Schmoller, Gustav: Die Volkswirtschaft, die Volkswirtschaftslehre und ihre Methode. Frankfurt (Main), 1893.wissenschaft und schon deshalb stehen sittliche Urteile vielfach anderen empi- rischen Erfahrungen gleich: aber auch, wo die Ethik sich der Teleologie be- dient, dürfen wir sie nicht als unwissenschaftlich bezeichnen. Und ebenso- wenig dürfen wir die Volkswirtschaftslehre auf das Technisch-Ökonomische und dessen empirische Untersuchungen beschränken: unsere Wissenschaft hat es in erster Linie zu tun mit menschlichen Handlungen und ihren Ursachen (d. h. mit gesellschaftlichen und sittlichen Zwecken) und mit der gesellschaft- lichen sittlich-rechtlichen Ordnung des Wirtschaftslebens. Und daher bleibt, wenn wir aus der Volkswirtschaftslehre die sittlichen Zecke, das psychisch- sittliche Triebleben und seine Ordnung durch Moral, Sitte und Recht ausschei- den, nicht sehr viel übrig. 1. Wir fragen, was können wir in unserer Wissenschaft erschöpfend behan- deln, wenn wir die sittlichen Zwecke und Ursachen ausschalten. Die Ant- wort ist: gewisse Wert- und Preisuntersuchungen können wir von den Grö- ßenverhältnissen der Produktion und des Handels ausgehend unter der Fik- tion gleichen Handelns aller Beteiligten wissenschaftlich, ich möchte sagen nach dem Vorbild der Naturwissenschaften ohne Eingehen auf sittliche Ur- sachen, sittliche Urteile behandeln. Aber in eine Menge tiefer greifender Wertprobleme sowie in die meisten Steuerfragen schon greifen sittliche Zwecke und sittliche Urteile ein: man denke nur an alle Fragen wirtschaft- licher und sozialer Gerechtigkeit. Und vollends alle Fragen über das wirtschaftliche Verhältnis von Staat, Fa- milie, Unternehmung und Individuum, über die Umbildung der volkswirt- schaftlichen Organisation, über Armen- und Versicherungswesen, Arbeiter- verbände berühren die ethischen Grundfragen. Was kommt also heraus, wenn man für diese Fragen einerseits eine theoretische Erörterung ohne Einmen- gung sittlicher Urteile fordert und daneben eine praktisch-politische mit Heran- ziehung dieser? Man verlangt damit die Zerreißung eines untrennbaren Zu- sammenhanges; man verlangt, daß dieselben Personen mit zwei Zungen reden oder mit zwei Tinten schreiben sollen, je nachdem sie als Wissenschaftler oder Politiker tätig sind. 2. Das Berechtigte in der Forderung der Scheidung ist also auf diesen Ge- bieten, wo psychologische und sittliche Ursachen ausschlaggebend sind, nur, daß. wer darüber schreibt oder spricht, ein Bewußtsein habe, wie weit er empi- rische Kausalitätsverhältnisse unter den Füßen habe oder nicht. Der Forscher muß stets die empirische Forschung so weit treiben, als es irgend geht, auch auf dem Gebiete der sittlichen Zwecke und sittlichen Urteile; er muß bei dieser Forschung sich seiner persönlichen Ideale möglichst entledigen; er muß, wo er sittliche Zwecke und sittliche Ideale als Ursachen findet, sie ebenso objektiv behandeln wie andere. Er muß, wo er nebeneinander konkurrierende verschie- dene sittliche Ideale und Urteile findet, wie vor allem im politischen Partei- und Tagesstreit, sie als gleichberechtigte Kräfte behandeln, soweit er nicht aus ihren Folgen den Schaden oder den Vorteil der einen oder anderen Art glaub- haft nachweisen kann. Er wird, an zweifelhaften Punkten angekommen, über Reformen, über die Durchführung strittiger Ideale stets vorsichtig urteilen. Aber man wird auch in der wissenschaftlichen Abhandlung und Rede von ihm nicht Schweigen verlangen können, wo er auf Grund seiner empirisch-exak- ten Forschung, seiner psychologischen und historischen Erkenntnis, seiner teleo- wissenschaft und schon deshalb stehen sittliche Urteile vielfach anderen empi- rischen Erfahrungen gleich: aber auch, wo die Ethik sich der Teleologie be- dient, dürfen wir sie nicht als unwissenschaftlich bezeichnen. Und ebenso- wenig dürfen wir die Volkswirtschaftslehre auf das Technisch-Ökonomische und dessen empirische Untersuchungen beschränken: unsere Wissenschaft hat es in erster Linie zu tun mit menschlichen Handlungen und ihren Ursachen (d. h. mit gesellschaftlichen und sittlichen Zwecken) und mit der gesellschaft- lichen sittlich-rechtlichen Ordnung des Wirtschaftslebens. Und daher bleibt, wenn wir aus der Volkswirtschaftslehre die sittlichen Zecke, das psychisch- sittliche Triebleben und seine Ordnung durch Moral, Sitte und Recht ausschei- den, nicht sehr viel übrig. 