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Schreber, Daniel Gottlob Moritz: Kallipädie oder Erziehung zur Schönheit. Leipzig, 1858.

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17. -- 20. JAHR. ÜBERGANG ZUR SELBSTÄNDIGKEIT. GEISTIGE SEITE.
Kunstgenüssen oder ein zu ausschliessliches, für die übrige
Welt todtes Berufsleben in irgend einer Kunstsphäre erschöpft
endlich das Nervensystem, erzeugt krankhafte Reizbarkeit, Hy-
pochondrie, Hysterie, Phantasterei, raubt den körperlichen und
geistigen Halt.*)

Die allgemein erfassbarste Kunst-Sphäre ist die Musik
(mit Einschluss des Gesanges). Als Mittel allgemein mensch-
licher Bildung gebührt ihr auch der erste Rang unter ihren
Schwestern, da sie, das Reich der Töne beherrschend, eben
vermöge dessen in der directesten geistigen Verwandtschaft
zum menschlichen Gemüthe steht, und daher ihre Schönheiten,
auch ohne eine besondere Vorbildung zu verlangen, zauber-
ähnlich eindringen. Sie eignet sich daher auch am besten zur
Dilettanten-Ausbildung. Mag diese auch noch so unbedeutend
sein, immer wird sie doch die darauf verwendete Mühe durch
ihre das Gemüth erfrischende und erhebende Wirkung reich-
lich lohnen, und sei es auch nur durch edle Ausfüllung müs-
siger Stunden, durch Verdrängung geisttödtender Spiele und
solcher Unterhaltungen, die zu der in neuerer Zeit häufigen,
bitter zu beklagenden Blasirtheit, jener abgelebten Stumpfheit
der Jugend, führen helfen. Es wäre sehr zu wünschen, dass
noch viel mehr und allseitiger als bis jetzt geschieht, ganz be-
sonders auf Verallgemeinerung des harmonischen Gesanges un-
ter der Jugend hingewirkt würde.

Jüngling und Jungfrau bedürfen eigener Erfahrung, um
zur vollen Reife für's Leben zu gelangen. Beide nach Um-
fang und Art in verschiedener Weise. Die eigene Erfahrung
ist bekanntlich die eindringlichste Lehrmeisterin. Die theore-
tische Lebenskunst wird erst durch die Praxis berichtigt, be-
festigt und abgerundet. Die Gelegenheit muss also jedem jun-
gen Menschen in seiner Sphäre geboten werden, selbst wenn
zuweilen ein kleines Risiko damit verbunden wäre. Ab und
zu ein selbständiges Auftreten im Leben unter verschiedenen

*) Für Künstler von Beruf ist daher umgekehrt regelmässige Abwech-
selung mit irgend einer prosaischen Thätigkeit die heilsamste Erholung, ein
Lebensbedürfniss.

17. — 20. JAHR. ÜBERGANG ZUR SELBSTÄNDIGKEIT. GEISTIGE SEITE.
Kunstgenüssen oder ein zu ausschliessliches, für die übrige
Welt todtes Berufsleben in irgend einer Kunstsphäre erschöpft
endlich das Nervensystem, erzeugt krankhafte Reizbarkeit, Hy-
pochondrie, Hysterie, Phantasterei, raubt den körperlichen und
geistigen Halt.*)

Die allgemein erfassbarste Kunst-Sphäre ist die Musik
(mit Einschluss des Gesanges). Als Mittel allgemein mensch-
licher Bildung gebührt ihr auch der erste Rang unter ihren
Schwestern, da sie, das Reich der Töne beherrschend, eben
vermöge dessen in der directesten geistigen Verwandtschaft
zum menschlichen Gemüthe steht, und daher ihre Schönheiten,
auch ohne eine besondere Vorbildung zu verlangen, zauber-
ähnlich eindringen. Sie eignet sich daher auch am besten zur
Dilettanten-Ausbildung. Mag diese auch noch so unbedeutend
sein, immer wird sie doch die darauf verwendete Mühe durch
ihre das Gemüth erfrischende und erhebende Wirkung reich-
lich lohnen, und sei es auch nur durch edle Ausfüllung müs-
siger Stunden, durch Verdrängung geisttödtender Spiele und
solcher Unterhaltungen, die zu der in neuerer Zeit häufigen,
bitter zu beklagenden Blasirtheit, jener abgelebten Stumpfheit
der Jugend, führen helfen. Es wäre sehr zu wünschen, dass
noch viel mehr und allseitiger als bis jetzt geschieht, ganz be-
sonders auf Verallgemeinerung des harmonischen Gesanges un-
ter der Jugend hingewirkt würde.

