- ber gefolgt, vor allem in der schroffen Betonung, daß alle Geisteswissen- schaft es nur mit Einzigartigem zu tun habe. Windelband und Rickert haben nun aber selbst schon viel Wasser in ihren Wein gegossen und sich so von ihrer ursprünglich schroffen Scheidung der Methoden wieder merklich entfernt. Windelband erklärte 1894, er habe mit dem Gegensatz nomothetischer und ideographischer Wissenschaften nur po- lare Richtpunkte bezeichnen wollen, zwischen denen sich die methodische Ar- beit zahlreicher Wissenschaften in der Mitte bewege. Rickert hält in seinem Werke über die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung, an dem er viele Jahre arbeitete, einerseits den obigen Standpunkt fest, gibt aber an- dererseits zu, daß man die Gesellschaft und ihre Entwicklungsformen unter allgemeine Begriffe, ihre kausale Entwickelung unter Gesetze bringen könne; er gibt zu, daß hier oft typische Massenbewegungen und gerade nicht Einzig- artiges den Ausschlag gebe; aber — so entschuldigt er seinen eigenen Wider- spruch — das sei dann eben nicht Geschichte im höheren, absoluten Sinne. Auch Weber macht einzelne solche Konzessionen. Damit ist zugestanden, daß die Einteilung in Natur- und Geistes- oder Kulturwissenschaft (resp. Ge- schichte) nicht zugleich eine Ausschließlichkeit der Methode bedinge, daß in der letzteren neben den mit anderen Methoden anzufassenden individuellen Er- scheinungen doch auch generelle vorhanden sind, die in ähnlicher Art, wie die Naturwissenschaften es tun, zu behandeln sind. Das ist es, was Dilthey immer sagte und neuestens wieder betonte. Die Volkswirtschaftslehre gehört jedenfalls zu den Wissenschaften, welche je am geeigneten Orte naturwissenschaftliche und geisteswissenschaftliche Me- thoden anwenden muß. Das Falsche war, wie der Amerikaner Patten sagt, daß die Physiokratie, die Ricardosche Schule, der neuere Materialismus sie zur reinen Naturwissenschaft machen wollten, der Fortschritt bestand nach ihm darin, daß A. Smith und die neuere deutsche Wissenschaft den Menschen und die Gesellschaft in den Mittelpunkt derselben stellten; aber sie schlossen da- mit naturwissenschaftliche Methoden, allgemeine Begriffe, Gesetzmäßigkeiten <TEI> <text> <body> <div n="1"> <note place="end" n="3"><pb facs="#f0080" n="76"/> gänge, die nicht unter der Rücksicht interessieren, in welchem Verhältnisse sie<lb/> zu einem allgemeinen Begriffe oder einem Systeme von Begriffen stehen, son-<lb/> dern die uns als anschauliche und individuelle Gestaltungen, als Wirklich-<lb/> keiten von Bedeutung sind. Es sind die geschichtlichen Vorgänge; das Material<lb/> der Geschichte können wir nie in ein System von allgemeinen Begriffen brin-<lb/> gen. Das Individuelle, Persönliche ist irrational. „Die Einteilung der Wissen-<lb/> schaften nach Natur und Geschichte ist unvollständig und erschöpfend, inso-<lb/> fern, als die empirischen Wissenschaften nur entweder mit Rücksicht auf das<lb/> Allgemeine oder mit Rücksicht auf das Besondere die Wirklichkeit betrach-<lb/> ten können.“ Die Geschichte hat eine gänzlich andere Begriffsbildung wie<lb/> die Naturwissenschaft, worauf wir unten § 15 zurückkommen. Die Idee des<lb/> Individuellen, Unteilbaren, Einzigartigen beherrscht die Geschichte. Nur die<lb/> Handlungen, die eine allgemeine Bedeutung haben, die Erscheinungen, welche<lb/> auf allgemein anerkannte Kulturzwecke bezogen werden, interessieren sie.<lb/> Ihre Begriffsbildung ist eine teleologische, gewisse bedeutsame Erscheinun-<lb/> gen als Einheit auffassende. — Rickert hat bei einer Anzahl jüngerer Sozio-<lb/> logen, Philosophen, Nationalökonomen Beifall gefunden; aber doch mit gewis-<lb/> sen Einschränkungen z. B. bei Simmel; fast leidenschaftlich ist ihm Max We-<lb/> ber gefolgt, vor allem in der schroffen Betonung, daß alle Geisteswissen-<lb/> schaft es nur mit Einzigartigem zu tun habe.<lb/> Windelband und Rickert haben nun aber selbst schon viel Wasser in ihren<lb/> Wein gegossen und sich so von ihrer ursprünglich schroffen Scheidung der<lb/> Methoden wieder merklich entfernt. Windelband erklärte 1894, er habe mit<lb/> dem Gegensatz nomothetischer und ideographischer Wissenschaften nur po-<lb/> lare Richtpunkte bezeichnen wollen, zwischen denen sich die methodische Ar-<lb/> beit zahlreicher Wissenschaften in der Mitte bewege. Rickert hält in seinem<lb/> Werke über die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung, an dem<lb/> er viele Jahre arbeitete, einerseits den obigen Standpunkt fest, gibt aber an-<lb/> dererseits zu, daß man die Gesellschaft und ihre Entwicklungsformen unter<lb/> allgemeine Begriffe, ihre kausale Entwickelung unter Gesetze bringen könne;<lb/> er gibt zu, daß hier oft typische Massenbewegungen und gerade nicht Einzig-<lb/> artiges den Ausschlag gebe; aber — so entschuldigt er seinen eigenen Wider-<lb/> spruch — das sei dann eben nicht Geschichte im höheren, absoluten Sinne.