1. Wir fragen, was können wir in unserer Wissenschaft erschöpfend behan- deln, wenn wir die sittlichen Zwecke und Ursachen ausschalten. Die Ant- wort ist: gewisse Wert- und Preisuntersuchungen können wir von den Grö- ßenverhältnissen der Produktion und des Handels ausgehend unter der Fik- tion gleichen Handelns aller Beteiligten wissenschaftlich, ich möchte sagen nach dem Vorbild der Naturwissenschaften ohne Eingehen auf sittliche Ur- sachen, sittliche Urteile behandeln. Aber in eine Menge tiefer greifender Wertprobleme sowie in die meisten Steuerfragen schon greifen sittliche Zwecke und sittliche Urteile ein: man denke nur an alle Fragen wirtschaft- licher und sozialer Gerechtigkeit. Und vollends alle Fragen über das wirtschaftliche Verhältnis von Staat, Fa- milie, Unternehmung und Individuum, über die Umbildung der volkswirt- schaftlichen Organisation, über Armen- und Versicherungswesen, Arbeiter- verbände berühren die ethischen Grundfragen. Was kommt also heraus, wenn man für diese Fragen einerseits eine theoretische Erörterung ohne Einmen- gung sittlicher Urteile fordert und daneben eine praktisch-politische mit Heran- ziehung dieser? Man verlangt damit die Zerreißung eines untrennbaren Zu- sammenhanges; man verlangt, daß dieselben Personen mit zwei Zungen reden oder mit zwei Tinten schreiben sollen, je nachdem sie als Wissenschaftler oder Politiker tätig sind. 2. Das Berechtigte in der Forderung der Scheidung ist also auf diesen Ge- bieten, wo psychologische und sittliche Ursachen ausschlaggebend sind, nur, daß. wer darüber schreibt oder spricht, ein Bewußtsein habe, wie weit er empi- rische Kausalitätsverhältnisse unter den Füßen habe oder nicht. Der Forscher muß stets die empirische Forschung so weit treiben, als es irgend geht, auch auf dem Gebiete der sittlichen Zwecke und sittlichen Urteile; er muß bei dieser Forschung sich seiner persönlichen Ideale möglichst entledigen; er muß, wo er sittliche Zwecke und sittliche Ideale als Ursachen findet, sie ebenso objektiv behandeln wie andere. Er muß, wo er nebeneinander konkurrierende verschie- dene sittliche Ideale und Urteile findet, wie vor allem im politischen Partei- und Tagesstreit, sie als gleichberechtigte Kräfte behandeln, soweit er nicht aus ihren Folgen den Schaden oder den Vorteil der einen oder anderen Art glaub- haft nachweisen kann. Er wird, an zweifelhaften Punkten angekommen, über Reformen, über die Durchführung strittiger Ideale stets vorsichtig urteilen. Aber man wird auch in der wissenschaftlichen Abhandlung und Rede von ihm nicht Schweigen verlangen können, wo er auf Grund seiner empirisch-exak- ten Forschung, seiner psychologischen und historischen Erkenntnis, seiner teleo- <TEI> <text> <body> <div n="1"> <note place="end" n="6"><pb facs="#f0086" n="82"/> wissenschaft und schon deshalb stehen sittliche Urteile vielfach anderen empi-<lb/> rischen Erfahrungen gleich: aber auch, wo die Ethik sich der Teleologie be-<lb/> dient, dürfen wir sie nicht als unwissenschaftlich bezeichnen. Und ebenso-<lb/> wenig dürfen wir die Volkswirtschaftslehre auf das Technisch-Ökonomische<lb/> und dessen empirische Untersuchungen beschränken: unsere Wissenschaft hat<lb/> es in erster Linie zu tun mit menschlichen Handlungen und ihren Ursachen<lb/> (d. h. mit gesellschaftlichen und sittlichen Zwecken) und mit der gesellschaft-<lb/> lichen sittlich-rechtlichen Ordnung des Wirtschaftslebens. 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Aber in eine Menge tiefer greifender<lb/> Wertprobleme sowie in die meisten Steuerfragen schon greifen sittliche<lb/> Zwecke und sittliche Urteile ein: man denke nur an alle Fragen wirtschaft-<lb/> licher und sozialer Gerechtigkeit.