der und war entschlossen, den sichern Tod zu erwar- ten, ohne einen, wie sie wähnte, fruchtlosen Versuch zu ihrer Rettung zu machen; dann raffte sie sich auf und alle ihre Kräfte zusammennehmend, erklomm sie den Gipfel des hohen Berges, an dessen Fuße sie ihr treuloser Führer verlassen hatte. Von hieraus über- schaute ihr Blick eine mit hohen Gräsern und andern Kräutern bedeckte, unabsehbare Ebene, deren äußer- sten Rand der Horizont begrenzte. Kein Weg, kein Pfad führte durch dieses grüne Meer; kein Laut ließ sich in ihm vernehmen; kein Vogel flog darüber hin; kein Lüftchen bewegte die Gräser und hohen Farren- kräuter, womit es bedeckt war, und diese Einförmig- keit, diese Stille hatten etwas so Entsetzliches, daß ihr Gemüth mit der furchtbarsten melancholie dadurch erfüllt wurde.
Marie wußte nicht, ob sie auf dem Gipfel des Berges bleiben, ob sich in die trostlose Prairie hinab- wagen sollte; auch war die Gefahr von Hunger, Durst und reißenden Thieren hier und dort gleich groß.
Endlich stieg sie doch hinab und war, des Berg- kletterns ungewohnt, mehr als zehnmal in Gefahr, auszugleiten und in den Abgrund hinabzustürzen. Bald aber mußte sie bereuen, nicht lieber oben ge- blieben zu seyn, denn ihre bereits erschöpften Kräfte
der und war entſchloſſen, den ſichern Tod zu erwar- ten, ohne einen, wie ſie wähnte, fruchtloſen Verſuch zu ihrer Rettung zu machen; dann raffte ſie ſich auf und alle ihre Kräfte zuſammennehmend, erklomm ſie den Gipfel des hohen Berges, an deſſen Fuße ſie ihr treuloſer Führer verlaſſen hatte. Von hieraus über- ſchaute ihr Blick eine mit hohen Gräſern und andern Kräutern bedeckte, unabſehbare Ebene, deren äußer- ſten Rand der Horizont begrenzte. Kein Weg, kein Pfad führte durch dieſes grüne Meer; kein Laut ließ ſich in ihm vernehmen; kein Vogel flog darüber hin; kein Lüftchen bewegte die Gräſer und hohen Farren- kräuter, womit es bedeckt war, und dieſe Einförmig- keit, dieſe Stille hatten etwas ſo Entſetzliches, daß ihr Gemüth mit der furchtbarſten melancholie dadurch erfüllt wurde.
Marie wußte nicht, ob ſie auf dem Gipfel des Berges bleiben, ob ſich in die troſtloſe Prairie hinab- wagen ſollte; auch war die Gefahr von Hunger, Durſt und reißenden Thieren hier und dort gleich groß.
Endlich ſtieg ſie doch hinab und war, des Berg- kletterns ungewohnt, mehr als zehnmal in Gefahr, auszugleiten und in den Abgrund hinabzuſtürzen. Bald aber mußte ſie bereuen, nicht lieber oben ge- blieben zu ſeyn, denn ihre bereits erſchöpften Kräfte
<TEI><text><body><divn="1"><p><pbfacs="#f0196"n="190"/>
der und war entſchloſſen, den ſichern Tod zu erwar-<lb/>
ten, ohne einen, wie ſie wähnte, fruchtloſen Verſuch<lb/>
zu ihrer Rettung zu machen; dann raffte ſie ſich auf<lb/>
und alle ihre Kräfte zuſammennehmend, erklomm ſie<lb/>
den Gipfel des hohen Berges, an deſſen Fuße ſie ihr<lb/>
treuloſer Führer verlaſſen hatte. Von hieraus über-<lb/>ſchaute ihr Blick eine mit hohen Gräſern und andern<lb/>
Kräutern bedeckte, unabſehbare Ebene, deren äußer-<lb/>ſten Rand der Horizont begrenzte. Kein Weg, kein<lb/>
Pfad führte durch dieſes grüne Meer; kein Laut ließ<lb/>ſich in ihm vernehmen; kein Vogel flog darüber hin;<lb/>
kein Lüftchen bewegte die Gräſer und hohen Farren-<lb/>
kräuter, womit es bedeckt war, und dieſe Einförmig-<lb/>
keit, dieſe Stille hatten etwas ſo Entſetzliches, daß<lb/>
ihr Gemüth mit der furchtbarſten melancholie dadurch<lb/>
erfüllt wurde.</p><lb/><p>Marie wußte nicht, ob ſie auf dem Gipfel des<lb/>
Berges bleiben, ob ſich in die troſtloſe Prairie hinab-<lb/>
wagen ſollte; auch war die Gefahr von Hunger,<lb/>
Durſt und reißenden Thieren hier und dort gleich<lb/>
groß.</p><lb/><p>Endlich ſtieg ſie doch hinab und war, des Berg-<lb/>
kletterns ungewohnt, mehr als zehnmal in Gefahr,<lb/>
auszugleiten und in den Abgrund hinabzuſtürzen.<lb/>
Bald aber mußte ſie bereuen, nicht lieber oben ge-<lb/>
blieben zu ſeyn, denn ihre bereits erſchöpften Kräfte<lb/></p></div></body></text></TEI>
[190/0196]
der und war entſchloſſen, den ſichern Tod zu erwar-
ten, ohne einen, wie ſie wähnte, fruchtloſen Verſuch
zu ihrer Rettung zu machen; dann raffte ſie ſich auf
und alle ihre Kräfte zuſammennehmend, erklomm ſie
den Gipfel des hohen Berges, an deſſen Fuße ſie ihr
treuloſer Führer verlaſſen hatte. Von hieraus über-
ſchaute ihr Blick eine mit hohen Gräſern und andern
Kräutern bedeckte, unabſehbare Ebene, deren äußer-
ſten Rand der Horizont begrenzte. Kein Weg, kein
Pfad führte durch dieſes grüne Meer; kein Laut ließ
ſich in ihm vernehmen; kein Vogel flog darüber hin;
kein Lüftchen bewegte die Gräſer und hohen Farren-
kräuter, womit es bedeckt war, und dieſe Einförmig-
keit, dieſe Stille hatten etwas ſo Entſetzliches, daß
ihr Gemüth mit der furchtbarſten melancholie dadurch
erfüllt wurde.
Marie wußte nicht, ob ſie auf dem Gipfel des
Berges bleiben, ob ſich in die troſtloſe Prairie hinab-
wagen ſollte; auch war die Gefahr von Hunger,
Durſt und reißenden Thieren hier und dort gleich
groß.
Endlich ſtieg ſie doch hinab und war, des Berg-
kletterns ungewohnt, mehr als zehnmal in Gefahr,
auszugleiten und in den Abgrund hinabzuſtürzen.
Bald aber mußte ſie bereuen, nicht lieber oben ge-
blieben zu ſeyn, denn ihre bereits erſchöpften Kräfte
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Schoppe, Amalie: Der Prophet. Bd. 2. Jena, 1846, S. 190. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schoppe_prophet02_1846/196>, abgerufen am 16.02.2025.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2025 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften
(Kontakt).
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2025. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.