Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Schoppe, Amalie: Der Prophet. Bd. 1. Jena, 1846.

Bild:
<< vorherige Seite

Am meisten wunderte er sich darüber, daß dieses,
von einem so kenntniß- und geistreichen Vater erzo-
gene Mädchen so unbedeutend geblieben war; denn
auch nicht ein einziges von Marien gesprochenes Wort
hatte ihm verrathen, daß ihre Gedanken und Ansich-
ten sich über das Allergewöhnlichste erhöben.

Ein solches Wesen war aber nicht dazu geschaf-
fen, Eindruck auf einen Mann wie Arnold zu machen,
der die höchsten Ansprüche an das Wesen stellte, das
er mit der ganzen Kraft seines noch unentweihten
Herzens lieben sollte. Seiner Seele schwebte ein Jdeal
vor und Marie war weit davon entfernt, demselben
ähnlich zu seyn.

Er war also in Hinsicht ihrer vollkommen ru-
hig. Ruhig, sagen wir, denn wie er den Prophe-
ten erkannt zu haben glaubte; bei der Verachtung, die
er dem Wesen und Treiben dieses Mannes weihte;
bei dem Mißtrauen, das er gegen ihn fühlte, würde
er es für ein großes Unglück haben ansehen müssen,
in irgend eine nähere Beziehung zu ihm zu treten.
Es beschäftigte zwar seinen Geist auf eine angenehme
und besonders auf eine anregende Weise, diesen Mann,
der jedenfalls eine bedeutende Erscheinung war, zu
beobachten, den Fäden des von ihm angelegten Ge-
spinnstes mit den Augen seines Geistes zu folgen, um
zu sehen, wo er endlich damit hinaus wolle; allein

Am meiſten wunderte er ſich darüber, daß dieſes,
von einem ſo kenntniß- und geiſtreichen Vater erzo-
gene Mädchen ſo unbedeutend geblieben war; denn
auch nicht ein einziges von Marien geſprochenes Wort
hatte ihm verrathen, daß ihre Gedanken und Anſich-
ten ſich über das Allergewöhnlichſte erhöben.

Ein ſolches Weſen war aber nicht dazu geſchaf-
fen, Eindruck auf einen Mann wie Arnold zu machen,
der die höchſten Anſprüche an das Weſen ſtellte, das
er mit der ganzen Kraft ſeines noch unentweihten
Herzens lieben ſollte. Seiner Seele ſchwebte ein Jdeal
vor und Marie war weit davon entfernt, demſelben
ähnlich zu ſeyn.

Er war alſo in Hinſicht ihrer vollkommen ru-
hig. Ruhig, ſagen wir, denn wie er den Prophe-
ten erkannt zu haben glaubte; bei der Verachtung, die
er dem Weſen und Treiben dieſes Mannes weihte;
bei dem Mißtrauen, das er gegen ihn fühlte, würde
er es für ein großes Unglück haben anſehen müſſen,
in irgend eine nähere Beziehung zu ihm zu treten.
Es beſchäftigte zwar ſeinen Geiſt auf eine angenehme
und beſonders auf eine anregende Weiſe, dieſen Mann,
der jedenfalls eine bedeutende Erſcheinung war, zu
beobachten, den Fäden des von ihm angelegten Ge-
ſpinnſtes mit den Augen ſeines Geiſtes zu folgen, um
zu ſehen, wo er endlich damit hinaus wolle; allein

