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Schreber, Daniel Gottlob Moritz: Kallipädie oder Erziehung zur Schönheit. Leipzig, 1858.

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8. -- 16. JAHR. GEISTIGE SEITE. DAS KIND MIT SEINEN ÄLTERN.
aller Nahrung, schnelle Ablenkung und heiter belebenden Zu-
spruch nach und nach umgewandelt werden muss. Noch ge-
fährlicher ist der, glücklicher Weise seltenere, stille, verbis-
sene Aerger oder Kummer
über Dinge, die weder abzu-
ändern noch zu vermeiden in des Kindes Macht steht, wel-
chen es aber auch, aus Gefühl des Unrechtes oder aus Furcht
ausgelacht zu werden, nicht auszusprechen wagt. An einer
Veränderung des ganzen kindlichen Wesens gibt sich das Vor-
handensein eines solchen Knotenpunktes, den das Kind aus
eigener Kraft nicht mehr zu lösen vermag, bald zu erkennen.
Es gilt hier die Verschlossenheit durch herzliche Zusprache
unter vier Augen zu öffnen und den faulen Fleck, der sonst
unaufhaltsam weiter frisst und festwurzelt, mittels fleissiger
Nachhilfe gründlich auszuheilen. Wichtig ist es, dass auch
keine Spur davon in der Tiefe zurückbleibe, denn alle, auch
die schlummernden, Keime des Seelenunkrautes werden, wenn
nicht früher, doch im späteren Leben leicht einmal gefährlich,
wenn sie von irgend einer Seite her neue Nahrung zum Wie-
deraufwuchern erhalten. Die Irrenanstalten würden zahlreiche
Belege dazu liefern, wenn man die einzelnen Leidensgeschich-
ten der Unglücklichen bis auf ihre letzten Wurzelfasern herab
verfolgen könnte.

Ein ganz anderes erzieherisches Verhalten verlangt die
Leidenschaftlichkeit in entgegengesetzten Richtungen: in der
Richtung nach unschuldiger Freudigkeit und nach edlen
Zielen
. Eine gewisse Leidenschaftlichkeit in edlen Bestre-
bungen ist der Entwickelungskeim der vollen thatkräftigen
Begeisterungen des reiferen Alters, ohne welche hochher-
zige Gesinnungen, Grossthaten, menschliche Meisterwerke nicht
in's Leben treten würden. Doch bedarf es scharfer Wachsam-
keit, damit eine solche Leidenschaftlichkeit nicht etwa durch
das Umschlagen in hohle Eitelkeit entwürdigt werde, was
ausserdem im kindlichen Alter sehr leicht geschieht.

Nur der niederdrückenden oder unedlen Leidenschaftlich-
keit sollen wir sofort den Lebenskeim abschneiden, um der
natürlichen Entwickelung der edlen Geisteskräfte desto freieren
Spielraum zu lassen, die, wie alle Lebenskräfte, angemessene

8. — 16. JAHR. GEISTIGE SEITE. DAS KIND MIT SEINEN ÄLTERN.
aller Nahrung, schnelle Ablenkung und heiter belebenden Zu-
spruch nach und nach umgewandelt werden muss. Noch ge-
fährlicher ist der, glücklicher Weise seltenere, stille, verbis-
sene Aerger oder Kummer
über Dinge, die weder abzu-
ändern noch zu vermeiden in des Kindes Macht steht, wel-
chen es aber auch, aus Gefühl des Unrechtes oder aus Furcht
ausgelacht zu werden, nicht auszusprechen wagt. An einer
Veränderung des ganzen kindlichen Wesens gibt sich das Vor-
handensein eines solchen Knotenpunktes, den das Kind aus
eigener Kraft nicht mehr zu lösen vermag, bald zu erkennen.
Es gilt hier die Verschlossenheit durch herzliche Zusprache
unter vier Augen zu öffnen und den faulen Fleck, der sonst
unaufhaltsam weiter frisst und festwurzelt, mittels fleissiger
Nachhilfe gründlich auszuheilen. Wichtig ist es, dass auch
keine Spur davon in der Tiefe zurückbleibe, denn alle, auch
die schlummernden, Keime des Seelenunkrautes werden, wenn
nicht früher, doch im späteren Leben leicht einmal gefährlich,
wenn sie von irgend einer Seite her neue Nahrung zum Wie-
deraufwuchern erhalten. Die Irrenanstalten würden zahlreiche
Belege dazu liefern, wenn man die einzelnen Leidensgeschich-
ten der Unglücklichen bis auf ihre letzten Wurzelfasern herab
verfolgen könnte.