<lb/> Auch Weber macht einzelne solche Konzessionen. Damit ist zugestanden, daß<lb/> die Einteilung in Natur- und Geistes- oder Kulturwissenschaft (resp. Ge-<lb/> schichte) nicht zugleich eine Ausschließlichkeit der Methode bedinge, daß in<lb/> der letzteren neben den mit anderen Methoden anzufassenden individuellen Er-<lb/> scheinungen doch auch generelle vorhanden sind, die in ähnlicher Art, wie<lb/> die Naturwissenschaften es tun, zu behandeln sind. Das ist es, was Dilthey<lb/> immer sagte und neuestens wieder betonte.<lb/> Die Volkswirtschaftslehre gehört jedenfalls zu den Wissenschaften, welche je<lb/> am geeigneten Orte naturwissenschaftliche und geisteswissenschaftliche Me-<lb/> thoden anwenden muß. Das Falsche war, wie der Amerikaner Patten sagt,<lb/> daß die Physiokratie, die Ricardosche Schule, der neuere Materialismus sie zur<lb/> reinen Naturwissenschaft machen wollten, der Fortschritt bestand nach ihm<lb/> darin, daß A. Smith und die neuere deutsche Wissenschaft den Menschen und<lb/> die Gesellschaft in den Mittelpunkt derselben stellten; aber sie schlossen da-<lb/> mit naturwissenschaftliche Methoden, allgemeine Begriffe, Gesetzmäßigkeiten<lb/></note> </div> </body> </text> </TEI> [76/0080]
³ gänge, die nicht unter der Rücksicht interessieren, in welchem Verhältnisse sie
zu einem allgemeinen Begriffe oder einem Systeme von Begriffen stehen, son-
dern die uns als anschauliche und individuelle Gestaltungen, als Wirklich-
keiten von Bedeutung sind. Es sind die geschichtlichen Vorgänge; das Material
der Geschichte können wir nie in ein System von allgemeinen Begriffen brin-
gen. Das Individuelle, Persönliche ist irrational. „Die Einteilung der Wissen-
schaften nach Natur und Geschichte ist unvollständig und erschöpfend, inso-
fern, als die empirischen Wissenschaften nur entweder mit Rücksicht auf das
Allgemeine oder mit Rücksicht auf das Besondere die Wirklichkeit betrach-
ten können.“ Die Geschichte hat eine gänzlich andere Begriffsbildung wie
die Naturwissenschaft, worauf wir unten § 15 zurückkommen. Die Idee des
Individuellen, Unteilbaren, Einzigartigen beherrscht die Geschichte. Nur die
Handlungen, die eine allgemeine Bedeutung haben, die Erscheinungen, welche
auf allgemein anerkannte Kulturzwecke bezogen werden, interessieren sie.
Ihre Begriffsbildung ist eine teleologische, gewisse bedeutsame Erscheinun-
gen als Einheit auffassende. — Rickert hat bei einer Anzahl jüngerer Sozio-
logen, Philosophen, Nationalökonomen Beifall gefunden; aber doch mit gewis-
sen Einschränkungen z. B. bei Simmel; fast leidenschaftlich ist ihm Max We-
ber gefolgt, vor allem in der schroffen Betonung, daß alle Geisteswissen-
schaft es nur mit Einzigartigem zu tun habe.
Windelband und Rickert haben nun aber selbst schon viel Wasser in ihren
Wein gegossen und sich so von ihrer ursprünglich schroffen Scheidung der
Methoden wieder merklich entfernt. Windelband erklärte 1894, er habe mit
dem Gegensatz nomothetischer und ideographischer Wissenschaften nur po-
lare Richtpunkte bezeichnen wollen, zwischen denen sich die methodische Ar-
beit zahlreicher Wissenschaften in der Mitte bewege. Rickert hält in seinem
Werke über die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung, an dem
er viele Jahre arbeitete, einerseits den obigen Standpunkt fest, gibt aber an-
dererseits zu, daß man die Gesellschaft und ihre Entwicklungsformen unter
allgemeine Begriffe, ihre kausale Entwickelung unter Gesetze bringen könne;
er gibt zu, daß hier oft typische Massenbewegungen und gerade nicht Einzig-
artiges den Ausschlag gebe; aber — so entschuldigt er seinen eigenen Wider-
spruch — das sei dann eben nicht Geschichte im höheren, absoluten Sinne.
Auch Weber macht einzelne solche Konzessionen. Damit ist zugestanden, daß
die Einteilung in Natur- und Geistes- oder Kulturwissenschaft (resp. Ge-
schichte) nicht zugleich eine Ausschließlichkeit der Methode bedinge, daß in
der letzteren neben den mit anderen Methoden anzufassenden individuellen Er-
scheinungen doch auch generelle vorhanden sind, die in ähnlicher Art, wie
die Naturwissenschaften es tun, zu behandeln sind. Das ist es, was Dilthey
immer sagte und neuestens wieder betonte.
Die Volkswirtschaftslehre gehört jedenfalls zu den Wissenschaften, welche je
am geeigneten Orte naturwissenschaftliche und geisteswissenschaftliche Me-
thoden anwenden muß. Das Falsche war, wie der Amerikaner Patten sagt,
daß die Physiokratie, die Ricardosche Schule, der neuere Materialismus sie zur
reinen Naturwissenschaft machen wollten, der Fortschritt bestand nach ihm
darin, daß A. Smith und die neuere deutsche Wissenschaft den Menschen und
die Gesellschaft in den Mittelpunkt derselben stellten; aber sie schlossen da-
mit naturwissenschaftliche Methoden, allgemeine Begriffe, Gesetzmäßigkeiten
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |