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Schreber, Daniel Gottlob Moritz: Kallipädie oder Erziehung zur Schönheit. Leipzig, 1858.

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17. -- 20. JAHR. ÜBERGANG ZUR SELBSTÄNDIGKEIT. KÖRPERLICHE SEITE.
einzelne Mensch kann nach und nach mit allen Klimaten sich
befreunden. Ein anderes weniger beachtetes Beispiel bieten
verschiedene chronische Krankheitszustände, wie Krampfkrank-
heiten u. s. w., die durch die allmälige Gewöhnung an sie die
wenigstens sofort tödtliche Wirkung verlieren, welche sie ha-
ben würden, wenn sie in ihrem nach und nach gesteigerten
Grade der Heftigkeit plötzlich einen vorher gesunden Men-
schen befielen, während der daran gewöhnte Kranke nicht nur
fortlebt, sondern oft lange Zeit ohne sehr auffällige Störung
des Allgemeinbefindens sie erträgt.

Kurz, die Macht der allmäligen Gewöhnung ist als ein
Gesetz der menschlichen Natur zu betrachten, welches bei
richtiger Beachtung und Benutzung für viele Gesundheitszwecke
in hohem Grade zu Statten kommt. Wir müssen also haupt-
sächlich darauf fussen, wenn wir der körperlichen Gesundheit
den individuell höchstmöglichen Grad von Vollkommenheit
und Widerstandsfähigkeit verschaffen wollen.

Diejenigen Gewöhnungen nun, welche wir hier im Sinne
haben, gehen hervor aus stufenweise gesteigerten Uebungen
solcher Thätigkeiten und Kräfte, die eben zur Befestigung der
Gesundheit und zur Erhöhung ihrer Widerstandsfähigkeit ge-
gen störende Einflüsse aller Art dienen. Jede Kraft wächst
durch Uebung, durch eine in ihrer Intensität und Dauer all-
mälig gesteigerte Wiederholung des Kraftgebrauches. Da-
durch, dass eine organische Kraft allmälig öfter, stärker und
länger erregt wird, quillt sie von innen her immer stärker
nach, erfrischt, verjüngt, vermehrt sie sich, wie das Wasser
des fleissig geschöpften Brunnenquelles. Doch ist dies wohl-
verstanden nur unter der Bedingung und insoweit der Fall,
als der Kraftgebrauch mit den Pausen der Erholung und Ruhe
(der Ausgleichung durch die innere Ernährung der Organe,
den Stoffwechsel) im Gleichgewichte bleibt. Die kraftstei-
gernde
Wirkung jeder Uebung hat nämlich ihren Grenzpunkt,
der durch fortgesetzte Uebung allmälig zwar weiter hinausrückt,
aber immer individuell verschieden ist, und den wir als Sätti-
gungspunkt uns denken können. Ueber diesen Sättigungs-
punkt hinaus fortgesetzter Kraftgebrauch hat die entgegenge-

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17. — 20. JAHR. ÜBERGANG ZUR SELBSTÄNDIGKEIT. KÖRPERLICHE SEITE.
einzelne Mensch kann nach und nach mit allen Klimaten sich
befreunden. Ein anderes weniger beachtetes Beispiel bieten
verschiedene chronische Krankheitszustände, wie Krampfkrank-
heiten u. s. w., die durch die allmälige Gewöhnung an sie die
wenigstens sofort tödtliche Wirkung verlieren, welche sie ha-
ben würden, wenn sie in ihrem nach und nach gesteigerten
Grade der Heftigkeit plötzlich einen vorher gesunden Men-
schen befielen, während der daran gewöhnte Kranke nicht nur
fortlebt, sondern oft lange Zeit ohne sehr auffällige Störung
des Allgemeinbefindens sie erträgt.

Kurz, die Macht der allmäligen Gewöhnung ist als ein
Gesetz der menschlichen Natur zu betrachten, welches bei
richtiger Beachtung und Benutzung für viele Gesundheitszwecke
in hohem Grade zu Statten kommt. Wir müssen also haupt-
sächlich darauf fussen, wenn wir der körperlichen Gesundheit
den individuell höchstmöglichen Grad von Vollkommenheit
und Widerstandsfähigkeit verschaffen wollen.

