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Schreber, Daniel Gottlob Moritz: Kallipädie oder Erziehung zur Schönheit. Leipzig, 1858.

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1. JAHR. GEISTIGE SEITE.

Gegen Ende des ersten Lebensjahres ist gemäss der nun-
mehrigen geistigen Entwickelungsstufe des Kindes die Einwir-
kung auf die Grundrichtung des Gemüthes und des Wil-
lens
von besonderer Wichtigkeit.

Das Gemüth, die Stimmung der Empfindungen des
Menschen, bedarf jetzt in seinem ersten Keimzustande nur
leichter erregender Nahrung von aussen, um in die schöne
lebenswarme Richtung einzulaufen und in ihr sich zu befesti-
gen. Munterer, gesprächiger, lachender, singender, spielender
Umgang mit dem Kinde, dafern er nicht in das Uebermaass
einer erschöpfenden oder gar betäubenden Einwirkung über-
geht, sind wahrer Lebensbalsam für dasselbe. Muss der di-
sciplinarische Ernst hin und wieder an das Kind herantreten,
so geschehe dies zwar entschieden, aber möglichst kurz und
sei schnell vergessen. Je richtiger und rechtzeitiger das Letz-
tere geschehen ist, um so mehr werden die ausserdem unver-
meidlichen, oft langstündigen Trübungen des gemüthlichen
Horizontes durch jene inneren Quälgeister der Launen und
Grillen dem Kinde erspart, um so seltener und kürzer die
Lebenssonne durch Gewölk verdüstert. Man lasse also die
heiteren Strahlen derselben in vollem Maasse in das Gemüth
des Kindes einströmen und halte alle vermeidlichen trüben,
finstern oder erschütternden Eindrücke möglichst fern.

wohl thunlich erscheinen, namentlich wegen der bekannten Häufigkeit von
Schwächen aller Art unter den mit der Kinderwartung beauftragten Perso-
nen. Hierzu nur eine kleine Erfahrung aus meinem eignen Familienkreise.
Die Wärterin eines meiner Kinder, eine im Allgemeinen sehr brave Person,
hatte einst, trotz des ausdrücklichen Verbotes, dem Kinde ausser seinen
Mahlzeiten irgend Etwas und wenn es das Unbedeutendste sei, zu verabreichen,
ein Stück von einer Birne, die sie selbst ass, gegeben, wie es sich auch
hier durch das nachherige Benehmen des Kindes entdeckte. Sie wurde ohne
sonstige Ursache sofort aus dem Dienste entlassen, da ich das nöthige Ver-
trauen in ihre unbedingte Gewissenhaftigkeit nunmehr verloren hatte. Dies
wirkte. Eine Nachfolgerin erzählte es der anderen, und ich habe seitdem
nie wieder, weder bei diesem noch bei den späteren Kindern eine solche
Entdeckung gemacht. Der volle Ernst ist die durchgreifendste moralische
Macht, welche auch hinter unseren Augen fortwirkt und das Durchführen
aller mit Ueberwindung verbundenen Erziehungsgrundsätze unglaublich er-
leichtert.
Schreber, Kallipädie. 5
1. JAHR. GEISTIGE SEITE.

Gegen Ende des ersten Lebensjahres ist gemäss der nun-
mehrigen geistigen Entwickelungsstufe des Kindes die Einwir-
kung auf die Grundrichtung des Gemüthes und des Wil-
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von besonderer Wichtigkeit.

Das Gemüth, die Stimmung der Empfindungen des
Menschen, bedarf jetzt in seinem ersten Keimzustande nur
leichter erregender Nahrung von aussen, um in die schöne
lebenswarme Richtung einzulaufen und in ihr sich zu befesti-
gen. Munterer, gesprächiger, lachender, singender, spielender
Umgang mit dem Kinde, dafern er nicht in das Uebermaass
einer erschöpfenden oder gar betäubenden Einwirkung über-
geht, sind wahrer Lebensbalsam für dasselbe. Muss der di-
sciplinarische Ernst hin und wieder an das Kind herantreten,
so geschehe dies zwar entschieden, aber möglichst kurz und
sei schnell vergessen. Je richtiger und rechtzeitiger das Letz-
tere geschehen ist, um so mehr werden die ausserdem unver-
meidlichen, oft langstündigen Trübungen des gemüthlichen
Horizontes durch jene inneren Quälgeister der Launen und
Grillen dem Kinde erspart, um so seltener und kürzer die
Lebenssonne durch Gewölk verdüstert. Man lasse also die
heiteren Strahlen derselben in vollem Maasse in das Gemüth
des Kindes einströmen und halte alle vermeidlichen trüben,
finstern oder erschütternden Eindrücke möglichst fern.