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <pb facs="#f0130" n="122"/>
        <p>Am mei&#x017F;ten wunderte er &#x017F;ich darüber, daß die&#x017F;es,<lb/>
von einem &#x017F;o kenntniß- und gei&#x017F;treichen Vater erzo-<lb/>
gene Mädchen &#x017F;o unbedeutend geblieben war; denn<lb/>
auch nicht ein einziges von Marien ge&#x017F;prochenes Wort<lb/>
hatte ihm verrathen, daß ihre Gedanken und An&#x017F;ich-<lb/>
ten &#x017F;ich über das Allergewöhnlich&#x017F;te erhöben.</p><lb/>
        <p>Ein &#x017F;olches We&#x017F;en war aber nicht dazu ge&#x017F;chaf-<lb/>
fen, Eindruck auf einen Mann wie Arnold zu machen,<lb/>
der die höch&#x017F;ten An&#x017F;prüche an das We&#x017F;en &#x017F;tellte, das<lb/>
er mit der ganzen Kraft &#x017F;eines noch unentweihten<lb/>
Herzens lieben &#x017F;ollte. Seiner Seele &#x017F;chwebte ein Jdeal<lb/>
vor und Marie war weit davon entfernt, dem&#x017F;elben<lb/>
ähnlich zu &#x017F;eyn.</p><lb/>
        <p>Er war al&#x017F;o in Hin&#x017F;icht ihrer vollkommen ru-<lb/>
hig. <hi rendition="#g">Ruhig,</hi> &#x017F;agen wir, denn wie er den Prophe-<lb/>
ten erkannt zu haben glaubte; bei der Verachtung, die<lb/>
er dem We&#x017F;en und Treiben die&#x017F;es Mannes weihte;<lb/>
bei dem Mißtrauen, das er gegen ihn fühlte, würde<lb/>
er es für ein großes Unglück haben an&#x017F;ehen mü&#x017F;&#x017F;en,<lb/>
in irgend eine nähere Beziehung zu ihm zu treten.<lb/>
Es be&#x017F;chäftigte zwar &#x017F;einen Gei&#x017F;t auf eine angenehme<lb/>
und be&#x017F;onders auf eine anregende Wei&#x017F;e, die&#x017F;en Mann,<lb/>
der jedenfalls eine bedeutende Er&#x017F;cheinung war, zu<lb/>
beobachten, den Fäden des von ihm angelegten Ge-<lb/>
&#x017F;pinn&#x017F;tes mit den Augen &#x017F;eines Gei&#x017F;tes zu folgen, um<lb/>
zu &#x017F;ehen, wo er endlich damit hinaus wolle; allein<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[122/0130] Am meiſten wunderte er ſich darüber, daß dieſes, von einem ſo kenntniß- und geiſtreichen Vater erzo- gene Mädchen ſo unbedeutend geblieben war; denn auch nicht ein einziges von Marien geſprochenes Wort hatte ihm verrathen, daß ihre Gedanken und Anſich- ten ſich über das Allergewöhnlichſte erhöben. Ein ſolches Weſen war aber nicht dazu geſchaf- fen, Eindruck auf einen Mann wie Arnold zu machen, der die höchſten Anſprüche an das Weſen ſtellte, das er mit der ganzen Kraft ſeines noch unentweihten Herzens lieben ſollte. Seiner Seele ſchwebte ein Jdeal vor und Marie war weit davon entfernt, demſelben ähnlich zu ſeyn. Er war alſo in Hinſicht ihrer vollkommen ru- hig. Ruhig, ſagen wir, denn wie er den Prophe- ten erkannt zu haben glaubte; bei der Verachtung, die er dem Weſen und Treiben dieſes Mannes weihte; bei dem Mißtrauen, das er gegen ihn fühlte, würde er es für ein großes Unglück haben anſehen müſſen, in irgend eine nähere Beziehung zu ihm zu treten. Es beſchäftigte zwar ſeinen Geiſt auf eine angenehme und beſonders auf eine anregende Weiſe, dieſen Mann, der jedenfalls eine bedeutende Erſcheinung war, zu beobachten, den Fäden des von ihm angelegten Ge- ſpinnſtes mit den Augen ſeines Geiſtes zu folgen, um zu ſehen, wo er endlich damit hinaus wolle; allein

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/schoppe_prophet01_1846
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/schoppe_prophet01_1846/130
Zitationshilfe: Schoppe, Amalie: Der Prophet. Bd. 1. Jena, 1846, S. 122. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schoppe_prophet01_1846/130>, abgerufen am 04.12.2024.