<lb/> Und vollends alle Fragen über das wirtschaftliche Verhältnis von Staat, Fa-<lb/> milie, Unternehmung und Individuum, über die Umbildung der volkswirt-<lb/> schaftlichen Organisation, über Armen- und Versicherungswesen, Arbeiter-<lb/> verbände berühren die ethischen Grundfragen. Was kommt also heraus, wenn<lb/> man für diese Fragen einerseits eine theoretische Erörterung ohne Einmen-<lb/> gung sittlicher Urteile fordert und daneben eine praktisch-politische mit Heran-<lb/> ziehung dieser? Man verlangt damit die Zerreißung eines untrennbaren Zu-<lb/> sammenhanges; man verlangt, daß dieselben Personen mit zwei Zungen reden<lb/> oder mit zwei Tinten schreiben sollen, je nachdem sie als Wissenschaftler<lb/> oder Politiker tätig sind.<lb/> 2. 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⁶ wissenschaft und schon deshalb stehen sittliche Urteile vielfach anderen empi-
rischen Erfahrungen gleich: aber auch, wo die Ethik sich der Teleologie be-
dient, dürfen wir sie nicht als unwissenschaftlich bezeichnen. Und ebenso-
wenig dürfen wir die Volkswirtschaftslehre auf das Technisch-Ökonomische
und dessen empirische Untersuchungen beschränken: unsere Wissenschaft hat
es in erster Linie zu tun mit menschlichen Handlungen und ihren Ursachen
(d. h. mit gesellschaftlichen und sittlichen Zwecken) und mit der gesellschaft-
lichen sittlich-rechtlichen Ordnung des Wirtschaftslebens. Und daher bleibt,
wenn wir aus der Volkswirtschaftslehre die sittlichen Zecke, das psychisch-
sittliche Triebleben und seine Ordnung durch Moral, Sitte und Recht ausschei-
den, nicht sehr viel übrig.
1. Wir fragen, was können wir in unserer Wissenschaft erschöpfend behan-
deln, wenn wir die sittlichen Zwecke und Ursachen ausschalten. Die Ant-
wort ist: gewisse Wert- und Preisuntersuchungen können wir von den Grö-
ßenverhältnissen der Produktion und des Handels ausgehend unter der Fik-
tion gleichen Handelns aller Beteiligten wissenschaftlich, ich möchte sagen
nach dem Vorbild der Naturwissenschaften ohne Eingehen auf sittliche Ur-
sachen, sittliche Urteile behandeln. Aber in eine Menge tiefer greifender
Wertprobleme sowie in die meisten Steuerfragen schon greifen sittliche
Zwecke und sittliche Urteile ein: man denke nur an alle Fragen wirtschaft-
licher und sozialer Gerechtigkeit.
Und vollends alle Fragen über das wirtschaftliche Verhältnis von Staat, Fa-
milie, Unternehmung und Individuum, über die Umbildung der volkswirt-
schaftlichen Organisation, über Armen- und Versicherungswesen, Arbeiter-
verbände berühren die ethischen Grundfragen. Was kommt also heraus, wenn
man für diese Fragen einerseits eine theoretische Erörterung ohne Einmen-
gung sittlicher Urteile fordert und daneben eine praktisch-politische mit Heran-
ziehung dieser? Man verlangt damit die Zerreißung eines untrennbaren Zu-
sammenhanges; man verlangt, daß dieselben Personen mit zwei Zungen reden
oder mit zwei Tinten schreiben sollen, je nachdem sie als Wissenschaftler
oder Politiker tätig sind.
2. Das Berechtigte in der Forderung der Scheidung ist also auf diesen Ge-
bieten, wo psychologische und sittliche Ursachen ausschlaggebend sind, nur, daß.
wer darüber schreibt oder spricht, ein Bewußtsein habe, wie weit er empi-
rische Kausalitätsverhältnisse unter den Füßen habe oder nicht. Der Forscher
muß stets die empirische Forschung so weit treiben, als es irgend geht, auch
auf dem Gebiete der sittlichen Zwecke und sittlichen Urteile; er muß bei dieser
Forschung sich seiner persönlichen Ideale möglichst entledigen; er muß, wo er
sittliche Zwecke und sittliche Ideale als Ursachen findet, sie ebenso objektiv
behandeln wie andere. Er muß, wo er nebeneinander konkurrierende verschie-
dene sittliche Ideale und Urteile findet, wie vor allem im politischen Partei-
und Tagesstreit, sie als gleichberechtigte Kräfte behandeln, soweit er nicht aus
ihren Folgen den Schaden oder den Vorteil der einen oder anderen Art glaub-
haft nachweisen kann. Er wird, an zweifelhaften Punkten angekommen, über
Reformen, über die Durchführung strittiger Ideale stets vorsichtig urteilen.
Aber man wird auch in der wissenschaftlichen Abhandlung und Rede von ihm
nicht Schweigen verlangen können, wo er auf Grund seiner empirisch-exak-
ten Forschung, seiner psychologischen und historischen Erkenntnis, seiner teleo-
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