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Schröder, Ernst: Vorlesungen über die Algebra der Logik. Bd. 1. Leipzig, 1890.

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Einleitung.
auf Grund logischer Denknotwendigkeit allein, sei es auch mit denk-
notwendiger Bezugnahme auf die anerkannten Grundsätze einer wissen-
schaftlichen Doktrin, wie die Naturgesetze, Rechtsnormen und dergl.

Diese in der Definition hervorgehobenen Merkmale können als
charakteristische oder "wesentliche" Merkmale des Begriffes (notae essen-
tiales) hingestellt werden; doch ist nicht zu übersehen oder zu ver-
gessen, dass die Bedeutung dieses Namens ein willkürliches Moment
in sich schliesst, indem schon Beispiele darthun, dass für denselben
Begriff als für ihn charakteristische sehr verschiedene Merkmalgruppen
erwählt werden können.

Ein Beispiel zur Erläuterung dieser allgemeinen Bemerkungen: Wir
mögen den Kreis (aufgefasst als Kreislinie) regelrecht definiren als eine
geschlossene, ebene Kurve, deren sämtliche Punkte von einem bestimmten
Punkt (etwa ebendieser ihrer Ebene, dem alsdann sogenannten "Mittel-
punkte") gleichweit abstehen. [Etwas kürzer gefasst könnte die Definition
auch lauten: "Kreis" ist der "geometrische Ort" -- d. i. die Gesamtheit
der möglichen Lagen -- eines ("desjenigen") Punktes in einer Ebene, wel-
cher konstanten Abstand hat von einem festen Punkt in dieser Ebene.]

Auf Grund der geometrischen Axiome folgt alsdann denknotwendig
der Satz von der Gleichheit aller Peripheriewinkel, welche auf demselben
Bogen stehn, im Kreise. Dieser Satz thut aber weiter nichts, als: auf ein
weiteres Merkmal, welches allen Kreisen gemeinsam ist, aufmerksam machen,
solches konstatiren. Und zwar würde hier sogar sich beweisen lassen,
dass dieses Merkmal (wenn auf gewisse Art formulirt) unter allen ebenen
Kurven nur einem Kreise zukommen kann, weshalb man dasselbe auch be-
nutzen könnte um eine gültige, jedoch von der vorigen gänzlich verschiedene
Definition des Kreises aufzustellen.

Ebenso hätten wir aber auch definiren können "Kreis sei eine solche
ebene (geschlossene) Kurve zu nennen, welche bei gegebenem oder nicht
zu überschreitendem Umfange den grösstmöglichen Flächeninhalt hat. Dar-
aus folgt dann schon logisch allein (wenigstens, falls zugegeben wird, dass
der vorigen Definition allemal ein wirklicher Kreis entspricht, ohne Be-
rufung auf weitere geometrische Axiome), dass diese Kurve auch bei ge-
gebenem Flächeninhalt den kleinstmöglichen Umfang haben muss -- was
folglich ebensogut zu einer Definition des Kreises hätte mitverwendet wer-
den können.

Offenbar sind es Gruppen von zum Teil recht verschiedenen Merk-
malen -- wir brauchen sie nicht in einzelner Aufzählung zu wiederholen
-- die in diesen verschiedenen Definitionen als wesentliche Merkmale des
Kreises hingestellt wurden. Die einen ziehen aber schon die andern auf
Grund der geometrischen Doktrin nach sich.

Den idealen Begriff des Kreises würde jemand erst dann besitzen,
wenn alle möglichen für alle Kreise übereinstimmenden Eigenschaften und
Relationen (Thätigkeiten fehlen hier) seinem Geiste gegenwärtig wären, in
seinem Bewusstsein vereinigt würden. Derselbe müsste darnach alle (unter
anderm auch alle geometrischen) Sätze, die überhaupt als von jedem Kreise

Einleitung.
auf Grund logischer Denknotwendigkeit allein, sei es auch mit denk-
notwendiger Bezugnahme auf die anerkannten Grundsätze einer wissen-
schaftlichen Doktrin, wie die Naturgesetze, Rechtsnormen und dergl.

Diese in der Definition hervorgehobenen Merkmale können als
charakteristische oder „wesentliche“ Merkmale des Begriffes (notae essen-
tiales) hingestellt werden; doch ist nicht zu übersehen oder zu ver-
gessen, dass die Bedeutung dieses Namens ein willkürliches Moment
in sich schliesst, indem schon Beispiele darthun, dass für denselben
Begriff als für ihn charakteristische sehr verschiedene Merkmalgruppen
erwählt werden können.

Ein Beispiel zur Erläuterung dieser allgemeinen Bemerkungen: Wir
mögen den Kreis (aufgefasst als Kreislinie) regelrecht definiren als eine
geschlossene, ebene Kurve, deren sämtliche Punkte von einem bestimmten
Punkt (etwa ebendieser ihrer Ebene, dem alsdann sogenannten „Mittel-
punkte“) gleichweit abstehen. [Etwas kürzer gefasst könnte die Definition
auch lauten: „Kreis“ ist der „geometrische Ort“ — d. i. die Gesamtheit
der möglichen Lagen — eines („desjenigen“) Punktes in einer Ebene, wel-
cher konstanten Abstand hat von einem festen Punkt in dieser Ebene.]

Auf Grund der geometrischen Axiome folgt alsdann denknotwendig
der Satz von der Gleichheit aller Peripheriewinkel, welche auf demselben
Bogen stehn, im Kreise. Dieser Satz thut aber weiter nichts, als: auf ein
weiteres Merkmal, welches allen Kreisen gemeinsam ist, aufmerksam machen,
solches konstatiren. Und zwar würde hier sogar sich beweisen lassen,
dass dieses Merkmal (wenn auf gewisse Art formulirt) unter allen ebenen
Kurven nur einem Kreise zukommen kann, weshalb man dasselbe auch be-
nutzen könnte um eine gültige, jedoch von der vorigen gänzlich verschiedene
Definition des Kreises aufzustellen.

