Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Schubert, Gotthilf Heinrich: Ansichten von der Nachtseite der Naturwissenschaft. Dresden, 1808.

Bild:
<< vorherige Seite

be. "Vor Anbruch der Zeit, heißt es, war weder
Sand noch Meer, weder Sturm noch Wind; noch
war keine Erde und kein Himmel, sondern nur ein
empfängliches Chaos. Da erschien die Sonne vom
Mittag her, und es keimte das erste Grün. Als nun
die Sonne zuerst mit ihren Strahlen den links stehen-
den Mond, nach der Rechten die Heere des Himmels
erleuchtete, da wußte die Sonne ihren Saal noch nicht
noch der Mond seine Veste, die Sterne kannten ihre
Stätte noch nicht. Bis die Söhne der Götter zu dem
Thron des höchsten Gottes giengen, welcher für das
Dunkel den Nahmen der Nacht offenbarte, und den
Morgen, Mittag und Abend, die Zeiten und den
Wandel der Gestirne mit ihrem Nahmen benannte."

So scheint diese alte Sage zu verkünden, wie die
Natur durch das lebendige Wort, durch den Geist des
Menschen erst ihr eignes Wesen erkannt habe, sich ih-
rer gleichsam erst selber bewußt worden sey. Das
Wort aber, die Rede, erscheint als höhere Offenba-
rung. -- Eine ähnliche Ansicht von dem göttlichen
Ursprung und der Heiligkeit der menschlichen Rede,
findet sich bey vielen alten Völkern. Wir wissen daß
bey den Persern dem lebendigen Wort eine schaffende
Kraft, und die höchste Gewalt über den Geist und
das Wesen der Dinge zugeschrieben worden. Das
Sprechen geschahe durch höhere Begeisterung, wie die
des Dichters oder Sehers; dem Sprecher des leben-
digen Worts waren die Zukunft und Vergangenheit pf-

be. „Vor Anbruch der Zeit, heißt es, war weder
Sand noch Meer, weder Sturm noch Wind; noch
war keine Erde und kein Himmel, ſondern nur ein
empfaͤngliches Chaos. Da erſchien die Sonne vom
Mittag her, und es keimte das erſte Gruͤn. Als nun
die Sonne zuerſt mit ihren Strahlen den links ſtehen-
den Mond, nach der Rechten die Heere des Himmels
erleuchtete, da wußte die Sonne ihren Saal noch nicht
noch der Mond ſeine Veſte, die Sterne kannten ihre
Staͤtte noch nicht. Bis die Soͤhne der Goͤtter zu dem
Thron des hoͤchſten Gottes giengen, welcher fuͤr das
Dunkel den Nahmen der Nacht offenbarte, und den
Morgen, Mittag und Abend, die Zeiten und den
Wandel der Geſtirne mit ihrem Nahmen benannte.“

So ſcheint dieſe alte Sage zu verkuͤnden, wie die
Natur durch das lebendige Wort, durch den Geiſt des
Menſchen erſt ihr eignes Weſen erkannt habe, ſich ih-
rer gleichſam erſt ſelber bewußt worden ſey. Das
Wort aber, die Rede, erſcheint als hoͤhere Offenba-
rung. — Eine aͤhnliche Anſicht von dem goͤttlichen
Urſprung und der Heiligkeit der menſchlichen Rede,
findet ſich bey vielen alten Voͤlkern. Wir wiſſen daß
bey den Perſern dem lebendigen Wort eine ſchaffende
Kraft, und die hoͤchſte Gewalt uͤber den Geiſt und
das Weſen der Dinge zugeſchrieben worden. Das
Sprechen geſchahe durch hoͤhere Begeiſterung, wie die
des Dichters oder Sehers; dem Sprecher des leben-
digen Worts waren die Zukunft und Vergangenheit pf-

