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Schreber, Daniel Gottlob Moritz: Kallipädie oder Erziehung zur Schönheit. Leipzig, 1858.

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1. JAHR. GEISTIGE SEITE.

Jede Krankheit ist nun allerdings als Ausnahmezustand
zu betrachten und wird, gleichwie die allgemeine Lebensweise,
so auch die disciplinarische Ordnung unvermeidlicher Weise
mehr oder weniger modifiziren. Dennoch kann man die durch
die Krankheit und die damit verbundenen Umstände noth-
wendig gemachten Abweichungen in den meisten Fällen auf
ein Minimum reduciren, ohne nach irgend einer Seite hin eine
Rücksicht zu verletzen. Man werfe daher ja nicht nun mit
einem Male die ganze bisherige Ordnung bei Seite, sondern
man behalte auch jetzt noch stets die wesentlichsten discipli-
narischen Grundsätze im Auge, um sie, soweit als nur irgend
den Verhältnissen angemessen, in Geltung zu erhalten. Nur
die Art und Weise ihrer Geltendmachung muss eine viel be-
hutsamere und mildere sein. Einem falschen Benehmen oder
unpassenden, vielleicht schon wegen der Krankheit unstatt-
haften Begehren des Kindes z. B. trete man nicht mit dersel-
ben Entschiedenheit, wie in den Tagen der Gesundheit, ent-
gegen, sondern mehr durch eine sanft beschwichtigende,
die Aufmerksamkeit ablenkende Weise. Ebenso vermeide
man sorgfältig Alles, was in irgend einer Weise ein uner-
wünschtes und unstatthaftes Beginnen des Kindes anregen
könnte. Man schaffe jeden Stein des Anstosses möglichst aus
dem Wege.

Haben endlich, was bei längerem Kranksein nicht leicht
gänzlich zu vermeiden sein wird, doch in irgend einer Weise
kleinere oder grössere Verwöhnungen sich eingeschlichen, so
kommt viel darauf an, dass man nach überstandener Krank-
heit zur Wiedereinsetzung der alten Ordnung die ersten Tage
des frisch erwachenden Gesundheits- und Kraftgefühles des
Kindes benutzt. In dieser Periode, wo das Kind gleichsam
ein neues Leben beginnt, dessen Ordnung auch nun wieder
für die Folge maassgebend wird, lassen sich die etwa ent-
standenen Abweichungen und Lücken der Gewohnheit mit
Leichtigkeit ausbessern; man ist dann in wenigen Tagen wie-
der auf dem früheren Standpunkte. Ungleich schwerer wird
dies, wenn man die genannte Periode ungenutzt vorübergehen
lässt. Dieser Umstand hat einen psychologischen Grund, in-

1. JAHR. GEISTIGE SEITE.

Jede Krankheit ist nun allerdings als Ausnahmezustand
zu betrachten und wird, gleichwie die allgemeine Lebensweise,
so auch die disciplinarische Ordnung unvermeidlicher Weise
mehr oder weniger modifiziren. Dennoch kann man die durch
die Krankheit und die damit verbundenen Umstände noth-
wendig gemachten Abweichungen in den meisten Fällen auf
ein Minimum reduciren, ohne nach irgend einer Seite hin eine
Rücksicht zu verletzen. Man werfe daher ja nicht nun mit
einem Male die ganze bisherige Ordnung bei Seite, sondern
man behalte auch jetzt noch stets die wesentlichsten discipli-
narischen Grundsätze im Auge, um sie, soweit als nur irgend
den Verhältnissen angemessen, in Geltung zu erhalten. Nur
die Art und Weise ihrer Geltendmachung muss eine viel be-
hutsamere und mildere sein. Einem falschen Benehmen oder
unpassenden, vielleicht schon wegen der Krankheit unstatt-
haften Begehren des Kindes z. B. trete man nicht mit dersel-
ben Entschiedenheit, wie in den Tagen der Gesundheit, ent-
gegen, sondern mehr durch eine sanft beschwichtigende,
die Aufmerksamkeit ablenkende Weise. Ebenso vermeide
man sorgfältig Alles, was in irgend einer Weise ein uner-
wünschtes und unstatthaftes Beginnen des Kindes anregen
könnte. Man schaffe jeden Stein des Anstosses möglichst aus
dem Wege.