wohl thunlich erscheinen, namentlich wegen der bekannten Häufigkeit von
Schwächen aller Art unter den mit der Kinderwartung beauftragten Perso-
nen. Hierzu nur eine kleine Erfahrung aus meinem eignen Familienkreise.
Die Wärterin eines meiner Kinder, eine im Allgemeinen sehr brave Person,
hatte einst, trotz des ausdrücklichen Verbotes, dem Kinde ausser seinen
Mahlzeiten irgend Etwas und wenn es das Unbedeutendste sei, zu verabreichen,
ein Stück von einer Birne, die sie selbst ass, gegeben, wie es sich auch
hier durch das nachherige Benehmen des Kindes entdeckte. Sie wurde ohne
sonstige Ursache sofort aus dem Dienste entlassen, da ich das nöthige Ver-
trauen in ihre unbedingte Gewissenhaftigkeit nunmehr verloren hatte. Dies
wirkte. Eine Nachfolgerin erzählte es der anderen, und ich habe seitdem
nie wieder, weder bei diesem noch bei den späteren Kindern eine solche
Entdeckung gemacht. Der volle Ernst ist die durchgreifendste moralische
Macht, welche auch hinter unseren Augen fortwirkt und das Durchführen
aller mit Ueberwindung verbundenen Erziehungsgrundsätze unglaublich er-
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[65/0069] 1. JAHR. GEISTIGE SEITE. Gegen Ende des ersten Lebensjahres ist gemäss der nun- mehrigen geistigen Entwickelungsstufe des Kindes die Einwir- kung auf die Grundrichtung des Gemüthes und des Wil- lens von besonderer Wichtigkeit. Das Gemüth, die Stimmung der Empfindungen des Menschen, bedarf jetzt in seinem ersten Keimzustande nur leichter erregender Nahrung von aussen, um in die schöne lebenswarme Richtung einzulaufen und in ihr sich zu befesti- gen. Munterer, gesprächiger, lachender, singender, spielender Umgang mit dem Kinde, dafern er nicht in das Uebermaass einer erschöpfenden oder gar betäubenden Einwirkung über- geht, sind wahrer Lebensbalsam für dasselbe. Muss der di- sciplinarische Ernst hin und wieder an das Kind herantreten, so geschehe dies zwar entschieden, aber möglichst kurz und sei schnell vergessen. Je richtiger und rechtzeitiger das Letz- tere geschehen ist, um so mehr werden die ausserdem unver- meidlichen, oft langstündigen Trübungen des gemüthlichen Horizontes durch jene inneren Quälgeister der Launen und Grillen dem Kinde erspart, um so seltener und kürzer die Lebenssonne durch Gewölk verdüstert. Man lasse also die heiteren Strahlen derselben in vollem Maasse in das Gemüth des Kindes einströmen und halte alle vermeidlichen trüben, finstern oder erschütternden Eindrücke möglichst fern. * * wohl thunlich erscheinen, namentlich wegen der bekannten Häufigkeit von Schwächen aller Art unter den mit der Kinderwartung beauftragten Perso- nen. Hierzu nur eine kleine Erfahrung aus meinem eignen Familienkreise. Die Wärterin eines meiner Kinder, eine im Allgemeinen sehr brave Person, hatte einst, trotz des ausdrücklichen Verbotes, dem Kinde ausser seinen Mahlzeiten irgend Etwas und wenn es das Unbedeutendste sei, zu verabreichen, ein Stück von einer Birne, die sie selbst ass, gegeben, wie es sich auch hier durch das nachherige Benehmen des Kindes entdeckte. Sie wurde ohne sonstige Ursache sofort aus dem Dienste entlassen, da ich das nöthige Ver- trauen in ihre unbedingte Gewissenhaftigkeit nunmehr verloren hatte. Dies wirkte. Eine Nachfolgerin erzählte es der anderen, und ich habe seitdem nie wieder, weder bei diesem noch bei den späteren Kindern eine solche Entdeckung gemacht. Der volle Ernst ist die durchgreifendste moralische Macht, welche auch hinter unseren Augen fortwirkt und das Durchführen aller mit Ueberwindung verbundenen Erziehungsgrundsätze unglaublich er- leichtert. Schreber, Kallipädie. 5

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Zitationshilfe: Schreber, Daniel Gottlob Moritz: Kallipädie oder Erziehung zur Schönheit. Leipzig, 1858, S. 65. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schreber_kallipaedie_1858/69>, abgerufen am 29.11.2024.