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Schreber, Daniel Gottlob Moritz: Kallipädie oder Erziehung zur Schönheit. Leipzig, 1858.

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8. -- 16. JAHR. GEISTIGE SEITE. DAS KIND MIT SEINEN ÄLTERN.
recht fühlbare Unterstützung leisten. Es ist sehr rathsam, ih-
ren Beistand recht fleissig anzusprechen, weil so die Willens-
acte des Kindes zu selbstbewussten, selbstgeschaffenen werden,
und der moralischen Selbstständigkeit und Freiheit ganz ent-
sprechend vorgearbeitet wird. In manchen Fällen werden sich
auch zartere Gefühle, Liebe, Dankbarkeit, Mitleid, das religiöse
Bewusstsein zur Mitwirkung eignen. Kurz, man muss je nach
den vorliegenden Verhältnissen alle diejenigen Segel spannen,
welche dem Ziele gerade am entsprechendsten sind.

Dadurch gelangt man bald dahin, dass das Kind
selbst an diesen kleinen Siegen seiner Willenskraft
eine innige Freude empfindet
. Damit ist sehr Viel ge-
wonnen. Am besten und schnellsten wird dies erreicht, wenn
sich mit solchen Willensübungen praktische Zwecke verbinden
lassen, z. B. Ueberwindungen und Entbehrungen zu Gunsten
anderer im Leben tiefer gestellter oder hilfsbedürftiger Men-
schen, -- wie denn überhaupt die Wohlthätigkeit nicht durch
Mittheilung vom Ueberflusse, sondern erst durch damit ver-
bundene eigene Beschränkung oder Versagung den vollen mo-
ralischen Werth erhält.

Ein Fall möge dies veranschaulichen.

In einer Familie ging einst der allseitige Wunsch auf
eine gemeinschaftliche Fahrt nach einer Lustpartie. Es stand
nichts im Wege. Die Kinder waren in freudigster Erwartung.
Gleichzeitig wurden durch Aufrufe in öffentlichen Blättern
milde Beisteuern gesammelt für mehrere Ortschaften, die
durch Ueberschwemmungen verwüstet waren, und deren Be-
wohner zu Hunderten im Elende schmachteten. Der Vater
sagte zu den Kindern: "wir haben zwar schon unser Scherf-
lein für die Unglücklichen beigetragen; was meint ihr aber,
Kinder, wenn wir die von euch gewünschte heutige Partie in
einen einfachen Spaziergang verwandelten und das dadurch Er-
sparte auch noch den Unglücklichen zufliessen liessen?" Es ge-
schah. Auf dem Spaziergange erfreute man sich unter Anderem
oftmals in dem Gedanken, dass durch diesen Entschluss zuver-
sichtlich ein paar Kummerthränen mehr gestillt werden wür-
den, und die Kinder kehrten inniger befriedigt und in fröhli-


8. — 16. JAHR. GEISTIGE SEITE. DAS KIND MIT SEINEN ÄLTERN.
recht fühlbare Unterstützung leisten. Es ist sehr rathsam, ih-
ren Beistand recht fleissig anzusprechen, weil so die Willens-
acte des Kindes zu selbstbewussten, selbstgeschaffenen werden,
und der moralischen Selbstständigkeit und Freiheit ganz ent-
sprechend vorgearbeitet wird. In manchen Fällen werden sich
auch zartere Gefühle, Liebe, Dankbarkeit, Mitleid, das religiöse
Bewusstsein zur Mitwirkung eignen. Kurz, man muss je nach
den vorliegenden Verhältnissen alle diejenigen Segel spannen,
welche dem Ziele gerade am entsprechendsten sind.

Dadurch gelangt man bald dahin, dass das Kind
selbst an diesen kleinen Siegen seiner Willenskraft
eine innige Freude empfindet
. Damit ist sehr Viel ge-
wonnen. Am besten und schnellsten wird dies erreicht, wenn
sich mit solchen Willensübungen praktische Zwecke verbinden
lassen, z. B. Ueberwindungen und Entbehrungen zu Gunsten
anderer im Leben tiefer gestellter oder hilfsbedürftiger Men-
schen, — wie denn überhaupt die Wohlthätigkeit nicht durch
Mittheilung vom Ueberflusse, sondern erst durch damit ver-
bundene eigene Beschränkung oder Versagung den vollen mo-
ralischen Werth erhält.

