Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Schreber, Daniel Gottlob Moritz: Kallipädie oder Erziehung zur Schönheit. Leipzig, 1858.

Bild:
<< vorherige Seite

2.--7. JAHR. GEISTIGE SEITE. DAS KIND MIT SEINEN ÄLTERN.
eines Kindes mit einem anderen ausgesprochen wird. Wenig-
stens darf das gelobte und als Muster hingestellte Kind nicht
gegenwärtig sein, wenn das andere getadelt wird. Sonst ist
Selbstüberhebung auf der einen, und nachtheilige Nieder-
drückung auf der anderen Seite unvermeidlich.

Sodann werden specielle Belohnungen aber auch durch
consequente Behandlung des Kindes nach der entgegengesetz-
ten Richtung hin ganz entbehrlich: wenn auftauchende unrechte
Gesinnungen und Handlungen durch festen Ernst oder nöthi-
genfalls Strafen sofort abgeschnitten werden. Ist die Richtung
nach unten geschlossen, so bleibt nur die Richtung nach oben
offen. Die edlen Keime der menschlichen Natur sprossen in
ihrer Reinheit fast von selbst hervor, wenn die unedlen (das
Unkraut) rechtzeitig verfolgt und ausgerottet werden. Dies
freilich muss mit Rastlosigkeit und Nachdruck geschehen. Es
ist ein sehr verderblicher und doch so häufiger Irrthum, wenn
man sich durch die Hoffnung einschläfert, dass Unarten und
Charakterfehler kleiner Kinder später sich von selbst verlieren.
Die scharfen Spitzen und Ecken dieser oder jener geistigen
Fehler runden sich zwar nach Umständen etwas ab, aber, sich
überlassen, bleibt der Wurzelstock in der Tiefe stecken, fährt
mehr oder weniger immer fort in giftigen Trieben emporzu-
wuchern und somit das Gedeihen des edlen Lebensbaumes zu
beeinträchtigen. Die Unart des Kindes wird am Erwachsenen
zum ernsten Charakterfehler, bahnt den Weg zu Laster und
Verworfenheit.

Je sorgfältiger aber die unedlen Keime gebrochen und
entwurzelt werden, um so offener wird das Feld für die Keime
edler Natürlichkeit, um so freieren Spielraum können und sol-
len wir auch der unschuldigen, harmlosen Willensthätigkeit
des Kindes überhaupt lassen. Es ist dies nöthig, damit die
selbständige, freie Willens- und Thatkraft in der erwünschten
Richtung sich von Stufe zu Stufe entwickele. Daher ist auch
der entgegengesetzte Fehler, das Zuviel-Verweisen, Zuviel-Be-
fehlen, Zuviel-Bemuttern zu vermeiden -- ein Fehler, in wel-
chen besorgte Mütter oft verfallen. Das Kind verlässt sich
dann zu sehr auf die Erinnerungen, lernt nicht auf sich selbst

2.—7. JAHR. GEISTIGE SEITE. DAS KIND MIT SEINEN ÄLTERN.
eines Kindes mit einem anderen ausgesprochen wird. Wenig-
stens darf das gelobte und als Muster hingestellte Kind nicht
gegenwärtig sein, wenn das andere getadelt wird. Sonst ist
Selbstüberhebung auf der einen, und nachtheilige Nieder-
drückung auf der anderen Seite unvermeidlich.

