Und ferner -- als praktisch vielleicht in noch höherem Maasse Bedürfniss -- sollte man verfügen können über ein Tempus indefinitum oder indeterminatum, eine Temporalform, die offen, unausgedrückt lässt, ob von Vergangenheit, Gegenwart oder Zukunft die Rede; dieselbe wäre nicht nur da zu gebrauchen, wo, wie erwähnt, genauere in der Aussage enthaltene Zeitangaben die übliche Temporalflexion ihres Verbums als überflüssig, ja einseitig, unvollständig oder irreführend erscheinen lassen, sondern überhaupt, wenn es sich darum handelt, von Ereignissen in zusammenfassender Schilderung (erzählend, be- schreibend und eventuell vorhersagend) zu reden, die teilweise der Ver- gangenheit, vielleicht der Gegenwart und teilweise auch der Zukunft angehören mögen, bei denen es aber unbekannt oder nebensächlich ist, inwiefern oder in welchen Verhältnissen sie das eine thun, oder das andere.
Umstände, unter denen solches von Belang würde, können leicht schon bei der brieflichen Korrespondenz eintreten, wo die Gegenwart des Ab- senders eine andere ist, als die des Empfängers. Dass aber in den Wissen- schaften sich die erwähnte Armut der Wortsprache nicht schlimmer fühlbar gemacht hat, und deshalb fortbestehen konnte, erklärt sich unschwer aus der scharfen Sonderung jener in historische und physikalisch-mathematische Wissenschaften, bei deren ersteren es niemals gleichgültig erscheint, ob ein Ereigniss schon stattgefunden hat, oder erst stattfinden wird, wogegen die letzteren sich durchweg mit sozusagen "ewigen" Wahrheiten beschäftigen und zu deren Ausdruck eben des aoristischen Präsens sich gewohnheits- mässig bedienen. Ihnen schliessen auch die naturhistorischen Disziplinen sich teilweise an.
Sollten (aber) in der Logik auch beschreibende oder erzählende Urteile, Aussagen über historische, gegenwärtige oder künftige That- sachen, als Aussagen konstanten Sinnes angesehen werden, so müssten wir sie uns allemal in der erwähnten unbestimmten Temporalform, eventuell versehen mit einer absoluten Zeitbestimmung, ausgedrückt denken.
Uns an das mit der Wortsprache Gegebene haltend gelangen wir dagegen zur Anerkennung des Vorkommens von Aussagen variablen Sinnes, deren Sinn nämlich sich mit dem Zeitpunkt, in welchem die Aussage fällt, von selbst verschiebt, indem das Verbum mit seinem Tempus an die "relative" Gegenwart anknüpft, nämlich auf die Gegen- wart der Aussage (eventuell von dieser aus zurück- oder vor-ver- weisend) sich bezieht. ["Absolute" Gegenwart würde ich dagegen den durch Jahreszahl, Datum, Stunde und Minute etc., Berliner Zeit, fixirten Moment, in welchem ich soeben schreibe, dermalen nennen.]
Von solcher Art ist wol die ungeheure Mehrzahl aller mensch-
Fünfzehnte Vorlesung.
Und ferner — als praktisch vielleicht in noch höherem Maasse Bedürfniss — sollte man verfügen können über ein Tempus indefinitum oder indeterminatum, eine Temporalform, die offen, unausgedrückt lässt, ob von Vergangenheit, Gegenwart oder Zukunft die Rede; dieselbe wäre nicht nur da zu gebrauchen, wo, wie erwähnt, genauere in der Aussage enthaltene Zeitangaben die übliche Temporalflexion ihres Verbums als überflüssig, ja einseitig, unvollständig oder irreführend erscheinen lassen, sondern überhaupt, wenn es sich darum handelt, von Ereignissen in zusammenfassender Schilderung (erzählend, be- schreibend und eventuell vorhersagend) zu reden, die teilweise der Ver- gangenheit, vielleicht der Gegenwart und teilweise auch der Zukunft angehören mögen, bei denen es aber unbekannt oder nebensächlich ist, inwiefern oder in welchen Verhältnissen sie das eine thun, oder das andere.
Umstände, unter denen solches von Belang würde, können leicht schon bei der brieflichen Korrespondenz eintreten, wo die Gegenwart des Ab- senders eine andere ist, als die des Empfängers. Dass aber in den Wissen- schaften sich die erwähnte Armut der Wortsprache nicht schlimmer fühlbar gemacht hat, und deshalb fortbestehen konnte, erklärt sich unschwer aus der scharfen Sonderung jener in historische und physikalisch-mathematische Wissenschaften, bei deren ersteren es niemals gleichgültig erscheint, ob ein Ereigniss schon stattgefunden hat, oder erst stattfinden wird, wogegen die letzteren sich durchweg mit sozusagen „ewigen“ Wahrheiten beschäftigen und zu deren Ausdruck eben des aoristischen Präsens sich gewohnheits- mässig bedienen. Ihnen schliessen auch die naturhistorischen Disziplinen sich teilweise an.
