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Schreber, Daniel Gottlob Moritz: Kallipädie oder Erziehung zur Schönheit. Leipzig, 1858.

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2.--7. JAHR. GEISTIGE SEITE. DAS KIND MIT SEINEN ÄLTERN.
die Fähigkeit zu immer weiterer Entwickelung beziehen, ist
der Wahrnehmungskreis des Individuums, sind die Wechsel-
wirkungen, in welche der kindliche Geist mit seiner Aussen-
welt tritt. Von der Art und Weise, wie die Aussenwelt auf
das Kind einwirkt und wie letzteres diese Einwirkung auffast
und in sich verarbeitet, hängt die Gestaltung seiner Denkkraft
ab. Das wichtigste und allgemeinste Mittel, sich in der Welt
zurecht zu finden und zum Erkennen der Wahrheit in allen
Beziehungen zu gelangen, ist die Sprache. Diese, als der
directe Gedankenaustausch, ist daher auch das hauptsäch-
lichste Mittel für die Umgebung des Kindes, um auf die Ge-
staltung seiner Denkkraft einzuwirken.

Wollen wir den rechten Weg finden, um das Unsrige bei-
zutragen, dass das Kind richtig, klar und kräftig (d. h. schnell
und umfassend) denken lerne, so müssen wir uns auf den
Standpunkt des kindlichen Geistes herab versetzen und uns
vergegenwärtigen, welche Thätigkeitsstufen der Geist zu er-
steigen hat, um auf die Höhe des klaren Denkens zu gelangen,
um einen fertigen Gedanken zu bilden.

Aus der unmittelbaren Wahrnehmung der Gegenstände
durch die Sinne, am meisten durch Sehen, Hören, Fühlen, bil-
det sich das Kind Vorstellungen (Gehirnbilder), aus der gei-
stigen Zusammenstellung dieser, Begriffe. Durch Vergleichung
der verschiedenen Begriffe unter einander entstehen Urtheile,
und aus diesen bei höherer Entwickelung endlich Schlüsse.
Der einzelne Baum, den das Kind vor seinen Angen hat, er-
zeugt die Vorstellung, das Bild eben dieses Baumes. Hat das
Kind viele, unter sich verschiedene Bäume gesehen, so denkt
es bei dem Worte "Baum" nicht mehr an einen einzelnen,
sondern an die gemeinschaftlichen Merkmale aller Bäume --
es hat den Begriff "Baum" in sich aufgenommen. Vergleicht
es diesen Begriff mit anderen, so kommt es zu dem Urtheile:
"ein Baum gehört zu den Dingen, die mehr hoch als breit
sind." Hat es sich überzeugt, dass man einen Baum nicht um-
stossen kann, so gelangt es endlich zu dem Schlusse: "der hohe
Baum hat einen schmalen Stamm und steht doch fest, er muss also
unter der Oberfläche des Bodens seine Befestigung haben."

2.—7. JAHR. GEISTIGE SEITE. DAS KIND MIT SEINEN ÄLTERN.
die Fähigkeit zu immer weiterer Entwickelung beziehen, ist
der Wahrnehmungskreis des Individuums, sind die Wechsel-
wirkungen, in welche der kindliche Geist mit seiner Aussen-
welt tritt. Von der Art und Weise, wie die Aussenwelt auf
das Kind einwirkt und wie letzteres diese Einwirkung auffast
und in sich verarbeitet, hängt die Gestaltung seiner Denkkraft
ab. Das wichtigste und allgemeinste Mittel, sich in der Welt
zurecht zu finden und zum Erkennen der Wahrheit in allen
Beziehungen zu gelangen, ist die Sprache. Diese, als der
directe Gedankenaustausch, ist daher auch das hauptsäch-
lichste Mittel für die Umgebung des Kindes, um auf die Ge-
staltung seiner Denkkraft einzuwirken.

Wollen wir den rechten Weg finden, um das Unsrige bei-
zutragen, dass das Kind richtig, klar und kräftig (d. h. schnell
und umfassend) denken lerne, so müssen wir uns auf den
Standpunkt des kindlichen Geistes herab versetzen und uns
vergegenwärtigen, welche Thätigkeitsstufen der Geist zu er-
steigen hat, um auf die Höhe des klaren Denkens zu gelangen,
um einen fertigen Gedanken zu bilden.