Jüngling und Jungfrau bedürfen eigener Erfahrung, um
zur vollen Reife für's Leben zu gelangen. Beide nach Um-
fang und Art in verschiedener Weise. Die eigene Erfahrung
ist bekanntlich die eindringlichste Lehrmeisterin. Die theore-
tische Lebenskunst wird erst durch die Praxis berichtigt, be-
festigt und abgerundet. Die Gelegenheit muss also jedem jun-
gen Menschen in seiner Sphäre geboten werden, selbst wenn
zuweilen ein kleines Risiko damit verbunden wäre. Ab und
zu ein selbständiges Auftreten im Leben unter verschiedenen

*) Für Künstler von Beruf ist daher umgekehrt regelmässige Abwech-
selung mit irgend einer prosaischen Thätigkeit die heilsamste Erholung, ein
Lebensbedürfniss.
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[293/0297] 17. — 20. JAHR. ÜBERGANG ZUR SELBSTÄNDIGKEIT. GEISTIGE SEITE. Kunstgenüssen oder ein zu ausschliessliches, für die übrige Welt todtes Berufsleben in irgend einer Kunstsphäre erschöpft endlich das Nervensystem, erzeugt krankhafte Reizbarkeit, Hy- pochondrie, Hysterie, Phantasterei, raubt den körperlichen und geistigen Halt. *) Die allgemein erfassbarste Kunst-Sphäre ist die Musik (mit Einschluss des Gesanges). Als Mittel allgemein mensch- licher Bildung gebührt ihr auch der erste Rang unter ihren Schwestern, da sie, das Reich der Töne beherrschend, eben vermöge dessen in der directesten geistigen Verwandtschaft zum menschlichen Gemüthe steht, und daher ihre Schönheiten, auch ohne eine besondere Vorbildung zu verlangen, zauber- ähnlich eindringen. Sie eignet sich daher auch am besten zur Dilettanten-Ausbildung. Mag diese auch noch so unbedeutend sein, immer wird sie doch die darauf verwendete Mühe durch ihre das Gemüth erfrischende und erhebende Wirkung reich- lich lohnen, und sei es auch nur durch edle Ausfüllung müs- siger Stunden, durch Verdrängung geisttödtender Spiele und solcher Unterhaltungen, die zu der in neuerer Zeit häufigen, bitter zu beklagenden Blasirtheit, jener abgelebten Stumpfheit der Jugend, führen helfen. Es wäre sehr zu wünschen, dass noch viel mehr und allseitiger als bis jetzt geschieht, ganz be- sonders auf Verallgemeinerung des harmonischen Gesanges un- ter der Jugend hingewirkt würde. Jüngling und Jungfrau bedürfen eigener Erfahrung, um zur vollen Reife für's Leben zu gelangen. Beide nach Um- fang und Art in verschiedener Weise. Die eigene Erfahrung ist bekanntlich die eindringlichste Lehrmeisterin. Die theore- tische Lebenskunst wird erst durch die Praxis berichtigt, be- festigt und abgerundet. Die Gelegenheit muss also jedem jun- gen Menschen in seiner Sphäre geboten werden, selbst wenn zuweilen ein kleines Risiko damit verbunden wäre. Ab und zu ein selbständiges Auftreten im Leben unter verschiedenen *) Für Künstler von Beruf ist daher umgekehrt regelmässige Abwech- selung mit irgend einer prosaischen Thätigkeit die heilsamste Erholung, ein Lebensbedürfniss.

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Zitationshilfe: Schreber, Daniel Gottlob Moritz: Kallipädie oder Erziehung zur Schönheit. Leipzig, 1858, S. 293. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schreber_kallipaedie_1858/297>, abgerufen am 24.11.2024.