Ein ganz anderes erzieherisches Verhalten verlangt die
Leidenschaftlichkeit in entgegengesetzten Richtungen: in der
Richtung nach unschuldiger Freudigkeit und nach edlen
Zielen
. Eine gewisse Leidenschaftlichkeit in edlen Bestre-
bungen ist der Entwickelungskeim der vollen thatkräftigen
Begeisterungen des reiferen Alters, ohne welche hochher-
zige Gesinnungen, Grossthaten, menschliche Meisterwerke nicht
in's Leben treten würden. Doch bedarf es scharfer Wachsam-
keit, damit eine solche Leidenschaftlichkeit nicht etwa durch
das Umschlagen in hohle Eitelkeit entwürdigt werde, was
ausserdem im kindlichen Alter sehr leicht geschieht.

Nur der niederdrückenden oder unedlen Leidenschaftlich-
keit sollen wir sofort den Lebenskeim abschneiden, um der
natürlichen Entwickelung der edlen Geisteskräfte desto freieren
Spielraum zu lassen, die, wie alle Lebenskräfte, angemessene

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[242/0246] 8. — 16. JAHR. GEISTIGE SEITE. DAS KIND MIT SEINEN ÄLTERN. aller Nahrung, schnelle Ablenkung und heiter belebenden Zu- spruch nach und nach umgewandelt werden muss. Noch ge- fährlicher ist der, glücklicher Weise seltenere, stille, verbis- sene Aerger oder Kummer über Dinge, die weder abzu- ändern noch zu vermeiden in des Kindes Macht steht, wel- chen es aber auch, aus Gefühl des Unrechtes oder aus Furcht ausgelacht zu werden, nicht auszusprechen wagt. An einer Veränderung des ganzen kindlichen Wesens gibt sich das Vor- handensein eines solchen Knotenpunktes, den das Kind aus eigener Kraft nicht mehr zu lösen vermag, bald zu erkennen. Es gilt hier die Verschlossenheit durch herzliche Zusprache unter vier Augen zu öffnen und den faulen Fleck, der sonst unaufhaltsam weiter frisst und festwurzelt, mittels fleissiger Nachhilfe gründlich auszuheilen. Wichtig ist es, dass auch keine Spur davon in der Tiefe zurückbleibe, denn alle, auch die schlummernden, Keime des Seelenunkrautes werden, wenn nicht früher, doch im späteren Leben leicht einmal gefährlich, wenn sie von irgend einer Seite her neue Nahrung zum Wie- deraufwuchern erhalten. Die Irrenanstalten würden zahlreiche Belege dazu liefern, wenn man die einzelnen Leidensgeschich- ten der Unglücklichen bis auf ihre letzten Wurzelfasern herab verfolgen könnte. Ein ganz anderes erzieherisches Verhalten verlangt die Leidenschaftlichkeit in entgegengesetzten Richtungen: in der Richtung nach unschuldiger Freudigkeit und nach edlen Zielen. Eine gewisse Leidenschaftlichkeit in edlen Bestre- bungen ist der Entwickelungskeim der vollen thatkräftigen Begeisterungen des reiferen Alters, ohne welche hochher- zige Gesinnungen, Grossthaten, menschliche Meisterwerke nicht in's Leben treten würden. Doch bedarf es scharfer Wachsam- keit, damit eine solche Leidenschaftlichkeit nicht etwa durch das Umschlagen in hohle Eitelkeit entwürdigt werde, was ausserdem im kindlichen Alter sehr leicht geschieht. Nur der niederdrückenden oder unedlen Leidenschaftlich- keit sollen wir sofort den Lebenskeim abschneiden, um der natürlichen Entwickelung der edlen Geisteskräfte desto freieren Spielraum zu lassen, die, wie alle Lebenskräfte, angemessene

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Zitationshilfe: Schreber, Daniel Gottlob Moritz: Kallipädie oder Erziehung zur Schönheit. Leipzig, 1858, S. 242. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schreber_kallipaedie_1858/246>, abgerufen am 21.11.2024.