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Schreyvogel, Joseph: Samuel Brinks letzte Liebesgeschichte. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 10. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 1–94. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.

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Anspruch auf Alles, was ich besitze; nie kann ich ihm lohnen, was er heute that. -- Gretchen wurde wieder blässer; ihr Athem schien noch nicht frei. Der Arzt verlangte, daß wir uns entfernten; eine Stunde Ruhe sei für Gretchen nun das Nöthigste. Ich nahm Maxen mit mir und ließ den Arzt mit den Mägden bei der Kranken zurück.

Von Max erfuhr ich jetzt, wie der Unfall begegnet, und durch welches Wunder er selbst im Stande gewesen sei, das holde Geschöpf zu retten. Die Mäher waren seit Tagesanbruch auf der großen Wiese beschäftigt, welche jenseits des Baches, ein paar hundert Schritte über der Mühle liegt. Max hatte den Arbeitern verboten, über den Steg zu gehen, von dessen gebrechlichem Stande er neuerdings überzeugt worden, und hatte dem Müller, wie vorher schon oft, noch heute früh dringend angelegen, den gefährlichen Bau sogleich abtragen zu lassen. Nach Mittag war Gretchen über die obere Brücke auf die Wiese gekommen, und dort geblieben. Später hatte indessen Max, von einer unerklärbaren Unruhe getrieben, die Wiese verlassen, und war noch einmal in die Mühle gegangen, wo er den fahrlässigen Mann endlich vermochte, ihm zu folgen, um den Schaden selbst in Augenschein zu nehmen. Als sie aus der Mühle traten, erblickte Max zu seinem Schrecken Gretchen auf dem schwankenden Steg, und einen Moment nachher sah er sie mit den morschen Brettern in die Tiefe stürzen. Einige Augenblicke war Gretchen, welche Maxen noch im Fallen be-

Anspruch auf Alles, was ich besitze; nie kann ich ihm lohnen, was er heute that. — Gretchen wurde wieder blässer; ihr Athem schien noch nicht frei. Der Arzt verlangte, daß wir uns entfernten; eine Stunde Ruhe sei für Gretchen nun das Nöthigste. Ich nahm Maxen mit mir und ließ den Arzt mit den Mägden bei der Kranken zurück.

Von Max erfuhr ich jetzt, wie der Unfall begegnet, und durch welches Wunder er selbst im Stande gewesen sei, das holde Geschöpf zu retten. Die Mäher waren seit Tagesanbruch auf der großen Wiese beschäftigt, welche jenseits des Baches, ein paar hundert Schritte über der Mühle liegt. Max hatte den Arbeitern verboten, über den Steg zu gehen, von dessen gebrechlichem Stande er neuerdings überzeugt worden, und hatte dem Müller, wie vorher schon oft, noch heute früh dringend angelegen, den gefährlichen Bau sogleich abtragen zu lassen. Nach Mittag war Gretchen über die obere Brücke auf die Wiese gekommen, und dort geblieben. Später hatte indessen Max, von einer unerklärbaren Unruhe getrieben, die Wiese verlassen, und war noch einmal in die Mühle gegangen, wo er den fahrlässigen Mann endlich vermochte, ihm zu folgen, um den Schaden selbst in Augenschein zu nehmen. Als sie aus der Mühle traten, erblickte Max zu seinem Schrecken Gretchen auf dem schwankenden Steg, und einen Moment nachher sah er sie mit den morschen Brettern in die Tiefe stürzen. Einige Augenblicke war Gretchen, welche Maxen noch im Fallen be-

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Thomas Weitin: Herausgeber
Digital Humanities Cooperation Konstanz/Darmstadt: Bereitstellung der Texttranskription. (2017-03-16T11:30:04Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Jan Merkt, Thomas Gilli, Jasmin Bieber, Katharina Herget, Anni Peter, Christian Thomas, Benjamin Fiechter: Bearbeitung der digitalen Edition. (2017-03-16T11:30:04Z)

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Zitationshilfe: Schreyvogel, Joseph: Samuel Brinks letzte Liebesgeschichte. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 10. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 1–94. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schreyvogel_liebesgeschichte_1910/80>, abgerufen am 24.11.2024.