be. "Vor Anbruch der Zeit, heißt es, war weder Sand noch Meer, weder Sturm noch Wind; noch war keine Erde und kein Himmel, sondern nur ein empfängliches Chaos. Da erschien die Sonne vom Mittag her, und es keimte das erste Grün. Als nun die Sonne zuerst mit ihren Strahlen den links stehen- den Mond, nach der Rechten die Heere des Himmels erleuchtete, da wußte die Sonne ihren Saal noch nicht noch der Mond seine Veste, die Sterne kannten ihre Stätte noch nicht. Bis die Söhne der Götter zu dem Thron des höchsten Gottes giengen, welcher für das Dunkel den Nahmen der Nacht offenbarte, und den Morgen, Mittag und Abend, die Zeiten und den Wandel der Gestirne mit ihrem Nahmen benannte."
So scheint diese alte Sage zu verkünden, wie die Natur durch das lebendige Wort, durch den Geist des Menschen erst ihr eignes Wesen erkannt habe, sich ih- rer gleichsam erst selber bewußt worden sey. Das Wort aber, die Rede, erscheint als höhere Offenba- rung. -- Eine ähnliche Ansicht von dem göttlichen Ursprung und der Heiligkeit der menschlichen Rede, findet sich bey vielen alten Völkern. Wir wissen daß bey den Persern dem lebendigen Wort eine schaffende Kraft, und die höchste Gewalt über den Geist und das Wesen der Dinge zugeschrieben worden. Das Sprechen geschahe durch höhere Begeisterung, wie die des Dichters oder Sehers; dem Sprecher des leben- digen Worts waren die Zukunft und Vergangenheit pf-
be. „Vor Anbruch der Zeit, heißt es, war weder Sand noch Meer, weder Sturm noch Wind; noch war keine Erde und kein Himmel, ſondern nur ein empfaͤngliches Chaos. Da erſchien die Sonne vom Mittag her, und es keimte das erſte Gruͤn. Als nun die Sonne zuerſt mit ihren Strahlen den links ſtehen- den Mond, nach der Rechten die Heere des Himmels erleuchtete, da wußte die Sonne ihren Saal noch nicht noch der Mond ſeine Veſte, die Sterne kannten ihre Staͤtte noch nicht. Bis die Soͤhne der Goͤtter zu dem Thron des hoͤchſten Gottes giengen, welcher fuͤr das Dunkel den Nahmen der Nacht offenbarte, und den Morgen, Mittag und Abend, die Zeiten und den Wandel der Geſtirne mit ihrem Nahmen benannte.“
So ſcheint dieſe alte Sage zu verkuͤnden, wie die Natur durch das lebendige Wort, durch den Geiſt des Menſchen erſt ihr eignes Weſen erkannt habe, ſich ih- rer gleichſam erſt ſelber bewußt worden ſey. Das Wort aber, die Rede, erſcheint als hoͤhere Offenba- rung. — Eine aͤhnliche Anſicht von dem goͤttlichen Urſprung und der Heiligkeit der menſchlichen Rede, findet ſich bey vielen alten Voͤlkern. Wir wiſſen daß bey den Perſern dem lebendigen Wort eine ſchaffende Kraft, und die hoͤchſte Gewalt uͤber den Geiſt und das Weſen der Dinge zugeſchrieben worden. Das Sprechen geſchahe durch hoͤhere Begeiſterung, wie die des Dichters oder Sehers; dem Sprecher des leben- digen Worts waren die Zukunft und Vergangenheit pf-
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be. „Vor Anbruch der Zeit, heißt es, war weder
Sand noch Meer, weder Sturm noch Wind; noch
war keine Erde und kein Himmel, ſondern nur ein
empfaͤngliches Chaos. Da erſchien die Sonne vom
Mittag her, und es keimte das erſte Gruͤn. Als nun
die Sonne zuerſt mit ihren Strahlen den links ſtehen-
den Mond, nach der Rechten die Heere des Himmels
erleuchtete, da wußte die Sonne ihren Saal noch nicht
noch der Mond ſeine Veſte, die Sterne kannten ihre
Staͤtte noch nicht. Bis die Soͤhne der Goͤtter zu dem
Thron des hoͤchſten Gottes giengen, welcher fuͤr das
Dunkel den Nahmen der Nacht offenbarte, und den
Morgen, Mittag und Abend, die Zeiten und den
Wandel der Geſtirne mit ihrem Nahmen benannte.“
So ſcheint dieſe alte Sage zu verkuͤnden, wie die
Natur durch das lebendige Wort, durch den Geiſt des
Menſchen erſt ihr eignes Weſen erkannt habe, ſich ih-
rer gleichſam erſt ſelber bewußt worden ſey. Das
Wort aber, die Rede, erſcheint als hoͤhere Offenba-
rung. — Eine aͤhnliche Anſicht von dem goͤttlichen
Urſprung und der Heiligkeit der menſchlichen Rede,
findet ſich bey vielen alten Voͤlkern. Wir wiſſen daß
bey den Perſern dem lebendigen Wort eine ſchaffende
Kraft, und die hoͤchſte Gewalt uͤber den Geiſt und
das Weſen der Dinge zugeſchrieben worden. Das
Sprechen geſchahe durch hoͤhere Begeiſterung, wie die
des Dichters oder Sehers; dem Sprecher des leben-
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Schubert, Gotthilf Heinrich: Ansichten von der Nachtseite der Naturwissenschaft. Dresden, 1808, S. 59. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schubert_naturwissenschaft_1808/73>, abgerufen am 23.11.2024.
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