Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Schröder, Ernst: Vorlesungen über die Algebra der Logik. Bd. 1. Leipzig, 1890.

Bild:
<< vorherige Seite

Einleitung.
(dass wir die Dinge "an sich" nicht zu erkennen vermögen), können
wir darum in der That von den Dingen der Aussenwelt selber (auch
im Gegensatz zu unsern Vorstellungen) reden; in diesem Sinne und
unter diesem Vorbehalte geschieht dies auch allgemein in den empi-
rischen Wissenschaften und geschieht es von rechtswegen.

So hat nun z. B. die Frage, ob auf den von uns ewig abgewandten
drei Siebenteln der Mondoberfläche, ob auf der "Rückseite" des Mondes sich
Wasser befinde, einen ganz bestimmten Sinn, wenn wir auch nicht wissen
können, was der Mond, was Wasser, was Materie überhaupt "an sich" ist,
was der Erscheinung einer Oberfläche Wirkliches zugrunde liegt u. s. w.
Dies wird wol jedermann ohne weiteres zugeben.

Ebenso ist aber auch -- um ein neuerdings vielumstrittenes Beispiel
anzuführen -- die Frage eine vollberechtigte, ob der physikalische Raum
wirklich ein "Euklidischer", eine "ebene" und sonach unendliche dreidimen-
sionale Mannigfaltigkeit sei, oder ob er etwa als ein durchweg endlicher,
nach allen Seiten mittelst vierdimensionaler Krümmung in sich zurückkehre.
Auch bei dieser Frage handelt es sich nicht um die subjektive Beschaffen-
heit unsrer herkömmlichen, gewohnten Anschauung, welche zur Zeit noch
unbestritten die des ersteren Raumes ist, sondern darum, ob nicht eine
objektive Notwendigkeit vorliegt (oder wenigstens nach dem heutigen Stand
unsrer Erkenntniss schon vorliegen kann und dereinst vielleicht sich auf-
drängen wird) dieselbe zu modifiziren, der Wahrheit zuliebe sie umzubilden,
nämlich sie durch die letztere Raumvorstellung zu ersetzen.

Ganz richtig hat auch Lotze hierin den Kernpunkt der Frage erblickt.
Im übrigen scheint er mir aber in seiner gegen die Untersuchungen von
Riemann und v. Helmholtz gerichteten Polemik (Metaphysik, p. 249 .. 267)
(unter anderm) in einen analogen Fehler zu verfallen, wie ihn (nach
Whewhell's Geschichte der induktiven Wissenschaften) der Kirchenvater
Lactantius*) beging, der gegen die Möglichkeit von Gegenfüsslern auf unsrer
Erde eiferte, weil er die ihm geläufige Richtung der Schwere absolut fest-
hielt, und folgerichtig zu dem Schlusse kam, dass solche Antipoden auf
dem Kopfe stehen müssten. Ganz ähnlich in der That überträgt auch
Lotze in seinem Hauptargumente die ihm geläufige Vorstellung (und An-
nahme der Existenz) von unendlichen Geraden, dieselbe allzu fest haltend,
ohne weiteres auf Wesen (jene fingirten mit ihrer ganzen Existenz an die
Kugelfläche gebannten "Flächenwesen"), die sie nach den für ihr Dasein
gemachten Annahmen gar nicht zu haben brauchten, ja überhaupt nicht
haben könnten (p. 252), und spricht darum mit Unrecht von "Wider-
sprüchen", in welche solche Wesen durch das Studium ihres Raumes ver-
wickelt werden müssten.

So sehr ich das neuerliche Wiederaufleben der (dermalen nur in einem
wissenschaftlicheren Gewand, als früher, auftretenden) Mystik, welches sich
an die erwähnte Frage der Raumdimensionen geknüpft hat, missbillige und
beklage, halte ich doch die zweiterwähnte Raumanschauung für die richtige.
Ich bin überzeugt -- doch würde es mich hier zu weit führen, meine

*) Vor ihm, schon im Altertum, auch Tertullian -- vergl. Ueberweg1 p. 370.
Schröder, Algebra der Logik. 3

Einleitung.
(dass wir die Dinge „an sich“ nicht zu erkennen vermögen), können
wir darum in der That von den Dingen der Aussenwelt selber (auch
im Gegensatz zu unsern Vorstellungen) reden; in diesem Sinne und
unter diesem Vorbehalte geschieht dies auch allgemein in den empi-
rischen Wissenschaften und geschieht es von rechtswegen.