Ein Fall möge dies veranschaulichen.

In einer Familie ging einst der allseitige Wunsch auf
eine gemeinschaftliche Fahrt nach einer Lustpartie. Es stand
nichts im Wege. Die Kinder waren in freudigster Erwartung.
Gleichzeitig wurden durch Aufrufe in öffentlichen Blättern
milde Beisteuern gesammelt für mehrere Ortschaften, die
durch Ueberschwemmungen verwüstet waren, und deren Be-
wohner zu Hunderten im Elende schmachteten. Der Vater
sagte zu den Kindern: „wir haben zwar schon unser Scherf-
lein für die Unglücklichen beigetragen; was meint ihr aber,
Kinder, wenn wir die von euch gewünschte heutige Partie in
einen einfachen Spaziergang verwandelten und das dadurch Er-
sparte auch noch den Unglücklichen zufliessen liessen?“ Es ge-
schah. Auf dem Spaziergange erfreute man sich unter Anderem
oftmals in dem Gedanken, dass durch diesen Entschluss zuver-
sichtlich ein paar Kummerthränen mehr gestillt werden wür-
den, und die Kinder kehrten inniger befriedigt und in fröhli-

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[237/0241] 8. — 16. JAHR. GEISTIGE SEITE. DAS KIND MIT SEINEN ÄLTERN. recht fühlbare Unterstützung leisten. Es ist sehr rathsam, ih- ren Beistand recht fleissig anzusprechen, weil so die Willens- acte des Kindes zu selbstbewussten, selbstgeschaffenen werden, und der moralischen Selbstständigkeit und Freiheit ganz ent- sprechend vorgearbeitet wird. In manchen Fällen werden sich auch zartere Gefühle, Liebe, Dankbarkeit, Mitleid, das religiöse Bewusstsein zur Mitwirkung eignen. Kurz, man muss je nach den vorliegenden Verhältnissen alle diejenigen Segel spannen, welche dem Ziele gerade am entsprechendsten sind. Dadurch gelangt man bald dahin, dass das Kind selbst an diesen kleinen Siegen seiner Willenskraft eine innige Freude empfindet. Damit ist sehr Viel ge- wonnen. Am besten und schnellsten wird dies erreicht, wenn sich mit solchen Willensübungen praktische Zwecke verbinden lassen, z. B. Ueberwindungen und Entbehrungen zu Gunsten anderer im Leben tiefer gestellter oder hilfsbedürftiger Men- schen, — wie denn überhaupt die Wohlthätigkeit nicht durch Mittheilung vom Ueberflusse, sondern erst durch damit ver- bundene eigene Beschränkung oder Versagung den vollen mo- ralischen Werth erhält. Ein Fall möge dies veranschaulichen. In einer Familie ging einst der allseitige Wunsch auf eine gemeinschaftliche Fahrt nach einer Lustpartie. Es stand nichts im Wege. Die Kinder waren in freudigster Erwartung. Gleichzeitig wurden durch Aufrufe in öffentlichen Blättern milde Beisteuern gesammelt für mehrere Ortschaften, die durch Ueberschwemmungen verwüstet waren, und deren Be- wohner zu Hunderten im Elende schmachteten. Der Vater sagte zu den Kindern: „wir haben zwar schon unser Scherf- lein für die Unglücklichen beigetragen; was meint ihr aber, Kinder, wenn wir die von euch gewünschte heutige Partie in einen einfachen Spaziergang verwandelten und das dadurch Er- sparte auch noch den Unglücklichen zufliessen liessen?“ Es ge- schah. Auf dem Spaziergange erfreute man sich unter Anderem oftmals in dem Gedanken, dass durch diesen Entschluss zuver- sichtlich ein paar Kummerthränen mehr gestillt werden wür- den, und die Kinder kehrten inniger befriedigt und in fröhli-

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Zitationshilfe: Schreber, Daniel Gottlob Moritz: Kallipädie oder Erziehung zur Schönheit. Leipzig, 1858, S. 237. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schreber_kallipaedie_1858/241>, abgerufen am 21.11.2024.