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Schreber, Daniel Gottlob Moritz: Kallipädie oder Erziehung zur Schönheit. Leipzig, 1858.

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EINLEITUNG.
gekommenheit. Nicht nur, dass im Allgemeinen die Häufig-
keit der tausenderlei Kränkeleien und ausgebildeten Krankheiten
und Gebrechen in relativer Zunahme begriffen ist, auch der
ganze Bildungstypus der letzten Generationen zeigt unver-
kennbar ein allmäliges Sinken. Den schnellsten bestätigenden
Ueberblick geben die Militäraushebungen, das Herabgehen des
Militärmaasses, die relativ immer häufiger werdenden Untüch-
tigkeitsfälle; sodann das hohe Sterblichkeitsverhältniss beson-
ders in den ersten Kindheitsjahren, die allgemein verbreitete
körperliche Hinfälligkeit und geringere Leistungsfähigkeit der
übrigen Lebensalter, namentlich im Vertragenkönnen von Stra-
pazen aller Art; das vorzeitige Altern, die Abnahme der Er-
reichung sehr hoher Altersstufen. Durchforscht man tiefer das
Innere des Menschenlebens, so findet man in ungeahnter Häufig-
keit gleiche, dem Blicke der Welt mehr verschlossene Beweise:
körperlich begründete Lebensstumpfheit, Unzufriedenheit, Hypo-
chondrie, Hysterie mehr oder weniger in allen Ständen und Ver-
hältnissen. Hierzu nur ein Beleg. Tausende gibt es, die in der
Tiefe der Brust mit der Furie des Selbstmordgedankens ringen,
welche Furie, obschon ihr nur die Wenigsten als unmittelbare
Opfer fallen, doch einen grossen Theil des Lebens im Stillen
vergiftet. Wir rechnen hierher nicht die durch äusseres Unglück
hervorgerufenen Fälle, sondern nur die aus körperlichen Zu-
ständen entspringenden und sehr oft in der Blüthe des Lebens
und unter den glücklichsten äusseren Verhältnissen vorkommen-
den. Der Welt bleibt dies entzogen, nur dem Arzte wird der
volle Blick in diese finsteren Seiten des Lebens geöffnet.
Sollten diese Andeutungen noch nicht genügen zur Bewahr-
heitung obigen Ausspruches, so würden die Hospitäler und
Irrenanstalten mit ihren steigenden Procentverhältnissen jeden
etwaigen Zweifel beseitigen können. Doch hier bedarf es nur
des Hinweises.

Sodann in moralischer Hinsicht. Auch hier begegnen
wir überall Schwächezuständen, die mit den verwandten kör-
perlichen Zuständen im innigsten Zusammenhange stehen und
sich gegenseitig und wechselsweise bedingen. Anstatt hoch-
herziger Gesinnungen, fester edler Bestrebungen, untrübsamer

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gekommenheit. Nicht nur, dass im Allgemeinen die Häufig-
keit der tausenderlei Kränkeleien und ausgebildeten Krankheiten
und Gebrechen in relativer Zunahme begriffen ist, auch der
ganze Bildungstypus der letzten Generationen zeigt unver-
kennbar ein allmäliges Sinken. Den schnellsten bestätigenden
Ueberblick geben die Militäraushebungen, das Herabgehen des
Militärmaasses, die relativ immer häufiger werdenden Untüch-
tigkeitsfälle; sodann das hohe Sterblichkeitsverhältniss beson-
ders in den ersten Kindheitsjahren, die allgemein verbreitete
körperliche Hinfälligkeit und geringere Leistungsfähigkeit der
übrigen Lebensalter, namentlich im Vertragenkönnen von Stra-
pazen aller Art; das vorzeitige Altern, die Abnahme der Er-
reichung sehr hoher Altersstufen. Durchforscht man tiefer das
Innere des Menschenlebens, so findet man in ungeahnter Häufig-
keit gleiche, dem Blicke der Welt mehr verschlossene Beweise:
körperlich begründete Lebensstumpfheit, Unzufriedenheit, Hypo-
chondrie, Hysterie mehr oder weniger in allen Ständen und Ver-
hältnissen. Hierzu nur ein Beleg. Tausende gibt es, die in der
Tiefe der Brust mit der Furie des Selbstmordgedankens ringen,
welche Furie, obschon ihr nur die Wenigsten als unmittelbare
Opfer fallen, doch einen grossen Theil des Lebens im Stillen
vergiftet. Wir rechnen hierher nicht die durch äusseres Unglück
hervorgerufenen Fälle, sondern nur die aus körperlichen Zu-
ständen entspringenden und sehr oft in der Blüthe des Lebens
und unter den glücklichsten äusseren Verhältnissen vorkommen-
den. Der Welt bleibt dies entzogen, nur dem Arzte wird der
volle Blick in diese finsteren Seiten des Lebens geöffnet.
Sollten diese Andeutungen noch nicht genügen zur Bewahr-
heitung obigen Ausspruches, so würden die Hospitäler und
Irrenanstalten mit ihren steigenden Procentverhältnissen jeden
etwaigen Zweifel beseitigen können. Doch hier bedarf es nur
des Hinweises.