Sodann werden specielle Belohnungen aber auch durch
consequente Behandlung des Kindes nach der entgegengesetz-
ten Richtung hin ganz entbehrlich: wenn auftauchende unrechte
Gesinnungen und Handlungen durch festen Ernst oder nöthi-
genfalls Strafen sofort abgeschnitten werden. Ist die Richtung
nach unten geschlossen, so bleibt nur die Richtung nach oben
offen. Die edlen Keime der menschlichen Natur sprossen in
ihrer Reinheit fast von selbst hervor, wenn die unedlen (das
Unkraut) rechtzeitig verfolgt und ausgerottet werden. Dies
freilich muss mit Rastlosigkeit und Nachdruck geschehen. Es
ist ein sehr verderblicher und doch so häufiger Irrthum, wenn
man sich durch die Hoffnung einschläfert, dass Unarten und
Charakterfehler kleiner Kinder später sich von selbst verlieren.
Die scharfen Spitzen und Ecken dieser oder jener geistigen
Fehler runden sich zwar nach Umständen etwas ab, aber, sich
überlassen, bleibt der Wurzelstock in der Tiefe stecken, fährt
mehr oder weniger immer fort in giftigen Trieben emporzu-
wuchern und somit das Gedeihen des edlen Lebensbaumes zu
beeinträchtigen. Die Unart des Kindes wird am Erwachsenen
zum ernsten Charakterfehler, bahnt den Weg zu Laster und
Verworfenheit.

Je sorgfältiger aber die unedlen Keime gebrochen und
entwurzelt werden, um so offener wird das Feld für die Keime
edler Natürlichkeit, um so freieren Spielraum können und sol-
len wir auch der unschuldigen, harmlosen Willensthätigkeit
des Kindes überhaupt lassen. Es ist dies nöthig, damit die
selbständige, freie Willens- und Thatkraft in der erwünschten
Richtung sich von Stufe zu Stufe entwickele. Daher ist auch
der entgegengesetzte Fehler, das Zuviel-Verweisen, Zuviel-Be-
fehlen, Zuviel-Bemuttern zu vermeiden — ein Fehler, in wel-
chen besorgte Mütter oft verfallen. Das Kind verlässt sich
dann zu sehr auf die Erinnerungen, lernt nicht auf sich selbst