Aus der unmittelbaren Wahrnehmung der Gegenstände
durch die Sinne, am meisten durch Sehen, Hören, Fühlen, bil-
det sich das Kind Vorstellungen (Gehirnbilder), aus der gei-
stigen Zusammenstellung dieser, Begriffe. Durch Vergleichung
der verschiedenen Begriffe unter einander entstehen Urtheile,
und aus diesen bei höherer Entwickelung endlich Schlüsse.
Der einzelne Baum, den das Kind vor seinen Angen hat, er-
zeugt die Vorstellung, das Bild eben dieses Baumes. Hat das
Kind viele, unter sich verschiedene Bäume gesehen, so denkt
es bei dem Worte „Baum“ nicht mehr an einen einzelnen,
sondern an die gemeinschaftlichen Merkmale aller Bäume —
es hat den Begriff „Baum“ in sich aufgenommen. Vergleicht
es diesen Begriff mit anderen, so kommt es zu dem Urtheile:
„ein Baum gehört zu den Dingen, die mehr hoch als breit
sind.“ Hat es sich überzeugt, dass man einen Baum nicht um-
stossen kann, so gelangt es endlich zu dem Schlusse: „der hohe
Baum hat einen schmalen Stamm und steht doch fest, er muss also
unter der Oberfläche des Bodens seine Befestigung haben.“

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[152/0156] 2.—7. JAHR. GEISTIGE SEITE. DAS KIND MIT SEINEN ÄLTERN. die Fähigkeit zu immer weiterer Entwickelung beziehen, ist der Wahrnehmungskreis des Individuums, sind die Wechsel- wirkungen, in welche der kindliche Geist mit seiner Aussen- welt tritt. Von der Art und Weise, wie die Aussenwelt auf das Kind einwirkt und wie letzteres diese Einwirkung auffast und in sich verarbeitet, hängt die Gestaltung seiner Denkkraft ab. Das wichtigste und allgemeinste Mittel, sich in der Welt zurecht zu finden und zum Erkennen der Wahrheit in allen Beziehungen zu gelangen, ist die Sprache. Diese, als der directe Gedankenaustausch, ist daher auch das hauptsäch- lichste Mittel für die Umgebung des Kindes, um auf die Ge- staltung seiner Denkkraft einzuwirken. Wollen wir den rechten Weg finden, um das Unsrige bei- zutragen, dass das Kind richtig, klar und kräftig (d. h. schnell und umfassend) denken lerne, so müssen wir uns auf den Standpunkt des kindlichen Geistes herab versetzen und uns vergegenwärtigen, welche Thätigkeitsstufen der Geist zu er- steigen hat, um auf die Höhe des klaren Denkens zu gelangen, um einen fertigen Gedanken zu bilden. Aus der unmittelbaren Wahrnehmung der Gegenstände durch die Sinne, am meisten durch Sehen, Hören, Fühlen, bil- det sich das Kind Vorstellungen (Gehirnbilder), aus der gei- stigen Zusammenstellung dieser, Begriffe. Durch Vergleichung der verschiedenen Begriffe unter einander entstehen Urtheile, und aus diesen bei höherer Entwickelung endlich Schlüsse. Der einzelne Baum, den das Kind vor seinen Angen hat, er- zeugt die Vorstellung, das Bild eben dieses Baumes. Hat das Kind viele, unter sich verschiedene Bäume gesehen, so denkt es bei dem Worte „Baum“ nicht mehr an einen einzelnen, sondern an die gemeinschaftlichen Merkmale aller Bäume — es hat den Begriff „Baum“ in sich aufgenommen. Vergleicht es diesen Begriff mit anderen, so kommt es zu dem Urtheile: „ein Baum gehört zu den Dingen, die mehr hoch als breit sind.“ Hat es sich überzeugt, dass man einen Baum nicht um- stossen kann, so gelangt es endlich zu dem Schlusse: „der hohe Baum hat einen schmalen Stamm und steht doch fest, er muss also unter der Oberfläche des Bodens seine Befestigung haben.“

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Zitationshilfe: Schreber, Daniel Gottlob Moritz: Kallipädie oder Erziehung zur Schönheit. Leipzig, 1858, S. 152. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schreber_kallipaedie_1858/156>, abgerufen am 21.11.2024.