So hat nun z. B. die Frage, ob auf den von uns ewig abgewandten
drei Siebenteln der Mondoberfläche, ob auf der „Rückseite“ des Mondes sich
Wasser befinde, einen ganz bestimmten Sinn, wenn wir auch nicht wissen
können, was der Mond, was Wasser, was Materie überhaupt „an sich“ ist,
was der Erscheinung einer Oberfläche Wirkliches zugrunde liegt u. s. w.
Dies wird wol jedermann ohne weiteres zugeben.

Ebenso ist aber auch — um ein neuerdings vielumstrittenes Beispiel
anzuführen — die Frage eine vollberechtigte, ob der physikalische Raum
wirklich ein „Euklidischer“, eine „ebene“ und sonach unendliche dreidimen-
sionale Mannigfaltigkeit sei, oder ob er etwa als ein durchweg endlicher,
nach allen Seiten mittelst vierdimensionaler Krümmung in sich zurückkehre.
Auch bei dieser Frage handelt es sich nicht um die subjektive Beschaffen-
heit unsrer herkömmlichen, gewohnten Anschauung, welche zur Zeit noch
unbestritten die des ersteren Raumes ist, sondern darum, ob nicht eine
objektive Notwendigkeit vorliegt (oder wenigstens nach dem heutigen Stand
unsrer Erkenntniss schon vorliegen kann und dereinst vielleicht sich auf-
drängen wird) dieselbe zu modifiziren, der Wahrheit zuliebe sie umzubilden,
nämlich sie durch die letztere Raumvorstellung zu ersetzen.

Ganz richtig hat auch Lotze hierin den Kernpunkt der Frage erblickt.
Im übrigen scheint er mir aber in seiner gegen die Untersuchungen von
Riemann und v. Helmholtz gerichteten Polemik (Metaphysik, p. 249 ‥ 267)
(unter anderm) in einen analogen Fehler zu verfallen, wie ihn (nach
Whewhell's Geschichte der induktiven Wissenschaften) der Kirchenvater
Lactantius*) beging, der gegen die Möglichkeit von Gegenfüsslern auf unsrer
Erde eiferte, weil er die ihm geläufige Richtung der Schwere absolut fest-
hielt, und folgerichtig zu dem Schlusse kam, dass solche Antipoden auf
dem Kopfe stehen müssten. Ganz ähnlich in der That überträgt auch
Lotze in seinem Hauptargumente die ihm geläufige Vorstellung (und An-
nahme der Existenz) von unendlichen Geraden, dieselbe allzu fest haltend,
ohne weiteres auf Wesen (jene fingirten mit ihrer ganzen Existenz an die
Kugelfläche gebannten „Flächenwesen“), die sie nach den für ihr Dasein
gemachten Annahmen gar nicht zu haben brauchten, ja überhaupt nicht
haben könnten (p. 252), und spricht darum mit Unrecht von „Wider-
sprüchen“, in welche solche Wesen durch das Studium ihres Raumes ver-
wickelt werden müssten.

So sehr ich das neuerliche Wiederaufleben der (dermalen nur in einem
wissenschaftlicheren Gewand, als früher, auftretenden) Mystik, welches sich
an die erwähnte Frage der Raumdimensionen geknüpft hat, missbillige und
beklage, halte ich doch die zweiterwähnte Raumanschauung für die richtige.
Ich bin überzeugt — doch würde es mich hier zu weit führen, meine