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0144" n="140"/><fw place="top" type="header">2.&#x2014;7. JAHR. GEISTIGE SEITE. DAS KIND MIT SEINEN ÄLTERN.</fw><lb/>
eines Kindes mit einem anderen ausgesprochen wird. Wenig-<lb/>
stens darf das gelobte und als Muster hingestellte Kind nicht<lb/>
gegenwärtig sein, wenn das andere getadelt wird. Sonst ist<lb/>
Selbstüberhebung auf der einen, und nachtheilige Nieder-<lb/>
drückung auf der anderen Seite unvermeidlich.</p><lb/>
            <p>Sodann werden specielle Belohnungen aber auch durch<lb/>
consequente Behandlung des Kindes nach der entgegengesetz-<lb/>
ten Richtung hin ganz entbehrlich: wenn auftauchende unrechte<lb/>
Gesinnungen und Handlungen durch festen Ernst oder nöthi-<lb/>
genfalls Strafen sofort abgeschnitten werden. Ist die Richtung<lb/>
nach unten geschlossen, so bleibt nur die Richtung nach oben<lb/>
offen. Die edlen Keime der menschlichen Natur sprossen in<lb/>
ihrer Reinheit fast von selbst hervor, wenn die unedlen (das<lb/>
Unkraut) rechtzeitig verfolgt und ausgerottet werden. Dies<lb/>
freilich muss mit Rastlosigkeit und Nachdruck geschehen. Es<lb/>
ist ein sehr verderblicher und doch so häufiger Irrthum, wenn<lb/>
man sich durch die Hoffnung einschläfert, dass Unarten und<lb/>
Charakterfehler kleiner Kinder später sich von selbst verlieren.<lb/>
Die scharfen Spitzen und Ecken dieser oder jener geistigen<lb/>
Fehler runden sich zwar nach Umständen etwas ab, aber, sich<lb/>
überlassen, bleibt der Wurzelstock in der Tiefe stecken, fährt<lb/>
mehr oder weniger immer fort in giftigen Trieben emporzu-<lb/>
wuchern und somit das Gedeihen des edlen Lebensbaumes zu<lb/>
beeinträchtigen. Die Unart des Kindes wird am Erwachsenen<lb/>
zum ernsten Charakterfehler, bahnt den Weg zu Laster und<lb/>
Verworfenheit.</p><lb/>
            <p>Je sorgfältiger aber die unedlen Keime gebrochen und<lb/>
entwurzelt werden, um so offener wird das Feld für die Keime<lb/>
edler Natürlichkeit, um so freieren Spielraum können und sol-<lb/>
len wir auch der unschuldigen, harmlosen Willensthätigkeit<lb/>
des Kindes überhaupt lassen. Es ist dies nöthig, damit die<lb/>
selbständige, freie Willens- und Thatkraft in der erwünschten<lb/>
Richtung sich von Stufe zu Stufe entwickele. Daher ist auch<lb/>
der entgegengesetzte Fehler, das Zuviel-Verweisen, Zuviel-Be-<lb/>
fehlen, Zuviel-Bemuttern zu vermeiden &#x2014; ein Fehler, in wel-<lb/>
chen besorgte Mütter oft verfallen. Das Kind verlässt sich<lb/>
dann zu sehr auf die Erinnerungen, lernt nicht auf sich selbst<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[140/0144] 2.—7. JAHR. GEISTIGE SEITE. DAS KIND MIT SEINEN ÄLTERN. eines Kindes mit einem anderen ausgesprochen wird. Wenig- stens darf das gelobte und als Muster hingestellte Kind nicht gegenwärtig sein, wenn das andere getadelt wird. Sonst ist Selbstüberhebung auf der einen, und nachtheilige Nieder- drückung auf der anderen Seite unvermeidlich. Sodann werden specielle Belohnungen aber auch durch consequente Behandlung des Kindes nach der entgegengesetz- ten Richtung hin ganz entbehrlich: wenn auftauchende unrechte Gesinnungen und Handlungen durch festen Ernst oder nöthi- genfalls Strafen sofort abgeschnitten werden. Ist die Richtung nach unten geschlossen, so bleibt nur die Richtung nach oben offen. Die edlen Keime der menschlichen Natur sprossen in ihrer Reinheit fast von selbst hervor, wenn die unedlen (das Unkraut) rechtzeitig verfolgt und ausgerottet werden. Dies freilich muss mit Rastlosigkeit und Nachdruck geschehen. Es ist ein sehr verderblicher und doch so häufiger Irrthum, wenn man sich durch die Hoffnung einschläfert, dass Unarten und Charakterfehler kleiner Kinder später sich von selbst verlieren. Die scharfen Spitzen und Ecken dieser oder jener geistigen Fehler runden sich zwar nach Umständen etwas ab, aber, sich überlassen, bleibt der Wurzelstock in der Tiefe stecken, fährt mehr oder weniger immer fort in giftigen Trieben emporzu- wuchern und somit das Gedeihen des edlen Lebensbaumes zu beeinträchtigen. Die Unart des Kindes wird am Erwachsenen zum ernsten Charakterfehler, bahnt den Weg zu Laster und Verworfenheit. Je sorgfältiger aber die unedlen Keime gebrochen und entwurzelt werden, um so offener wird das Feld für die Keime edler Natürlichkeit, um so freieren Spielraum können und sol- len wir auch der unschuldigen, harmlosen Willensthätigkeit des Kindes überhaupt lassen. Es ist dies nöthig, damit die selbständige, freie Willens- und Thatkraft in der erwünschten Richtung sich von Stufe zu Stufe entwickele. Daher ist auch der entgegengesetzte Fehler, das Zuviel-Verweisen, Zuviel-Be- fehlen, Zuviel-Bemuttern zu vermeiden — ein Fehler, in wel- chen besorgte Mütter oft verfallen. Das Kind verlässt sich dann zu sehr auf die Erinnerungen, lernt nicht auf sich selbst

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/schreber_kallipaedie_1858
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/schreber_kallipaedie_1858/144
Zitationshilfe: Schreber, Daniel Gottlob Moritz: Kallipädie oder Erziehung zur Schönheit. Leipzig, 1858, S. 140. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schreber_kallipaedie_1858/144>, abgerufen am 24.11.2024.