Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Schopenhauer, Johanna: Johann van Eyck und seine Nachfolger. Bd. 1. Frankfurt (Main), 1822.

Bild:
<< vorherige Seite


werk verzierte Notenpult in der einen Hand und
gibt mit der andern den Tackt an, um den Gesang
seiner hinter ihm gruppirten Brüder zu leiten.
Unerachtet ihrer großen, schimmernden Flügel sind
alle diese himmlischen Sänger doch eigentlich nur
das treue Porträt schöner Chorknaben, wie sie der
Künstler unzähligemal sah; in Ausdruck und Be-
wegung rein menschlich dargestellt, mit unübertroff-
ner Wahrheit und entzückender Naivetät, aber
himmelweit entfernt von jedem Gedanken an
Jdeal. Alle blicken sehr ernst in das auf dem
Pulte liegende Notenblatt und singen so eifrig,
mit so emsiger Anstrengung, daß man fast taub
zu seyn glaubt, indem man sie sieht und nicht
hört. Karl von Manders naive Bemerkung, daß
man jedem von ihnen deutlich ansehen könne, welche
Stimme er singt, ob Baß, Tenor oder Sopran,
muß dabei jedem einfallen. Jch sah dieses Ge-
mälde einst durch die offne Thür des Zimmers,
welches an das stößt wo die Tafeln aufgestellt
sind, in einiger Entfernung; ein scharfer heller Son-
nenstrahl beleuchtete es, und die Knaben standen


werk verzierte Notenpult in der einen Hand und
gibt mit der andern den Tackt an, um den Geſang
ſeiner hinter ihm gruppirten Brüder zu leiten.
Unerachtet ihrer großen, ſchimmernden Flügel ſind
alle dieſe himmliſchen Sänger doch eigentlich nur
das treue Porträt ſchöner Chorknaben, wie ſie der
Künſtler unzähligemal ſah; in Ausdruck und Be-
wegung rein menſchlich dargeſtellt, mit unübertroff-
ner Wahrheit und entzückender Naivetät, aber
himmelweit entfernt von jedem Gedanken an
Jdeal. Alle blicken ſehr ernſt in das auf dem
Pulte liegende Notenblatt und ſingen ſo eifrig,
mit ſo emſiger Anſtrengung, daß man faſt taub
zu ſeyn glaubt, indem man ſie ſieht und nicht
hört. Karl von Manders naive Bemerkung, daß
man jedem von ihnen deutlich anſehen könne, welche
Stimme er ſingt, ob Baß, Tenor oder Sopran,
muß dabei jedem einfallen. Jch ſah dieſes Ge-
mälde einſt durch die offne Thür des Zimmers,
welches an das ſtößt wo die Tafeln aufgeſtellt
ſind, in einiger Entfernung; ein ſcharfer heller Son-
nenſtrahl beleuchtete es, und die Knaben ſtanden

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0070" n="58"/><lb/>
werk verzierte Notenpult in der einen Hand und<lb/>
gibt mit der andern den Tackt an, um den Ge&#x017F;ang<lb/>
&#x017F;einer hinter ihm gruppirten Brüder zu leiten.<lb/>
Unerachtet ihrer großen, &#x017F;chimmernden Flügel &#x017F;ind<lb/>
alle die&#x017F;e himmli&#x017F;chen Sänger doch eigentlich nur<lb/>
das treue Porträt &#x017F;chöner Chorknaben, wie &#x017F;ie der<lb/>
Kün&#x017F;tler unzähligemal &#x017F;ah; in Ausdruck und Be-<lb/>
wegung rein men&#x017F;chlich darge&#x017F;tellt, mit unübertroff-<lb/>
ner Wahrheit und entzückender Naivetät, aber<lb/>
himmelweit entfernt von jedem Gedanken an<lb/>
Jdeal. Alle blicken &#x017F;ehr ern&#x017F;t in das auf dem<lb/>
Pulte liegende Notenblatt und &#x017F;ingen &#x017F;o eifrig,<lb/>
mit &#x017F;o em&#x017F;iger An&#x017F;trengung, daß man fa&#x017F;t taub<lb/>
zu &#x017F;eyn glaubt, indem man &#x017F;ie &#x017F;ieht und nicht<lb/>
hört. Karl von Manders naive Bemerkung, daß<lb/>
man jedem von ihnen deutlich an&#x017F;ehen könne, welche<lb/>
Stimme er &#x017F;ingt, ob Baß, Tenor oder Sopran,<lb/>
muß dabei jedem einfallen. Jch &#x017F;ah die&#x017F;es Ge-<lb/>
mälde ein&#x017F;t durch die offne Thür des Zimmers,<lb/>
welches an das &#x017F;tößt wo die Tafeln aufge&#x017F;tellt<lb/>
&#x017F;ind, in einiger Entfernung; ein &#x017F;charfer heller Son-<lb/>
nen&#x017F;trahl beleuchtete es, und die Knaben &#x017F;tanden<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[58/0070] werk verzierte Notenpult in der einen Hand und gibt mit der andern den Tackt an, um den Geſang ſeiner hinter ihm gruppirten Brüder zu leiten. Unerachtet ihrer großen, ſchimmernden Flügel ſind alle dieſe himmliſchen Sänger doch eigentlich nur das treue Porträt ſchöner Chorknaben, wie ſie der Künſtler unzähligemal ſah; in Ausdruck und Be- wegung rein menſchlich dargeſtellt, mit unübertroff- ner Wahrheit und entzückender Naivetät, aber himmelweit entfernt von jedem Gedanken an Jdeal. Alle blicken ſehr ernſt in das auf dem Pulte liegende Notenblatt und ſingen ſo eifrig, mit ſo emſiger Anſtrengung, daß man faſt taub zu ſeyn glaubt, indem man ſie ſieht und nicht hört. Karl von Manders naive Bemerkung, daß man jedem von ihnen deutlich anſehen könne, welche Stimme er ſingt, ob Baß, Tenor oder Sopran, muß dabei jedem einfallen. Jch ſah dieſes Ge- mälde einſt durch die offne Thür des Zimmers, welches an das ſtößt wo die Tafeln aufgeſtellt ſind, in einiger Entfernung; ein ſcharfer heller Son- nenſtrahl beleuchtete es, und die Knaben ſtanden

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/schopenhauer_eyck01_1822
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/schopenhauer_eyck01_1822/70
Zitationshilfe: Schopenhauer, Johanna: Johann van Eyck und seine Nachfolger. Bd. 1. Frankfurt (Main), 1822, S. 58. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schopenhauer_eyck01_1822/70>, abgerufen am 21.11.2024.