Schreyvogel, Joseph: Samuel Brinks letzte Liebesgeschichte. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 10. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 1–94. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.zu mir aufblickend. -- Nein, Liebe! Sie sollen es überlegen. -- Tausend Dank! erwiderte sie schnell; und nun gute Nacht, lieber Herr! -- Schon fort? und keinen herzlicheren Abschied von Ihrem Freund? -- Unbefangen reichte sie mir die Wange hin. Meine Lippen suchten die ihrigen. Es war eine geistige Berührung, rein und innig. -- Sanft machte sie sich los, und, mit einem holdseligen Blick auf mich, eilte sie aus dem Zimmer. -- Gute Nacht, Gretchen! rief ich ihr nach. -- Gute Nacht! hört' ich, kaum vernehmbar. 10. Wo bleibst du, Paul? rief ich meinem Alten am andern Morgen entgegen; ich habe schon dreimal geschellt. -- Herr, es ist noch nicht fünf Uhr; ich bin erst aufgestanden. -- Warum nicht gar? sagt' ich und sah nach meiner Uhr. Sie stand still; ich hatte vergessen sie aufzuziehen. -- Was befehlen Sie, Herr? Nun, wenn es noch so früh ist! -- Ich wollte dich fragen, ob der Schneider Gretchens Anzug gebracht hat. -- Nein, Herr! Doch, ob er fertig ist, kann ich gleich sehen; er ist gewiß wach, und sitzt an seiner Arbeit. -- Laß sein, Paul! es könnte Aufsehen im Hause machen. -- Nicht im geringsten! Brigitte war schon auf den Beinen und wollte eben ausgehen, als ich herein kam. -- Hören Sie? Die Hausthür wird auf- und zugeschlossen. -- Die Alte ist fort, und Gretchen sitzt vermuthlich bei ihrer zu mir aufblickend. — Nein, Liebe! Sie sollen es überlegen. — Tausend Dank! erwiderte sie schnell; und nun gute Nacht, lieber Herr! — Schon fort? und keinen herzlicheren Abschied von Ihrem Freund? — Unbefangen reichte sie mir die Wange hin. Meine Lippen suchten die ihrigen. Es war eine geistige Berührung, rein und innig. — Sanft machte sie sich los, und, mit einem holdseligen Blick auf mich, eilte sie aus dem Zimmer. — Gute Nacht, Gretchen! rief ich ihr nach. — Gute Nacht! hört' ich, kaum vernehmbar. 10. Wo bleibst du, Paul? rief ich meinem Alten am andern Morgen entgegen; ich habe schon dreimal geschellt. — Herr, es ist noch nicht fünf Uhr; ich bin erst aufgestanden. — Warum nicht gar? sagt' ich und sah nach meiner Uhr. Sie stand still; ich hatte vergessen sie aufzuziehen. — Was befehlen Sie, Herr? Nun, wenn es noch so früh ist! — Ich wollte dich fragen, ob der Schneider Gretchens Anzug gebracht hat. — Nein, Herr! Doch, ob er fertig ist, kann ich gleich sehen; er ist gewiß wach, und sitzt an seiner Arbeit. — Laß sein, Paul! es könnte Aufsehen im Hause machen. — Nicht im geringsten! Brigitte war schon auf den Beinen und wollte eben ausgehen, als ich herein kam. — Hören Sie? Die Hausthür wird auf- und zugeschlossen. — Die Alte ist fort, und Gretchen sitzt vermuthlich bei ihrer <TEI> <text> <body> <div type="chapter" n="9"> <p><pb facs="#f0044"/> zu mir aufblickend. — Nein, Liebe! Sie sollen es überlegen. — Tausend Dank! erwiderte sie schnell; und nun gute Nacht, lieber Herr! — Schon fort? und keinen herzlicheren Abschied von Ihrem Freund? — Unbefangen reichte sie mir die Wange hin. Meine Lippen suchten die ihrigen. Es war eine geistige Berührung, rein und innig. — Sanft machte sie sich los, und, mit einem holdseligen Blick auf mich, eilte sie aus dem Zimmer. — Gute Nacht, Gretchen! rief ich ihr nach. — Gute Nacht! hört' ich, kaum vernehmbar.</p><lb/> </div> <div type="chapter" n="10"> <head>10.</head> <p>Wo bleibst du, Paul? rief ich meinem Alten am andern Morgen entgegen; ich habe schon dreimal geschellt. — Herr, es ist noch nicht fünf Uhr; ich bin erst aufgestanden. — Warum nicht gar? sagt' ich und sah nach meiner Uhr. Sie stand still; ich hatte vergessen sie aufzuziehen. — Was befehlen Sie, Herr?</p><lb/> <p>Nun, wenn es noch so früh ist! — Ich wollte dich fragen, ob der Schneider Gretchens Anzug gebracht hat. — Nein, Herr! Doch, ob er fertig ist, kann ich gleich sehen; er ist gewiß wach, und sitzt an seiner Arbeit. — Laß sein, Paul! es könnte Aufsehen im Hause machen. — Nicht im geringsten! Brigitte war schon auf den Beinen und wollte eben ausgehen, als ich herein kam. — Hören Sie? Die Hausthür wird auf- und zugeschlossen. — Die Alte ist fort, und Gretchen sitzt vermuthlich bei ihrer<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [0044]
zu mir aufblickend. — Nein, Liebe! Sie sollen es überlegen. — Tausend Dank! erwiderte sie schnell; und nun gute Nacht, lieber Herr! — Schon fort? und keinen herzlicheren Abschied von Ihrem Freund? — Unbefangen reichte sie mir die Wange hin. Meine Lippen suchten die ihrigen. Es war eine geistige Berührung, rein und innig. — Sanft machte sie sich los, und, mit einem holdseligen Blick auf mich, eilte sie aus dem Zimmer. — Gute Nacht, Gretchen! rief ich ihr nach. — Gute Nacht! hört' ich, kaum vernehmbar.
10. Wo bleibst du, Paul? rief ich meinem Alten am andern Morgen entgegen; ich habe schon dreimal geschellt. — Herr, es ist noch nicht fünf Uhr; ich bin erst aufgestanden. — Warum nicht gar? sagt' ich und sah nach meiner Uhr. Sie stand still; ich hatte vergessen sie aufzuziehen. — Was befehlen Sie, Herr?
Nun, wenn es noch so früh ist! — Ich wollte dich fragen, ob der Schneider Gretchens Anzug gebracht hat. — Nein, Herr! Doch, ob er fertig ist, kann ich gleich sehen; er ist gewiß wach, und sitzt an seiner Arbeit. — Laß sein, Paul! es könnte Aufsehen im Hause machen. — Nicht im geringsten! Brigitte war schon auf den Beinen und wollte eben ausgehen, als ich herein kam. — Hören Sie? Die Hausthür wird auf- und zugeschlossen. — Die Alte ist fort, und Gretchen sitzt vermuthlich bei ihrer
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