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0073" n="59"/>
be. &#x201E;Vor Anbruch der Zeit, heißt es, war weder<lb/>
Sand noch Meer, weder Sturm noch Wind; noch<lb/>
war keine Erde und kein Himmel, &#x017F;ondern nur ein<lb/>
empfa&#x0364;ngliches Chaos. Da er&#x017F;chien die Sonne vom<lb/>
Mittag her, und es keimte das er&#x017F;te Gru&#x0364;n. Als nun<lb/>
die Sonne zuer&#x017F;t mit ihren Strahlen den links &#x017F;tehen-<lb/>
den Mond, nach der Rechten die Heere des Himmels<lb/>
erleuchtete, da wußte die Sonne ihren Saal noch nicht<lb/>
noch der Mond &#x017F;eine Ve&#x017F;te, die Sterne kannten ihre<lb/>
Sta&#x0364;tte noch nicht. Bis die So&#x0364;hne der Go&#x0364;tter zu dem<lb/>
Thron des ho&#x0364;ch&#x017F;ten Gottes giengen, welcher fu&#x0364;r das<lb/>
Dunkel den Nahmen der Nacht offenbarte, und den<lb/>
Morgen, Mittag und Abend, die Zeiten und den<lb/>
Wandel der Ge&#x017F;tirne mit ihrem Nahmen benannte.&#x201C;</p><lb/>
        <p>So &#x017F;cheint die&#x017F;e alte Sage zu verku&#x0364;nden, wie die<lb/>
Natur durch das lebendige Wort, durch den Gei&#x017F;t des<lb/>
Men&#x017F;chen er&#x017F;t ihr eignes We&#x017F;en erkannt habe, &#x017F;ich ih-<lb/>
rer gleich&#x017F;am er&#x017F;t &#x017F;elber bewußt worden &#x017F;ey. Das<lb/>
Wort aber, die Rede, er&#x017F;cheint als ho&#x0364;here Offenba-<lb/>
rung. &#x2014; Eine a&#x0364;hnliche An&#x017F;icht von dem go&#x0364;ttlichen<lb/>
Ur&#x017F;prung und der Heiligkeit der men&#x017F;chlichen Rede,<lb/>
findet &#x017F;ich bey vielen alten Vo&#x0364;lkern. Wir wi&#x017F;&#x017F;en daß<lb/>
bey den Per&#x017F;ern dem lebendigen Wort eine &#x017F;chaffende<lb/>
Kraft, und die ho&#x0364;ch&#x017F;te Gewalt u&#x0364;ber den Gei&#x017F;t und<lb/>
das We&#x017F;en der Dinge zuge&#x017F;chrieben worden. Das<lb/>
Sprechen ge&#x017F;chahe durch ho&#x0364;here Begei&#x017F;terung, wie die<lb/>
des Dichters oder Sehers; dem Sprecher des leben-<lb/>
digen Worts waren die Zukunft und Vergangenheit pf-<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[59/0073] be. „Vor Anbruch der Zeit, heißt es, war weder Sand noch Meer, weder Sturm noch Wind; noch war keine Erde und kein Himmel, ſondern nur ein empfaͤngliches Chaos. Da erſchien die Sonne vom Mittag her, und es keimte das erſte Gruͤn. Als nun die Sonne zuerſt mit ihren Strahlen den links ſtehen- den Mond, nach der Rechten die Heere des Himmels erleuchtete, da wußte die Sonne ihren Saal noch nicht noch der Mond ſeine Veſte, die Sterne kannten ihre Staͤtte noch nicht. Bis die Soͤhne der Goͤtter zu dem Thron des hoͤchſten Gottes giengen, welcher fuͤr das Dunkel den Nahmen der Nacht offenbarte, und den Morgen, Mittag und Abend, die Zeiten und den Wandel der Geſtirne mit ihrem Nahmen benannte.“ So ſcheint dieſe alte Sage zu verkuͤnden, wie die Natur durch das lebendige Wort, durch den Geiſt des Menſchen erſt ihr eignes Weſen erkannt habe, ſich ih- rer gleichſam erſt ſelber bewußt worden ſey. Das Wort aber, die Rede, erſcheint als hoͤhere Offenba- rung. — Eine aͤhnliche Anſicht von dem goͤttlichen Urſprung und der Heiligkeit der menſchlichen Rede, findet ſich bey vielen alten Voͤlkern. Wir wiſſen daß bey den Perſern dem lebendigen Wort eine ſchaffende Kraft, und die hoͤchſte Gewalt uͤber den Geiſt und das Weſen der Dinge zugeſchrieben worden. Das Sprechen geſchahe durch hoͤhere Begeiſterung, wie die des Dichters oder Sehers; dem Sprecher des leben- digen Worts waren die Zukunft und Vergangenheit pf-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/schubert_naturwissenschaft_1808
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/schubert_naturwissenschaft_1808/73
Zitationshilfe: Schubert, Gotthilf Heinrich: Ansichten von der Nachtseite der Naturwissenschaft. Dresden, 1808, S. 59. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schubert_naturwissenschaft_1808/73>, abgerufen am 23.11.2024.