*) Vor ihm, schon im Altertum, auch Tertullian — vergl. Ueberweg1 p. 370.
Schröder, Algebra der Logik. 3
<TEI>
  <text>
    <front>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0053" n="33"/><fw place="top" type="header">Einleitung.</fw><lb/>
(dass wir die Dinge &#x201E;an sich&#x201C; <hi rendition="#i">nicht</hi> zu erkennen vermögen), können<lb/>
wir darum in der That von den Dingen der Aussenwelt selber (auch<lb/>
im Gegensatz zu unsern Vorstellungen) reden; in diesem Sinne und<lb/>
unter diesem Vorbehalte geschieht dies auch allgemein in den empi-<lb/>
rischen Wissenschaften und geschieht es von rechtswegen.</p><lb/>
          <p>So hat nun z. B. die Frage, ob auf den von uns ewig abgewandten<lb/>
drei Siebenteln der Mondoberfläche, ob auf der &#x201E;Rückseite&#x201C; des Mondes sich<lb/>
Wasser befinde, einen ganz bestimmten Sinn, wenn wir auch nicht wissen<lb/>
können, was der Mond, was Wasser, was Materie überhaupt &#x201E;an sich&#x201C; ist,<lb/>
was der Erscheinung einer Oberfläche Wirkliches zugrunde liegt u. s. w.<lb/>
Dies wird wol jedermann ohne weiteres zugeben.</p><lb/>
          <p>Ebenso ist aber auch &#x2014; um ein neuerdings vielumstrittenes Beispiel<lb/>
anzuführen &#x2014; die Frage eine vollberechtigte, ob der <hi rendition="#i">physikalische Raum</hi><lb/>
wirklich ein &#x201E;Euklidischer&#x201C;, eine &#x201E;ebene&#x201C; und sonach unendliche dreidimen-<lb/>
sionale Mannigfaltigkeit sei, oder ob er etwa als ein durchweg endlicher,<lb/>
nach allen Seiten mittelst vierdimensionaler Krümmung in sich zurückkehre.<lb/>
Auch bei dieser Frage handelt es sich nicht um die subjektive Beschaffen-<lb/>
heit unsrer herkömmlichen, gewohnten Anschauung, welche zur Zeit noch<lb/>
unbestritten die des ersteren Raumes ist, sondern darum, ob nicht eine<lb/>
objektive Notwendigkeit vorliegt (oder wenigstens nach dem heutigen Stand<lb/>
unsrer Erkenntniss schon vorliegen <hi rendition="#i">kann</hi> und dereinst vielleicht sich auf-<lb/>
drängen wird) dieselbe zu modifiziren, der Wahrheit zuliebe sie umzubilden,<lb/>
nämlich sie durch die letztere Raumvorstellung zu ersetzen.</p><lb/>
          <p>Ganz richtig hat auch <hi rendition="#g">Lotze</hi> hierin den Kernpunkt der Frage erblickt.<lb/>
Im übrigen scheint er mir aber in seiner gegen die Untersuchungen von<lb/><hi rendition="#g">Riemann</hi> und v. <hi rendition="#g">Helmholtz</hi> gerichteten Polemik (Metaphysik, p. 249 &#x2025; 267)<lb/>
(unter anderm) in einen analogen Fehler zu verfallen, wie ihn (nach<lb/><hi rendition="#g">Whewhell</hi>'s Geschichte der induktiven Wissenschaften) der Kirchenvater<lb/><hi rendition="#g">Lactantius</hi><note place="foot" n="*)">Vor ihm, schon im Altertum, auch <hi rendition="#g">Tertullian</hi> &#x2014; vergl. <hi rendition="#g">Ueberweg</hi><hi rendition="#sup">1</hi> p. 370.</note> beging, der gegen die Möglichkeit von Gegenfüsslern auf unsrer<lb/>
Erde eiferte, weil er die ihm geläufige Richtung der Schwere absolut fest-<lb/>
hielt, und folgerichtig zu dem Schlusse kam, dass solche Antipoden auf<lb/>
dem Kopfe stehen müssten. Ganz ähnlich in der That überträgt auch<lb/><hi rendition="#g">Lotze</hi> in seinem Hauptargumente die ihm geläufige Vorstellung (und An-<lb/>
nahme der Existenz) von unendlichen Geraden, dieselbe allzu fest haltend,<lb/>
ohne weiteres auf Wesen (jene fingirten mit ihrer ganzen Existenz an die<lb/>
Kugelfläche gebannten &#x201E;Flächenwesen&#x201C;), die sie nach den für ihr Dasein<lb/>
gemachten Annahmen gar nicht zu haben brauchten, ja überhaupt nicht<lb/>
haben könnten (p. 252), und spricht darum mit Unrecht von &#x201E;Wider-<lb/>
sprüchen&#x201C;, in welche solche Wesen durch das Studium ihres Raumes ver-<lb/>
wickelt werden müssten.</p><lb/>
          <p>So sehr ich das neuerliche Wiederaufleben der (dermalen nur in einem<lb/>
wissenschaftlicheren Gewand, als früher, auftretenden) Mystik, welches sich<lb/>