Haben endlich, was bei längerem Kranksein nicht leicht
gänzlich zu vermeiden sein wird, doch in irgend einer Weise
kleinere oder grössere Verwöhnungen sich eingeschlichen, so
kommt viel darauf an, dass man nach überstandener Krank-
heit zur Wiedereinsetzung der alten Ordnung die ersten Tage
des frisch erwachenden Gesundheits- und Kraftgefühles des
Kindes benutzt. In dieser Periode, wo das Kind gleichsam
ein neues Leben beginnt, dessen Ordnung auch nun wieder
für die Folge maassgebend wird, lassen sich die etwa ent-
standenen Abweichungen und Lücken der Gewohnheit mit
Leichtigkeit ausbessern; man ist dann in wenigen Tagen wie-
der auf dem früheren Standpunkte. Ungleich schwerer wird
dies, wenn man die genannte Periode ungenutzt vorübergehen
lässt. Dieser Umstand hat einen psychologischen Grund, in-

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[68/0072] 1. JAHR. GEISTIGE SEITE. Jede Krankheit ist nun allerdings als Ausnahmezustand zu betrachten und wird, gleichwie die allgemeine Lebensweise, so auch die disciplinarische Ordnung unvermeidlicher Weise mehr oder weniger modifiziren. Dennoch kann man die durch die Krankheit und die damit verbundenen Umstände noth- wendig gemachten Abweichungen in den meisten Fällen auf ein Minimum reduciren, ohne nach irgend einer Seite hin eine Rücksicht zu verletzen. Man werfe daher ja nicht nun mit einem Male die ganze bisherige Ordnung bei Seite, sondern man behalte auch jetzt noch stets die wesentlichsten discipli- narischen Grundsätze im Auge, um sie, soweit als nur irgend den Verhältnissen angemessen, in Geltung zu erhalten. Nur die Art und Weise ihrer Geltendmachung muss eine viel be- hutsamere und mildere sein. Einem falschen Benehmen oder unpassenden, vielleicht schon wegen der Krankheit unstatt- haften Begehren des Kindes z. B. trete man nicht mit dersel- ben Entschiedenheit, wie in den Tagen der Gesundheit, ent- gegen, sondern mehr durch eine sanft beschwichtigende, die Aufmerksamkeit ablenkende Weise. Ebenso vermeide man sorgfältig Alles, was in irgend einer Weise ein uner- wünschtes und unstatthaftes Beginnen des Kindes anregen könnte. Man schaffe jeden Stein des Anstosses möglichst aus dem Wege. Haben endlich, was bei längerem Kranksein nicht leicht gänzlich zu vermeiden sein wird, doch in irgend einer Weise kleinere oder grössere Verwöhnungen sich eingeschlichen, so kommt viel darauf an, dass man nach überstandener Krank- heit zur Wiedereinsetzung der alten Ordnung die ersten Tage des frisch erwachenden Gesundheits- und Kraftgefühles des Kindes benutzt. In dieser Periode, wo das Kind gleichsam ein neues Leben beginnt, dessen Ordnung auch nun wieder für die Folge maassgebend wird, lassen sich die etwa ent- standenen Abweichungen und Lücken der Gewohnheit mit Leichtigkeit ausbessern; man ist dann in wenigen Tagen wie- der auf dem früheren Standpunkte. Ungleich schwerer wird dies, wenn man die genannte Periode ungenutzt vorübergehen lässt. Dieser Umstand hat einen psychologischen Grund, in-

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Zitationshilfe: Schreber, Daniel Gottlob Moritz: Kallipädie oder Erziehung zur Schönheit. Leipzig, 1858, S. 68. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schreber_kallipaedie_1858/72>, abgerufen am 29.11.2024.