Ebenso hätten wir aber auch definiren können „Kreis sei eine solche
ebene (geschlossene) Kurve zu nennen, welche bei gegebenem oder nicht
zu überschreitendem Umfange den grösstmöglichen Flächeninhalt hat. Dar-
aus folgt dann schon logisch allein (wenigstens, falls zugegeben wird, dass
der vorigen Definition allemal ein wirklicher Kreis entspricht, ohne Be-
rufung auf weitere geometrische Axiome), dass diese Kurve auch bei ge-
gebenem Flächeninhalt den kleinstmöglichen Umfang haben muss — was
folglich ebensogut zu einer Definition des Kreises hätte mitverwendet wer-
den können.

Offenbar sind es Gruppen von zum Teil recht verschiedenen Merk-
malen — wir brauchen sie nicht in einzelner Aufzählung zu wiederholen
— die in diesen verschiedenen Definitionen als wesentliche Merkmale des
Kreises hingestellt wurden. Die einen ziehen aber schon die andern auf
Grund der geometrischen Doktrin nach sich.

Den idealen Begriff des Kreises würde jemand erst dann besitzen,
wenn alle möglichen für alle Kreise übereinstimmenden Eigenschaften und
Relationen (Thätigkeiten fehlen hier) seinem Geiste gegenwärtig wären, in
seinem Bewusstsein vereinigt würden. Derselbe müsste darnach alle (unter
anderm auch alle geometrischen) Sätze, die überhaupt als von jedem Kreise

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[87/0107] Einleitung. auf Grund logischer Denknotwendigkeit allein, sei es auch mit denk- notwendiger Bezugnahme auf die anerkannten Grundsätze einer wissen- schaftlichen Doktrin, wie die Naturgesetze, Rechtsnormen und dergl. Diese in der Definition hervorgehobenen Merkmale können als charakteristische oder „wesentliche“ Merkmale des Begriffes (notae essen- tiales) hingestellt werden; doch ist nicht zu übersehen oder zu ver- gessen, dass die Bedeutung dieses Namens ein willkürliches Moment in sich schliesst, indem schon Beispiele darthun, dass für denselben Begriff als für ihn charakteristische sehr verschiedene Merkmalgruppen erwählt werden können. Ein Beispiel zur Erläuterung dieser allgemeinen Bemerkungen: Wir mögen den Kreis (aufgefasst als Kreislinie) regelrecht definiren als eine geschlossene, ebene Kurve, deren sämtliche Punkte von einem bestimmten Punkt (etwa ebendieser ihrer Ebene, dem alsdann sogenannten „Mittel- punkte“) gleichweit abstehen. [Etwas kürzer gefasst könnte die Definition auch lauten: „Kreis“ ist der „geometrische Ort“ — d. i. die Gesamtheit der möglichen Lagen — eines („desjenigen“) Punktes in einer Ebene, wel- cher konstanten Abstand hat von einem festen Punkt in dieser Ebene.] Auf Grund der geometrischen Axiome folgt alsdann denknotwendig der Satz von der Gleichheit aller Peripheriewinkel, welche auf demselben Bogen stehn, im Kreise. Dieser Satz thut aber weiter nichts, als: auf ein weiteres Merkmal, welches allen Kreisen gemeinsam ist, aufmerksam machen, solches konstatiren. Und zwar würde hier sogar sich beweisen lassen, dass dieses Merkmal (wenn auf gewisse Art formulirt) unter allen ebenen Kurven nur einem Kreise zukommen kann, weshalb man dasselbe auch be- nutzen könnte um eine gültige, jedoch von der vorigen gänzlich verschiedene Definition des Kreises aufzustellen. Ebenso hätten wir aber auch definiren können „Kreis sei eine solche ebene (geschlossene) Kurve zu nennen, welche bei gegebenem oder nicht zu überschreitendem Umfange den grösstmöglichen Flächeninhalt hat. Dar- aus folgt dann schon logisch allein (wenigstens, falls zugegeben wird, dass der vorigen Definition allemal ein wirklicher Kreis entspricht, ohne Be- rufung auf weitere geometrische Axiome), dass diese Kurve auch bei ge- gebenem Flächeninhalt den kleinstmöglichen Umfang haben muss — was folglich ebensogut zu einer Definition des Kreises hätte mitverwendet wer- den können. Offenbar sind es Gruppen von zum Teil recht verschiedenen Merk- malen — wir brauchen sie nicht in einzelner Aufzählung zu wiederholen — die in diesen verschiedenen Definitionen als wesentliche Merkmale des Kreises hingestellt wurden. Die einen ziehen aber schon die andern auf Grund der geometrischen Doktrin nach sich. Den idealen Begriff des Kreises würde jemand erst dann besitzen, wenn alle möglichen für alle Kreise übereinstimmenden Eigenschaften und Relationen (Thätigkeiten fehlen hier) seinem Geiste gegenwärtig wären, in seinem Bewusstsein vereinigt würden. Derselbe müsste darnach alle (unter anderm auch alle geometrischen) Sätze, die überhaupt als von jedem Kreise

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Zitationshilfe: Schröder, Ernst: Vorlesungen über die Algebra der Logik. Bd. 1. Leipzig, 1890, S. 87. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schroeder_logik01_1890/107>, abgerufen am 28.11.2024.