Sollten (aber) in der Logik auch beschreibende oder erzählende Urteile, Aussagen über historische, gegenwärtige oder künftige That- sachen, als Aussagen konstanten Sinnes angesehen werden, so müssten wir sie uns allemal in der erwähnten unbestimmten Temporalform, eventuell versehen mit einer absoluten Zeitbestimmung, ausgedrückt denken.
Uns an das mit der Wortsprache Gegebene haltend gelangen wir dagegen zur Anerkennung des Vorkommens von Aussagen variablen Sinnes, deren Sinn nämlich sich mit dem Zeitpunkt, in welchem die Aussage fällt, von selbst verschiebt, indem das Verbum mit seinem Tempus an die „relative“ Gegenwart anknüpft, nämlich auf die Gegen- wart der Aussage (eventuell von dieser aus zurück- oder vor-ver- weisend) sich bezieht. [„Absolute“ Gegenwart würde ich dagegen den durch Jahreszahl, Datum, Stunde und Minute etc., Berliner Zeit, fixirten Moment, in welchem ich soeben schreibe, dermalen nennen.]
Von solcher Art ist wol die ungeheure Mehrzahl aller mensch-
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Fünfzehnte Vorlesung.
Und ferner — als praktisch vielleicht in noch höherem Maasse
Bedürfniss — sollte man verfügen können über ein Tempus indefinitum
oder indeterminatum, eine Temporalform, die offen, unausgedrückt lässt,
ob von Vergangenheit, Gegenwart oder Zukunft die Rede; dieselbe
wäre nicht nur da zu gebrauchen, wo, wie erwähnt, genauere in der
Aussage enthaltene Zeitangaben die übliche Temporalflexion ihres
Verbums als überflüssig, ja einseitig, unvollständig oder irreführend
erscheinen lassen, sondern überhaupt, wenn es sich darum handelt,
von Ereignissen in zusammenfassender Schilderung (erzählend, be-
schreibend und eventuell vorhersagend) zu reden, die teilweise der Ver-
gangenheit, vielleicht der Gegenwart und teilweise auch der Zukunft
angehören mögen, bei denen es aber unbekannt oder nebensächlich ist,
inwiefern oder in welchen Verhältnissen sie das eine thun, oder das andere.
Umstände, unter denen solches von Belang würde, können leicht schon
bei der brieflichen Korrespondenz eintreten, wo die Gegenwart des Ab-
senders eine andere ist, als die des Empfängers. Dass aber in den Wissen-
schaften sich die erwähnte Armut der Wortsprache nicht schlimmer fühlbar
gemacht hat, und deshalb fortbestehen konnte, erklärt sich unschwer aus
der scharfen Sonderung jener in historische und physikalisch-mathematische
Wissenschaften, bei deren ersteren es niemals gleichgültig erscheint, ob ein
Ereigniss schon stattgefunden hat, oder erst stattfinden wird, wogegen die
letzteren sich durchweg mit sozusagen „ewigen“ Wahrheiten beschäftigen
und zu deren Ausdruck eben des aoristischen Präsens sich gewohnheits-
mässig bedienen. Ihnen schliessen auch die naturhistorischen Disziplinen
sich teilweise an.
Sollten (aber) in der Logik auch beschreibende oder erzählende
Urteile, Aussagen über historische, gegenwärtige oder künftige That-
sachen, als Aussagen konstanten Sinnes angesehen werden, so müssten
wir sie uns allemal in der erwähnten unbestimmten Temporalform,
eventuell versehen mit einer absoluten Zeitbestimmung, ausgedrückt
denken.
Uns an das mit der Wortsprache Gegebene haltend gelangen wir
dagegen zur Anerkennung des Vorkommens von Aussagen variablen
Sinnes, deren Sinn nämlich sich mit dem Zeitpunkt, in welchem die
Aussage fällt, von selbst verschiebt, indem das Verbum mit seinem
Tempus an die „relative“ Gegenwart anknüpft, nämlich auf die Gegen-
wart der Aussage (eventuell von dieser aus zurück- oder vor-ver-
weisend) sich bezieht. [„Absolute“ Gegenwart würde ich dagegen den
durch Jahreszahl, Datum, Stunde und Minute etc., Berliner Zeit, fixirten
Moment, in welchem ich soeben schreibe, dermalen nennen.]
Von solcher Art ist wol die ungeheure Mehrzahl aller mensch-
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Schröder, Ernst: Vorlesungen über die Algebra der Logik. Bd. 2, Abt. 1. Leipzig, 1891, S. 12. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schroeder_logik0201_1891/36>, abgerufen am 21.11.2024.
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