Sodann in moralischer Hinsicht. Auch hier begegnen
wir überall Schwächezuständen, die mit den verwandten kör-
perlichen Zuständen im innigsten Zusammenhange stehen und
sich gegenseitig und wechselsweise bedingen. Anstatt hoch-
herziger Gesinnungen, fester edler Bestrebungen, untrübsamer

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[19/0023] EINLEITUNG. gekommenheit. Nicht nur, dass im Allgemeinen die Häufig- keit der tausenderlei Kränkeleien und ausgebildeten Krankheiten und Gebrechen in relativer Zunahme begriffen ist, auch der ganze Bildungstypus der letzten Generationen zeigt unver- kennbar ein allmäliges Sinken. Den schnellsten bestätigenden Ueberblick geben die Militäraushebungen, das Herabgehen des Militärmaasses, die relativ immer häufiger werdenden Untüch- tigkeitsfälle; sodann das hohe Sterblichkeitsverhältniss beson- ders in den ersten Kindheitsjahren, die allgemein verbreitete körperliche Hinfälligkeit und geringere Leistungsfähigkeit der übrigen Lebensalter, namentlich im Vertragenkönnen von Stra- pazen aller Art; das vorzeitige Altern, die Abnahme der Er- reichung sehr hoher Altersstufen. Durchforscht man tiefer das Innere des Menschenlebens, so findet man in ungeahnter Häufig- keit gleiche, dem Blicke der Welt mehr verschlossene Beweise: körperlich begründete Lebensstumpfheit, Unzufriedenheit, Hypo- chondrie, Hysterie mehr oder weniger in allen Ständen und Ver- hältnissen. Hierzu nur ein Beleg. Tausende gibt es, die in der Tiefe der Brust mit der Furie des Selbstmordgedankens ringen, welche Furie, obschon ihr nur die Wenigsten als unmittelbare Opfer fallen, doch einen grossen Theil des Lebens im Stillen vergiftet. Wir rechnen hierher nicht die durch äusseres Unglück hervorgerufenen Fälle, sondern nur die aus körperlichen Zu- ständen entspringenden und sehr oft in der Blüthe des Lebens und unter den glücklichsten äusseren Verhältnissen vorkommen- den. Der Welt bleibt dies entzogen, nur dem Arzte wird der volle Blick in diese finsteren Seiten des Lebens geöffnet. Sollten diese Andeutungen noch nicht genügen zur Bewahr- heitung obigen Ausspruches, so würden die Hospitäler und Irrenanstalten mit ihren steigenden Procentverhältnissen jeden etwaigen Zweifel beseitigen können. Doch hier bedarf es nur des Hinweises. Sodann in moralischer Hinsicht. Auch hier begegnen wir überall Schwächezuständen, die mit den verwandten kör- perlichen Zuständen im innigsten Zusammenhange stehen und sich gegenseitig und wechselsweise bedingen. Anstatt hoch- herziger Gesinnungen, fester edler Bestrebungen, untrübsamer 2*

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Zitationshilfe: Schreber, Daniel Gottlob Moritz: Kallipädie oder Erziehung zur Schönheit. Leipzig, 1858, S. 19. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schreber_kallipaedie_1858/23>, abgerufen am 09.11.2024.