an die erwähnte Frage der Raumdimensionen geknüpft hat, missbillige und<lb/>
beklage, halte ich doch die zweiterwähnte Raumanschauung für die richtige.<lb/>
Ich bin überzeugt &#x2014; doch würde es mich hier zu weit führen, meine<lb/>
<fw place="bottom" type="sig"><hi rendition="#k">Schröder</hi>, Algebra der Logik. 3</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </front>
  </text>
</TEI>
[33/0053] Einleitung. (dass wir die Dinge „an sich“ nicht zu erkennen vermögen), können wir darum in der That von den Dingen der Aussenwelt selber (auch im Gegensatz zu unsern Vorstellungen) reden; in diesem Sinne und unter diesem Vorbehalte geschieht dies auch allgemein in den empi- rischen Wissenschaften und geschieht es von rechtswegen. So hat nun z. B. die Frage, ob auf den von uns ewig abgewandten drei Siebenteln der Mondoberfläche, ob auf der „Rückseite“ des Mondes sich Wasser befinde, einen ganz bestimmten Sinn, wenn wir auch nicht wissen können, was der Mond, was Wasser, was Materie überhaupt „an sich“ ist, was der Erscheinung einer Oberfläche Wirkliches zugrunde liegt u. s. w. Dies wird wol jedermann ohne weiteres zugeben. Ebenso ist aber auch — um ein neuerdings vielumstrittenes Beispiel anzuführen — die Frage eine vollberechtigte, ob der physikalische Raum wirklich ein „Euklidischer“, eine „ebene“ und sonach unendliche dreidimen- sionale Mannigfaltigkeit sei, oder ob er etwa als ein durchweg endlicher, nach allen Seiten mittelst vierdimensionaler Krümmung in sich zurückkehre. Auch bei dieser Frage handelt es sich nicht um die subjektive Beschaffen- heit unsrer herkömmlichen, gewohnten Anschauung, welche zur Zeit noch unbestritten die des ersteren Raumes ist, sondern darum, ob nicht eine objektive Notwendigkeit vorliegt (oder wenigstens nach dem heutigen Stand unsrer Erkenntniss schon vorliegen kann und dereinst vielleicht sich auf- drängen wird) dieselbe zu modifiziren, der Wahrheit zuliebe sie umzubilden, nämlich sie durch die letztere Raumvorstellung zu ersetzen. Ganz richtig hat auch Lotze hierin den Kernpunkt der Frage erblickt. Im übrigen scheint er mir aber in seiner gegen die Untersuchungen von Riemann und v. Helmholtz gerichteten Polemik (Metaphysik, p. 249 ‥ 267) (unter anderm) in einen analogen Fehler zu verfallen, wie ihn (nach Whewhell's Geschichte der induktiven Wissenschaften) der Kirchenvater Lactantius *) beging, der gegen die Möglichkeit von Gegenfüsslern auf unsrer Erde eiferte, weil er die ihm geläufige Richtung der Schwere absolut fest- hielt, und folgerichtig zu dem Schlusse kam, dass solche Antipoden auf dem Kopfe stehen müssten. Ganz ähnlich in der That überträgt auch Lotze in seinem Hauptargumente die ihm geläufige Vorstellung (und An- nahme der Existenz) von unendlichen Geraden, dieselbe allzu fest haltend, ohne weiteres auf Wesen (jene fingirten mit ihrer ganzen Existenz an die Kugelfläche gebannten „Flächenwesen“), die sie nach den für ihr Dasein gemachten Annahmen gar nicht zu haben brauchten, ja überhaupt nicht haben könnten (p. 252), und spricht darum mit Unrecht von „Wider- sprüchen“, in welche solche Wesen durch das Studium ihres Raumes ver- wickelt werden müssten. So sehr ich das neuerliche Wiederaufleben der (dermalen nur in einem wissenschaftlicheren Gewand, als früher, auftretenden) Mystik, welches sich an die erwähnte Frage der Raumdimensionen geknüpft hat, missbillige und beklage, halte ich doch die zweiterwähnte Raumanschauung für die richtige. Ich bin überzeugt — doch würde es mich hier zu weit führen, meine *) Vor ihm, schon im Altertum, auch Tertullian — vergl. Ueberweg1 p. 370. Schröder, Algebra der Logik. 3

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/schroeder_logik01_1890
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/schroeder_logik01_1890/53
Zitationshilfe: Schröder, Ernst: Vorlesungen über die Algebra der Logik. Bd. 1. Leipzig, 1890, S. 33. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schroeder_logik01_1890/53>, abgerufen am 11.05.2024.