Diejenigen Gewöhnungen nun, welche wir hier im Sinne
haben, gehen hervor aus stufenweise gesteigerten Uebungen
solcher Thätigkeiten und Kräfte, die eben zur Befestigung der
Gesundheit und zur Erhöhung ihrer Widerstandsfähigkeit ge-
gen störende Einflüsse aller Art dienen. Jede Kraft wächst
durch Uebung, durch eine in ihrer Intensität und Dauer all-
mälig gesteigerte Wiederholung des Kraftgebrauches. Da-
durch, dass eine organische Kraft allmälig öfter, stärker und
länger erregt wird, quillt sie von innen her immer stärker
nach, erfrischt, verjüngt, vermehrt sie sich, wie das Wasser
des fleissig geschöpften Brunnenquelles. Doch ist dies wohl-
verstanden nur unter der Bedingung und insoweit der Fall,
als der Kraftgebrauch mit den Pausen der Erholung und Ruhe
(der Ausgleichung durch die innere Ernährung der Organe,
den Stoffwechsel) im Gleichgewichte bleibt. Die kraftstei-
gernde
Wirkung jeder Uebung hat nämlich ihren Grenzpunkt,
der durch fortgesetzte Uebung allmälig zwar weiter hinausrückt,
aber immer individuell verschieden ist, und den wir als Sätti-
gungspunkt uns denken können. Ueber diesen Sättigungs-
punkt hinaus fortgesetzter Kraftgebrauch hat die entgegenge-

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[275/0279] 17. — 20. JAHR. ÜBERGANG ZUR SELBSTÄNDIGKEIT. KÖRPERLICHE SEITE. einzelne Mensch kann nach und nach mit allen Klimaten sich befreunden. Ein anderes weniger beachtetes Beispiel bieten verschiedene chronische Krankheitszustände, wie Krampfkrank- heiten u. s. w., die durch die allmälige Gewöhnung an sie die wenigstens sofort tödtliche Wirkung verlieren, welche sie ha- ben würden, wenn sie in ihrem nach und nach gesteigerten Grade der Heftigkeit plötzlich einen vorher gesunden Men- schen befielen, während der daran gewöhnte Kranke nicht nur fortlebt, sondern oft lange Zeit ohne sehr auffällige Störung des Allgemeinbefindens sie erträgt. Kurz, die Macht der allmäligen Gewöhnung ist als ein Gesetz der menschlichen Natur zu betrachten, welches bei richtiger Beachtung und Benutzung für viele Gesundheitszwecke in hohem Grade zu Statten kommt. Wir müssen also haupt- sächlich darauf fussen, wenn wir der körperlichen Gesundheit den individuell höchstmöglichen Grad von Vollkommenheit und Widerstandsfähigkeit verschaffen wollen. Diejenigen Gewöhnungen nun, welche wir hier im Sinne haben, gehen hervor aus stufenweise gesteigerten Uebungen solcher Thätigkeiten und Kräfte, die eben zur Befestigung der Gesundheit und zur Erhöhung ihrer Widerstandsfähigkeit ge- gen störende Einflüsse aller Art dienen. Jede Kraft wächst durch Uebung, durch eine in ihrer Intensität und Dauer all- mälig gesteigerte Wiederholung des Kraftgebrauches. Da- durch, dass eine organische Kraft allmälig öfter, stärker und länger erregt wird, quillt sie von innen her immer stärker nach, erfrischt, verjüngt, vermehrt sie sich, wie das Wasser des fleissig geschöpften Brunnenquelles. Doch ist dies wohl- verstanden nur unter der Bedingung und insoweit der Fall, als der Kraftgebrauch mit den Pausen der Erholung und Ruhe (der Ausgleichung durch die innere Ernährung der Organe, den Stoffwechsel) im Gleichgewichte bleibt. Die kraftstei- gernde Wirkung jeder Uebung hat nämlich ihren Grenzpunkt, der durch fortgesetzte Uebung allmälig zwar weiter hinausrückt, aber immer individuell verschieden ist, und den wir als Sätti- gungspunkt uns denken können. Ueber diesen Sättigungs- punkt hinaus fortgesetzter Kraftgebrauch hat die entgegenge- 18*

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Zitationshilfe: Schreber, Daniel Gottlob Moritz: Kallipädie oder Erziehung zur Schönheit. Leipzig, 1858, S. 275. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schreber_kallipaedie_1858/279>, abgerufen am 21.11.2024.